À LA RECHERCHE DES MODES PERDUES Malte Fabian Rauch über „Benjamin on Fashion“ von Philipp Ekardt
Zwischen Kunst und Mode hat sich in den letzten Jahren eine Annäherung ereignet, die man als fatal kritisieren oder als überfällig zelebrieren, in ihrer Bedeutung aber nicht mehr ignorieren kann. Sie gleicht einem Schwellengang zwischen der Kritik der Kommodifizierung und der Kommodifizierung der Kritik. Claire Fontaines Installation mit Carla-Lonzi-Zitaten bei der Präsentation von Diors Winterkollektion bietet dafür das jüngste Beispiel. Überboten wird deren kalkulierte Widersprüchlichkeit noch von der dialektischen Feerie, dass man nur wenige Wochen, nachdem Hito Steyerl eine Lecture-Performance über Balenciaga in Berlin zeigte, diverse junge Künstler*innen durch die endzeitlichen Laufstegkulissen der Marke waten sah. Wo sich Kunst und Mode einander exponieren, wenden sich aber noch immer weite Teile der zeitgenössischen Kunsttheorie unbesehen von der Modewelt ab, so als stünde die Kritikalität der Kunsttheorie auf dem Spiel, wenn sie mit dieser Welt in Kontakt trete. Philipp Ekardts jüngst erschienenes Buch Benjamin on Fashion bietet nicht nur eine exemplarische Studie von Walter Benjamins Modetheorie. [1] Lesbar ist das Buch auch als Rekonstruktion einer anderen Konstellation von Mode, Kunst und Theorie, die zur Neubewertung ihres gegenwärtigen Verhältnisses einlädt.
An den Kriterien der Benjamin-Forschung gemessen, zählt Benjamins Philosophie der Mode zu den wenigen Werksegmenten, die als vernachlässigt gelten können. Das mag seinen Grund in der besagten Distanz zwischen Kunsttheorie und Mode haben. Benjamins Beschäftigung mit den, wie er sagt, „exzentrischen, revolutionären und surrealistischen Möglichkeiten der Mode“ ist Teil seiner „Urgeschichte des 19. Jahrhunderts“, jener groß angelegten Archäologie des Jüngstvergangenen, in der alle Linien seines späteren Denkens zusammenlaufen. [2] Auch wenn sich die philologische Grundlage dieser „Theorie“ auf einige verstreute Bemerkungen beschränkt, die sich überwiegend im Konvolut „B“ der Passagen-Arbeit finden, kommt diesen Parerga eine durchaus tragende Rolle in der theoretischen Architektur des Projekts zu. Auf knapp 200 Seiten zeichnet Ekardt die Umrisse dieses Theoriefragments nach – ein großer Entwurf auf engem Raum, an dessen Beginn ein programmatischer Bruch mit der bisherigen Forschungsliteratur steht. Wenn Benjamins Äußerungen zur Mode bislang überhaupt gelesen wurden, dann auf der Grundlage eines Modernisierungsparadigmas, das im Hochkapitalismus des 19. Jahrhunderts einen singulären Epochenwandel erkennt. Im Gegensatz zur bloßen Kleidung erscheint der Ursprung der Mode in dieser Perspektive als historisches Datum, identisch mit jener Schwelle, an der die Moderne mit dem Ständischen und Stehenden bricht, um sich im Kultus des Neuen ihrer Fortschrittlichkeit zu versichern. Auch Roland Barthes spricht von der modernen „Neuerungssucht“, als deren Erscheinung die Mode zu gelten habe. [3]
Gegenüber dieser verbreiteten Ansicht, dass die Mode geschichtlich auf die Moderne beschränkt sei, zeigt Ekardt ein zweites Theorieparadigma auf, demzufolge der Ursprung der Mode kein historischer, sondern ein systematischer sei, insofern sie grundsätzlich auf kulturelle Bedürfnisse, nicht nur auf spezifisch moderne antworte. Ohne zu bestreiten, dass Benjamin die Verbindung von Mode und Kapitalismus vielfach thematisiert, verwahrt sich Ekardt entschieden gegen eine Lesart, die Benjamin auf deren Gleichsetzung verpflichtet. Überhaupt sei die etymologische Ableitung des französischen la mode von „Moderne“ fraglich: eine historisch-semantische Unschärfe, die ihre tatsächliche Verwandtschaft mit dem lateinischen modus verdecke. [4] Mode, so Ekardt, sei nicht modern, sondern modal. Möglich, dass die gebotene Differenzierung zwischen Mode und kapitalistischer Moderne an dieser Stelle allerdings zu scharf gerät, um Benjamins Äußerungen über deren wechselseitige Bedingtheit vollständig erhellen zu können. Benjamin, so argumentiert Ekardt jedenfalls schlüssig, verstehe die Mode im Sinne des zweiten Paradigmas als kulturelle Praxis, deren Erscheinungsformen keineswegs auf die letzten 200 Jahre westlicher Geschichte begrenzt seien. Was wir Mode nennen, sei für Benjamin eine Temporalisierung von Differenz, wobei Differenz hier nicht dekonstruktiv als Aufschub und Oszillation, sondern durchaus struktural zu denken sei, nämlich als Bestimmtheit von Distinktion. Differenziell sei die Mode in diesem Sinne nicht nur in einer Bestimmung des Aktuellen. Differenziell sei sie in der Erinnerung des Gewesenen und in dessen Vergegenwärtigung; denn allein in deren Zusammenspiel konstituiere sich ihre Zeitlichkeit als eine Dialektik des Zeitgemäßen und Unzeitgemäßen. Die Mode: eine kulturelle „Chronotechnik“, die das, was einmal vergangen schien, als potenzielles Zitat in einer Konstellation zur jeweiligen Gegenwart hält, um im günstigen Augenblick das Aktuellste „im Medium des Ältesten, Gewesensten, Gewohntesten“ zu finden. [5]
