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APOKALYPTISCHES DRAG-MUSICAL AUF ACID Maximilian Haas über Jeremy Wade in der Wilden Renate, Berlin

Jeremy Wade, 2021

Jeremy Wade, 2021

Jeremy Wade ist Tänzer, Choreograf, Kurator und Dozent. In seinen Stücken und Performances hinterfragt er hegemoniale Rollenvorgaben, die Körper definieren und unterdrücken. Bis Herbst 2022 haben Wade und seine Band eine einjährige Residency in der Wilden Renate in Berlin-Friedrichshain, in deren Rahmen sie drei verschiedene Programme entwickeln. Derzeit läuft das zweite. Theaterwissenschaftler und Dramaturg Maximilian Haas hat das Stück gesehen und erläutert, inwiefern die fiktionale Erzählung eines Pelikans Wades körper- und performancebezogene Praxis zu einem düsteren Cabaret über Gewalt und Zerstörung in den Ruinen des Kapitalismus verdichtet.

Im Juni 2019 gab mir Jeremy Wade auf die bewusst offen formulierte Interviewfrage „How to relate in Contemporary Dance?“ folgende Antwort: „I really relate to being a host, who keeps a very particular threshold and invites you to cross over that threshold all the way. I’m very familiar with that role in my work. I do it all the time.“ [1] Wer einmal eine Tanz-Performance des US-amerikanischen, seit 2006 in Berlin lebenden Tänzers und Choreografen gesehen hat, weiß, dass sich seine Host-Funktion nicht auf soziale Räume beschränkt. Vielmehr ruft er auch Affekte und Konflikte, Erinnerungen und Fiktionen, unwillentliches Verhalten und kollektive Traumata auf und artikuliert sie im Medium des Tanzes. Dabei greift Wade immer wieder auf etablierte Formen der US-Unterhaltungskultur zurück, deren Abgründe und Abseiten er hervorkehrt.

In diesem Sinne ist auch Puddles Rising, sein neuestes Stück, ein queeres und zugleich düsteres Cabaret oder, mit der Ankündigung gesprochen, ein „Apocalyptic Piano Bar Drag Musical on Acid“ [2] . Im Zentrum steht Puddles The Pelican, ein heruntergekommener Vogel in der fernen Zukunft der anthropogenen Umweltzerstörung. Puddles, so erfährt man aus den Texten und Songs, wächst auf einem Jahrmarkt auf, verliert ihre Schwester im Öl des Deepwater-Horizon-Blowouts, wird von einem Kreuzfahrtschiff gerettet, auf dem sie seither jeden Abend als Sängerin und Animateurin auftritt. Das Schiff ist unterwegs durch die Unterwelt, in der es kein Land und keinen Horizont gibt. Gegen diese apokalyptische Situation reißt Puddles allabendlich die Stimmung hoch.

Jeremy Wade feat. The Creatures From The Deep, „Puddles Rising“, Wilde Renate, Berlin, 2021

Jeremy Wade feat. The Creatures From The Deep, „Puddles Rising“, Wilde Renate, Berlin, 2021

Wade ist Macher, Performer und Sänger des Abends, vor allem aber: sein Host. Er wird von einer fünfköpfigen Band begleitet, den Creatures From the Deep. Ort der Aufführung ist ein enger Clubraum der Wilden Renate in Berlin-Friedrichshain, in dem Wade und Band im Zuge einer einjährigen Residency regelmäßig auftreten und das Stück kontinuierlich weiterentwickeln. An der schmalen Stirnseite des schwarzen, schmucklosen Raums, der sich tatsächlich in einem Schiffsbauch befinden könnte, steht die kleine Bühne, die die Band dicht um den Perfomer zusammendrängt. In seinem opulenten Kostüm aus Plastikmüll (von Claudia Hill entworfen) trotzt Wade dieser räumlichen Enge und entwirft Puddles als eine plastische Figur mittels Text und Musik, Bewegung und Stimme.

Ihren ersten Auftritt hatte Puddles 2019 in Wades Tanzperformance The Clearing im HAU Hebbel am Ufer. Seitdem hat der Tänzer und Choreograf sie in unterschiedlichen Produktionen mit immer neuen Facetten ausgestattet, die ihr Persona, Vita und Milieu verliehen. Der Fokus auf das theatrale character und world building ist neu in Wades bislang eher körper- und performancebezogener Praxis. Die choreografischen Mittel kommen zwar auch hier zum Einsatz, sind aber stets eingebettet in die fiktionale Rahmung, als Aspekte und Attribute einer Figur und ihrer Situation. Mit ihrer Hilfe verdichtet Wade gegenwärtige Formen von Gewalt und Zerstörung zu einer düsteren Vision vom Überleben in den Ruinen des Kapitalismus. Alles ist versunken – bis auf Kreuzfahrtschiffe, neoliberale Mantras und die kulturindustrielle Unterhaltung.

