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BEZIEHUNGSGEFLECHTE Oliver Hardt über „Le Sel Noir. Perspektiven Schwarzer Gegenwartskunst“, Städtische Galerie Villingen-Schwenningen

Sonia E. Barrett, „Dreading the Map“, 2021

Sonia E. Barrett, „Dreading the Map“, 2021

Ausstellungspolitiken werden nicht nur in großen Institutionen und Metropolen neu gedacht und zur Diskussion gestellt, wie die Debütausstellung des neuen Direktors Alejandro Perdomo Daniels in der Galerie Villingen-Schwenningen im Schwarzwald zeigt: Seine Gruppenausstellung „Le Sel Noir – Perspektiven Schwarzer Gegenwartskunst“ insistiert unter Bezugnahme auf Édouard Glissants Konzept der „relation“ auf eine postkoloniale Zukunft, in der Gleichberechtigung keine eindeutige gegenseitige Lesbarkeit verlangt. In seiner Rezension der Schau, die ab Ende August in Bremen zu sehen sein wird, geht Oliver Hardt der Umsetzung dieses Anspruchs in der Ausstellung nach und zeigt auf, welcher Erkenntniswert in der Opazität einzelner Arbeiten liegt.
„Black identity has been linked to our not having a ,sense of place‘. This ,sense of place‘ for us had to be created through hard work involving all of our faculties of being.“ [1]
– Jack Whitten

Keinen Ort zu haben, sondern ihn sich immer erst erschaffen zu müssen, ist eine zentrale Erfahrung Schwarzer Subjektivität. Der Begriff thematisiert die inneren und äußeren Konflikte Schwarzer Individuen, die durch asymmetrische Machtstrukturen entstehen, und er hilft uns dabei, die damit verbundenen Prozesse der Selbstbehauptung zwischen Fremdzuschreibung und Eigenwahrnehmung zu verstehen und zu moderieren. Zugleich beinhaltet der Begriff die Verschiebung der Perspektive von einer eher monolithischen Vorstellung Schwarzer Identität hin zur Anerkennung der Vielfalt der sozialen, geografischen und historischen Kontexte der afrikanischen Diaspora. Mit wachsendem sense of place erweitert sich für Schwarze Menschen auch der Spielraum des sense of self. Die Last des doppelten Bewusstseins, „dieses Gefühl, sich selbst immer durch die Augen anderer zu betrachten“, [2] wie es W. E. B. Du Bois formuliert hat, wird so für einen Moment ausgesetzt.

Lisa Marie Asubonteng, „Comfort“, 2025

Lisa Marie Asubonteng, „Comfort“, 2025

Auf den ersten Blick überraschend, unternimmt nun die Städtische Galerie Villingen-Schwenningen den Versuch, einen Ort zu bieten, an dem sich Schwarze Subjektivität ohne die Fallstricke des double consciousness entfalten kann. Überraschend deshalb, weil ich ein solches Vorhaben eher von einer Institution in einer der einschlägigen Kunstmetropolen erwarten würde als in einer mittelgroßen Stadt im Schwarzwald (no pun intended). In der von Alejandro Perdomo Daniels kuratierten Gruppenausstellung „Le Sel Noir. Perspektiven Schwarzer Gegenwartskunst“ präsentiert die Galerie Werke von zehn afrikanisch-diasporischen Künstler*innen. [3] Eine Volltextsuche im Onlinearchiv von TEXTE ZUR KUNST ergibt, dass acht von ihnen, trotz teilweise beeindruckender künstlerischer Biografien, bisher im Magazin noch keine Erwähnung fanden. Deshalb möchte ich hier zunächst die Namen der in der Ausstellung vertretenen Künstler*innen auflisten, um sie so in dieses Archiv einzuschreiben: Valerie Asiimwe Amani, Lisa Marie Asubonteng, Sonia E. Barrett, Syowia Kyambi, Mónica de Miranda, Nástio Mosquito, Harold Offeh, Ngozi Schommers, Usha Seejarim und Lerato Shadi. Mit der Mehrzahl von ihnen hat Perdomo Daniels, der die Städtische Galerie seit letztem Jahr als Direktor leitet, bereits in anderen Kontexten zusammengearbeitet. Die aktuelle Ausstellung setzt seine Beschäftigung mit zeitgenössischen Positionen fort, die in kolonialen Kontinuitäten verwurzelte Asymmetrien und Diskrepanzen untersuchen. Vor allem interessiert Perdomo Daniels in diesem Zusammenhang die Komplexität afrikanisch-diasporischen Kunstschaffens, das die kulturellen Kategorien des Fremden und des Eigenen, von Zentrum und Peripherie relativiert.