Der zweite Teil des Buches wechselt die Perspektive, um sich dem historischen Kontext zu widmen, in dem Benjamins Theorie entstand: die Pariser Modeszene des frühen 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht dabei zunächst die Entstehung einer neuen Silhouette, mit der sich die Abkehr von der androgynen Ästhetik der 1920er Jahre vollzog. Längere Schnitte, betonte Kurven und klassische Konturen kündigten die Rückkehr eines deutlich sexualisierten, gender-dimorphen Looks an, der die Mode des kommenden Jahrzehnts beherrschen sollte. Vor diesem Hintergrund unternimmt das Buch einen Vergleich der Positionen von Benjamin und Helen Grund, einer Modekritikerin, die mit Benjamin befreundet war und ihm Einblicke in die Pariser Szene gewährte. Grund entwickelte eine Ästhetik der Eleganz, die Ekardt zufolge den Entwürfen der Modeschöpferin Madeleine Vionnet nahestehe, wohingegen Benjamins Modephilosophie Parallelen zur surrealistischen Ästhetik (insbesondere zu Elsa Schiaparellis parasurrealistischen Designs) erkennen lasse. Aller Differenzen zum Trotz erblickt Ekardt in beiden Ansätzen jedoch eine verwandte Theorie des Materials, die er in einen Dialog mit Ansätzen des sogenannten Neuen Materialismus bringt. In Abgrenzung zu einer Deutung der Materie als träge und leblos wurden hier theoretische Ansätze entwickelt, in denen die Materie als aktiv und wirkmächtig erscheint. Die Theorien von Grund und Benjamin dagegen, so Ekardt, stünden außerhalb dieser Opposition, da ihnen Qualitäten wie „lebendig“ und „leblos“, „aktiv“ und „passiv“ als Potenziale eines konkreten Materials gelten, die über die Formwerdung aktualisiert werden.
In den 1930er Jahren, so zeigt das letzte Kapitel, verstärkten sich die konservativen Tendenzen der Mode, um am Ende des Jahrzehnts in der Wiederaufnahme des Korsetts ihren restaurativen Abschluss zu finden. Genau in dem Moment also, da Benjamin sich den Ruinen des Jüngstvergangenen zuwandte, jenen verlassenen, im Verfall begriffenen Passagen, wandte sich auch die zeitgenössische Mode den untergegangenen Formen des 19. Jahrhunderts zu. Es ist die gewagteste, aber auch die streitbarste These des Buches: Benjamins Solidarität mit den „Lumpen der Geschichte“, den überholten, nutzlosen, vergessenen Gegenständen, ist selbst ein eminent modisches Phänomen, seine rückwärtsgewandte Philosophie der verlorenen Zeit auch der ästhetische Ausdruck seiner eigenen Zeit. Diese Konstellation zeigt sich in ihrer ganzen Brisanz, wenn Ekardt schildert, inwiefern die restaurativen Tendenzen der Mode durch die Folgen der Wirtschaftskrise von 1929 bedingt waren. Sie rief erst jenen Wandel hervor, der die Mode unaufhaltsam in die Welt des Gestrigen zurückdrängte. Benjamins revolutionärer „Tigersprung“ [6] ins Vergangene, als dessen zeitliches Paradigma die Mode seinerzeit diente, offenbart hier seinen ökonomischen Grund: „The ground against which the figure of fashion came to be completely identified with the elegant rearticulation of forgotten moments was real deprivation“, so Ekardt. [7] Wenn das Buch mit dieser Beobachtung schließt, dann allerdings nicht, um ein vernichtendes Urteil über Benjamins Modephilosophie zu fällen, sondern um ihre Lesbarkeit kritisch zu bestimmen. Was bleibt, ist Benjamins unübertroffene Einsicht in die Fähigkeit der Mode, Vergangenes in die Aktualität des Jetzt zurückzurufen. Wenn die heutige politische und ökonomische Situation derjenigen zu Benjamins Lebzeiten ähnelt, so stellt uns die Lektüre seines Theoriefragments in Ekardts kritischer Rekonstruktion die Aufgabe, die Flaggensignale der Mode für unsere Zeit mit, aber auch jenseits der Kommunikation mit dem Vergangenen zu deuten.
Malte Fabian Rauch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter/Doktorand, DFG-Projekt „Kulturen der Kritik“, Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, Leuphana Universität Lüneburg.
Image credit: 1. GROUP SHOT © Laura MARIE CIEPLIK FOR DIOR; 2. Rolf Tiedemann/Christoph Gödde/Henri Lonitz (Hg.), Walter Benjamin 1892 - 1940: Eine Ausstellung des Theodor W. Adorno Archivs Frankfurt am Main in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, 2. Aufl., Marbach: Marbacher Magazin 55/1990, S. 218.
Anmerkungen
[1] | Philipp Ekardt, Benjamin on Fashion, London/New York 2020. |
[2] | Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1991, S. 116 und 579. |
[3] | Roland Barthes, Die Sprache der Mode, Frankfurt/M. 1985, S. 309f.: „Ohne Zweifel gehört die Mode zu den Erscheinungen jener Neuerungssucht, die in unserer Zivilisation wahrscheinlich mit der Geburt des Kapitalismus aufgetreten ist.“ |
[4] | Ekardt, Benjamin on Fashion, S. 17f. |
[5] | Benjamin, Das Passagen-Werk, S. 112. |
[6] | Ders., „Über den Begriff der Geschichte“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 701. |
[7] | Ekardt, Benjamin on Fashion, S. 185. |