Dieses Cabaret ist offenkundig bemüht, die Genreregeln zu erfüllen. Zugleich werden diese gedehnt, um Platz zu schaffen für eine Figur und ihre Welt, die die Genregrenzen sprengen. Wade tut dies jedoch nicht ein für alle Mal, sondern in kontinuierlicher Weiterentwicklung der Performance bei gleichzeitiger Varianz ihrer Teile. Was diese Teile zusammenhält, sind Puddles’ originärer Gestus und Habitus sowie ihr eigenwilliges Idiom, das sich zwischen dem einer Cabaret-Sängerin und den Lauten eines Pelikans bewegt. Wade erschließt sich diese nichtmenschliche Figur einerseits darstellerisch durch mimetisches Experimentieren mit tierischen Lauten und Gesten, die oft unvermittelt, gleichsam von außen, in die Performance einbrechen; andererseits methodisch, indem er bei der Entwicklung von Figur und Welt die Perspektive des Vogels einnimmt und dessen Eindrücke und Begehrensstrukturen zum Ausdruck bringt. Die epistemologischen Probleme, die ein solcher Ansatz mit sich bringt – Wie ist die Welterfahrung einer anderen Spezies wissbar? –, behandelt Wade mit den Mitteln des Drag.

Jeremy Wade, 2021

Jeremy Wade, 2021

Diese Spannung zwischen Aneignung und Fremdheit bzw. Befremdlichkeit bildet eine reiche Matrix für Wades Performance, die sich zwischen einer queer art of failure und handwerklicher Perfektion bewegt. [3] Dabei überträgt Wade die Prinzipien, die sonst seine körperlichen Performances auszeichnen, nun auf die Stimme: Er wechselt schnell zwischen energischen, körperlichen Registern und einer fragilen, falsettartigen Kopfstimme, zwischen einem gebrochenen, stotternden Sprechrhythmus und elegischem Gesang. Getragen wird er dabei von einer hervorragenden Band, die sich durch die klassischen Genres amerikanischer Barshows spielt: Jazz, Blues, Soul, Bossa, aufgebrochen durch Elektronik und Indie-Rock. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, spielen sie dabei Songs, die mit Wade für die Show geschrieben wurden. Großartige, durchlässige Songs, die oft woanders enden, als sie angefangen haben, und so die Handlung des Stücks nicht unterbrechen, sondern voranbringen.

Drei verschiedene Programme wird Wade mit seiner Band bis Herbst 2022 in der Renate entwickeln. Derzeit läuft das zweite. Allerdings werden die Programme in sich variiert, etwa neue Songs und Texte integriert, sodass man im Prinzip jeden Abend ein anderes Stück sehen kann. Ganz in der Logik des Cabaret-Formats möchte das Team ein Publikum anziehen, das sich zur Unterhaltung der Idee nach allabendlich wieder einfindet und die Entwicklung der Produktion begleitet. In diversen Stücken hat Wade die Motive und Prinzipien der Late-Night-Unterhaltung auf Tanzperformances übertragen. Puddles Rising geht den umgekehrten Weg und überführt seine Tanz- und Performance-Ästhetik in ein etabliertes Showformat, das als Ritual gefeiert und bis zur Publikumsbindung durchexerziert wird.

Maximilian Haas ist Tanz- und Theaterwissenschaftler sowie Dramaturg. Zuletzt erschienen Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance (2018) und How to Relate. Wissen Künste Praktiken (2021) sowie die fortlaufende Podcast-Reihe Burning Futures: On Ecologies of Existence (HAU Hebbel am Ufer). Er hat 2015 mit Jeremy Wade die Tanzperformance DrawnOnward (ebenfalls am HAU) entwickelt.

Image credit: Courtesy of Jeremy Wade, photos: Florian Hetz (1+3), make-up: Rà Nikolaidis, wig: Benjamin Kiss and Antina Christ, costume: Claudia Hill

Anmerkungen

[1]Maximilian Haas, „How to Relate in Contemporary Dance. Conversations with Schubot/Gradinger, Alice Chauchat, Jeremy Wade“, in: How to Relate. Wissen, Künste, Praktiken, hg. von Annika Haas/Maximilian Haas/Hanna Magauer/Dennis Pohl, Bielefeld 2021.
[2]https://puddlesthepelican.show/story/.
[3]Jack Halberstam, The Queer Art of Failure, Durham, NC 2011.