Der Titel der Ausstellung „Le Sel Noir“ ist dem gleichnamigen Gedichtband des aus Martinique stammenden französischen Schriftstellers Édouard Glissant entlehnt [4] und verweist damit auf dessen zentrales Anliegen: die dringend notwendige Infragestellung westlicher Wissensproduktion beziehungsweise die Anerkennung unseres Nichtwissens, das immer größer ist als unser Wissen. Dabei nutzt „Le Sel Noir. Perspektiven Schwarzer Gegenwartskunst“ die Arbeiten der ausgestellten Künstler*innen zur Erweiterung historischer Diskurse und hinterfragt so die meist europäisch geprägten Weltvorstellungen der Besucher*innen. In ihren besten Momenten entlarvt die Ausstellung in Form einer epistemologischen Kritik einen Teil unseres erworbenen Wissens als in eurozentrischem Kalkül verwurzelte Anleitung zum Machterhalt. Diese Form der Auseinandersetzung mit bestehenden Weltvorstellungen befindet sich im Einklang mit Glissants philosophischem Konzept der relation: Es beschreibt die Utopie einer postkolonialen Welt als ein komplexes Netz von Verbindungen und Beziehungen zwischen Menschen und Kulturen, die nicht mehr hierarchisch geordnet sind, sondern gleichberechtigt nebeneinander bestehen. Die sich berühren, aber gegenseitig nie ganz durchdringen. Die Lesbarkeit der kulturellen Hervorbringungen ist bis zu einem gewissen Grad möglich und auch erwünscht, aber keinesfalls das Ziel der Beziehungen. Im Gegenteil: Opazität im Sinne von Undurchsichtigkeit und unverwechselbarer Eigenheit ist für Glissant eine notwendige Bedingung für den genuinen Austausch auf Augenhöhe. [5]

Nástio Mosquito, „Strange Fruit“, 2024

Nástio Mosquito, „Strange Fruit“, 2024

Wie verhält sich nun die Ausstellung zu ihrem kuratorischen Anspruch, Schwarze Positionen frei von paternalistischer Bevormundung und Transparenzerzwingung zu präsentieren? Mit ihrer skulpturalen Intervention Dreading the map (2021) betreibt Sonia E. Barrett die Dekonstruktion unserer Sicht auf die Welt im buchstäblichen Sinne: Die von der Decke herabhängenden amorphen Gebilde entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als ein Flechtwerk aus geschredderten historischen und zeitgenössischen Landkarten von England und der Karibik. Die Arbeit, mit der Barrett im letzten Jahr den Skulpturenpreis der Dakar Biennale gewann, versteckt in der Leichtigkeit ihrer wolkenartigen Erscheinung eine präzise postkoloniale Kritik, und das nicht nur in Bezug auf die verwendeten Materialien, sondern auch durch den gemeinsamen Prozess der Aneignung und Verarbeitung derselben durch eine Gruppe afrokaribischer Frauen, die zusammen mit Barrett das Kollektiv map-lective bilden. Im gemeinschaftlich ausgeführten Akt des Schredderns der Landkarten, auf denen sich das geopolitische Bestreben der ehemaligen britischen Kolonialmacht abbildet, wird ihr hegemonialer Anspruch aufgehoben und in ein neues Material verwandelt, das dann im ebenfalls kollektiven Akt des Flechtens in dreidimensionale Räumlichkeit überführt wird. Die imperiale Ordnung des Grids ist zerstört, die kartografische Trennung von A1 und F5 aufgehoben. Die Eindimensionalität der Landkarte wurde in ein Geflecht komplexer Weltbeziehungen überführt. Lediglich an einer Stelle schwächt sich die Arbeit selbst: Die zusätzlich an der Stirnwand angebrachten Werkzeuge (Aktenvernichter, Afrokämme) verweisen zwar auf den performativen und gemeinschaftlichen Charakter der Herstellung von Dreading the map, wirken aber im Kontext der Ausstellung etwas zu didaktisch.

Während Barrett und ihre Mitstreiterinnen sich selbst zu den symbolischen und tatsächlichen Landnahmen mittels imperialer Kartografie in Bezug setzen, findet Schwarze Subjektivität in den melancholischen Fotografien von Lisa Marie Asubonteng ihren Ausdruck im Spannungsfeld zwischen dem Individuum und der Identifikation mit einer losen Weltgemeinschaft, die durch Paul Gilroys Topos des Black Atlantic miteinander verbunden ist. In ihrer fünfteiligen Fotoserie Comfort (2025) richtet die deutsch-ghanaische Künstlerin den Fokus zunächst auf sich selbst als Individuum, als Trägerin einer unveräußerlichen Würde. Als Schauplatz wählt sie dafür das Meer an der Küste von Accra, der Heimat ihrer Vorfahr*innen. Schwarz gekleidet tritt sie in den Bildraum, wohl wissend, dass diese Küste ein wichtiger Stützpunkt des transatlantischen Menschenhandels war, in dessen Verlauf Millionen Schwarzer Menschen verschleppt, versklavt und ermordet wurden. In Comfort #3 (Where They Once Sat) sitzt sie mit dem Rücken zur Kamera auf einem Plastikstuhl am Strand und blickt aufs Meer, links und rechts von ihr jeweils ein leerer Stuhl. Die Figur ist allein, in stillem Gedenken an jene, die nicht mehr aufs Meer schauen können. Auf einem anderen Bild der Serie ist sie am selben Strand zu sehen, hockend einem kleinen Jungen zugewandt; sie schauen sich ernst in die Augen. Wie frei wird die nächste Generation sein? Asubontengs ausgeprägtes Formbewusstsein positioniert die Fotografien jenseits jeglicher Opfernarrative. Das äquatoriale Licht am Nachmittag, die strenge Komposition des Bildraums, die sorgfältige Inszenierung von Kleidung, Haltungen und Gesten – all dies schreibt sich als eigenwillige Perspektive in ihr noch junges Werk ein.

Usha Seejarim, „A Deep Wound“, 2024

Usha Seejarim, „A Deep Wound“, 2024

Valerie Asiimwe Amani verarbeitet in ihren subtilen Textilcollagen lokale Motive und Techniken ihres Herkunftslandes Tansania und formt sie zu poetischen Bildern, die zwischen Figuration und Abstraktion changieren. Ihre Collagen sind bevölkert von Händen, Gesichtern, Augen oder Pflanzen, bleiben aber auf angenehme Weise im Ungefähren, Nichtnarrativen. Indem sich die Bilder einer direkten Entzifferung entziehen, ermöglichen sie die Konzentration auf ihre Komposition und Materialität.

Die Arbeiten der nigerianisch-deutschen Künstlerin Ngozi Ajah Schommers werden in zwei Räumen der Galerie präsentiert; von der Decke des einen herab ergießt sich wasserfallartig eine Struktur aus zu Locs und Braids geflochtenen synthetischen Haaren in Blau und weiteren Farben. Wie auch andere Positionen innerhalb der Ausstellung oszilliert dieses Werk zwischen formaler Abstraktion und materialbedingter Figuration. Hinzu tritt die soziale Bedeutung des Diskurses um Schwarzes Haar, die spätestens mit dem Erscheinen von Chimamanda Ngozi Adichies Roman Americanah (2013) auch dem weißen europäischen Publikum bewusst sein dürfte. Im daneben liegenden Raum konterkariert Schommers die ambivalente Erhabenheit der raumgreifenden Haarskulptur mit einer bunten, an den Pointillismus erinnernden figurativen Bildwelt. Die farbigen Punkte, mit denen sie dort Frauen in entspannten Posen abbildet, sind allerdings keine Farbtupfer, sondern auf Papier aufgebrachtes Konfetti. Die aus drei großformatigen Bildern bestehende Werkgruppe ist die am leichtesten zugängliche in der Ausstellung, sie ist offen, spielerisch und am wenigsten opak im Sinne Glissants.

An einer Stelle wird der helle, zugewandte Flow der Ausstellung abrupt unterbrochen. Mit seiner Installation Strange Fruit Triptych (2024) verwandelt der in Angola geborene Künstler Nástio Mosquito einen der ansonsten lichten Räume der Städtischen Galerie in ein dunkles dystopisches Höhlenversteck, angefüllt mit Ölfässern, Kanistern, Tarnnetzen, Munitionsboxen und schweren Laptops aus einer anderen Zeit, von deren Bildschirmen der Künstler mit elektronisch verzerrter Stimme spricht. Das Raunen über Krieg und andere Gewalterfahrungen verwandelt hier den postkolonialen Diskurs in ein postapokalyptisches Szenario. Auch Usha Seejarim bezieht sich mit ihrer Arbeit A Deep Wound (2024) metaphorisch auf den durch konkrete und strukturelle Gewalt deformierten, hier weiblichen Körper. Diese Gewalt verortet Seejarim zunächst mit feiner Ironie im Kontext häuslicher Arbeit: Als Material für ihre an der Wand angebrachte Skulptur wählt sie handelsübliche Wäscheklammern aus Holz. Diese sind aufgrund ihrer Beschaffenheit besonders gut als Stecksystem geeignet, das sich zu vielfältigen Konfigurationen aufbauen lässt, in diesem Fall zu einem reliefartigen Rasterbild. Rechts von der Mitte markiert ein vertikal verlaufender und mit roter Farbe eingefasster Spalt die titelgebende tiefe Wunde.

Ngozi Ajah Schommers, „Akwete x Catalogue II“, 2021

Ngozi Ajah Schommers, „Akwete x Catalogue II“, 2021

In Bezug auf die Ambition der Ausstellung, westliche Wissensproduktion und Wissensvermittlung mit den philosophischen Werkzeugen Glissants einer künstlerischen Kritik zu unterziehen, erweist sich der Bilderzyklus Tsela di Matlapa (2023) der in Berlin lebenden südafrikanischen Künstlerin Lerato Shadi als höchst wirksam. Von Weitem gesehen bildet eine Komposition aus roten Linien auf unbehandelten Leinwänden den Bildinhalt. Von Nahem betrachtet erweisen sich die Linien als eine Aneinanderreihung von handgeschriebenen Buchstaben, als mit akribischer Sorgfalt ausgeführte Schriftlinien, die allerdings unlesbar bleiben, weil die Künstlerin sie ein zweites Mal rückwärts und spiegelverkehrt überschrieben hat. Indem Shadi die westlich geprägte Erwartung der Entzifferbarkeit der Bilder auf der mikroskopischen Ebene ins Leere laufen lässt, bekommt die Figur des unlesbaren Textes eine doppelte Bedeutung: Sie wird zur malerischen Geste und übt zugleich Kritik an textbasierter Geschichtsschreibung und der epistemischen Gewalt kolonialer Wissensproduktion, [6] die ihre Autorität aus der bis heute oft unhinterfragten eurozentristischen Perspektive bezieht. Shadis Bilderzyklus erfüllt das Versprechen der Ausstellung auf künstlerisch prägnante Weise: Die Arbeit verweigert den Betrachtenden die Lesbarkeit und bietet ihnen zugleich eine differenzierte Vielfalt an Verständnismöglichkeiten an. Je nach Abstand und Perspektive ermöglicht sie ihnen, die eigene Sichtweise neu zu justieren. Shadis Bilder können intellektuell nur erfahren werden, indem ich mich, meine Wahrnehmung, mein (Nicht-)Wissen, in Beziehung zu ihnen setze. Diese relation ist bestimmt durch einen Prozess des ständigen Austauschs und Verhandelns auf Augenhöhe, den das kuratorische Konzept von „Le Sel Noir“ sowohl den Künstler*innen als auch den Besucher*innen durchgehend ermöglicht.

„Le Sel Noir – Perspektiven Schwarzer Gegenwartskunst“, Städtische Galerie Villingen-Schwenningen, 15. März bis 15. Juni 2025; Städtische Galerie Bremen, 23. August bis 26. Oktober 2025.

Oliver Hardt ist Regisseur, Autor und Filmemacher. Sein Interesse gilt zeitgenössischer Kunst, Architektur und Design mit besonderem Fokus auf die kulturelle Dynamik der afrikanischen Diaspora.

Image Credits: Courtesy Villingen-Schwenningen, Fotos Frank Kleinbach; 2. Courtesy Lisa Marie Asubonteng

Anmerkungen

[1]Gallery label from Jack Whitten, Atopolis: For Édouard Glissant (2014), MoMA, „Jack Whitten: The Messenger“, 23. März bis 2. August 2025.
[2]W.E.B. Du Bois, The Souls of Black Folk: Essays and Sketches, Chicago 1903.
[3]Einen Monat nach „Le sel noir“ eröffnete im Haus Kunst Mitte in Berlin die Ausstellung „Foundations –15 internationale Perspektiven“, die ebenfalls ausschließlich Werke afrikanisch-diasporischer und afroamerikanischer Künstler*innen präsentierte. Die Ausstellung wurde von den Inhaber*innen der Galerie Sakhile&Me, Sakhile Matlhare und Daniel Hagemeier, organisiert und kuratiert. Zu besuchen ist die Ausstellung noch bis zum 25. Juli 2025.
[4]Édouard Glissant, Le sel noir, Paris 1960.
[5]Édouard Glissant, Poétique de la relation, Paris 1990.
[6]Gayatri Spivak, Can the Subaltern Speak?, New York 1985.