MIT OFFENEN AUGEN IN DIE SONNE SCHAUEN Ramona Heinlein über Shara Hughes im Kunstmuseum Luzern
Shara Hughes’ Gemälde The Absence of Sound (2022) zeigt ein Waldstück, das in der Mitte aufreißt. Farbfelder in Blau, Braun und Grün drängen sich um ein hitziges Zentrum: Blutige Stämme, leuchtend rotes Dickicht und fleischige Baumkronen geben den Blick frei auf eine Lichtung: eine gelb-gleißende Leere; nur gehauchte Schemen in Pastell sind in der Ferne auszumachen. Ganz so als sei die materielle Fülle der Farben und Formen gebrochen und ein Spalt in eine verheißungsvolle Welt geöffnet worden. Vor diesem Bild zu stehen, fühlt sich ein bisschen an wie mit offenen Augen in die Sonne zu schauen. Die Hände schützend vors Gesicht halten oder sich von der schrillen Wärme umfassen lassen? Und wie lässt sich diese schmerzende Öffnung des Bildes und das eigene Ausgesetzt-Sein erklären?
Zu sehen ist The Absence of Sound in Shara Hughes’ Einzelausstellung „Time Lapsed“ im Kunstmuseum Luzern. Die in Brooklyn lebende Künstlerin malt form- und farbintensive Landschaften – Felder, Berge, Seen und Wälder. Obwohl die Szenerien menschenleer sind, strahlen sie eine wummernde Körperlichkeit aus und zeugen von einer ambivalenten Überreizung; immer zwischen Lust und Gefahr. In Attraction Contraption (2021) breiten sich die tentakelhaften Blätter einer Pflanze von unten nach oben aus, der große orchideenartige Blütenkopf im Bildzentrum ist von betörender Opulenz. Angesichts der Gewaltigkeit der Erscheinung, die das Format beherrscht und die Betrachtenden buchstäblich überragt, bleibt unklar, ob hier eine Einladung oder eine Drohgebärde ausgesprochen wird. Immer wieder wird jedoch deutlich: Die Schönheit dieser Bilder ist nicht heil, es gibt sie nicht ohne Brüche – sei es ein abgeknickter Stamm im Bildzentrum (Subtle Signals, 2020) oder ein herabgefallener Blütenkopf, der einem kraftstrotzenden Pflanzengeschöpf vor dramatischem Himmel zu Füßen liegt (Strong Spine, Soft Head, 2022).
Von Hughes’ Gemälde geht eine besonders affektive Kraft aus. Die Formate der Arbeiten orientieren sich immer wieder an der Spannweite des Künstlerinnenkörpers. Zusammen mit den leuchtenden Farben und rhythmischen Formen, die häufig von den Bildrändern in ein helles Zentrum drängen, wird einmal mehr das Begehren verstärkt, sich in die Landschaften hineinzufühlen und zu bewegen. Die weichen Farbfelder des Waldweges, der im Gemälde In a Haze (2022) zu einem gelben Lichtball führt, werden förmlich unter den Füßen spürbar. Beim Anblick des Dickichts aus flirrenden Farbpartikeln in Weighted Blankets (2022) lässt sich auch der eigene Körper wie schwerelos oder in Zeitlupe imaginieren.
Zunächst mag es naheliegen, die Anziehung von Hughes’ Gemälden in ihren Sujets begründet zu sehen. Zwar sind diese Werke aufregend, bewegen sich aber mit der Landschaftsmalerei zugleich innerhalb eines vertrauten Genres, das eine beruhigende „Zugänglichkeit“ mit sich bringt. Das Formenrepertoire wird „verstanden“: der runde Kreis als Sonne, die grade Linie als Stamm und die wolkige Form als Krone. Hughes’ Werke schrecken nicht vor weit verbreiteten Bildklischees zurück, sie umarmen sie geradezu. [1] Und dennoch: Diese Bilder sind nicht tatsächlich der Darstellung von Landschaften verpflichtet. Hughes’ Malerei formuliert kein biedermeierliches Sich-Ergötzen am Seerosenteich, sie sind kein warmes Wellnessbad, in das man gefahrlos sinken kann. Sonne, Horizont und Baum lassen sich statt als Ziel eher als Fixpunkte in dem Wagnis verstehen, das die Künstlerin mit ihren Bildern eingeht: sich ihren Emotionen und damit einer fundamentalen Orientierungslosigkeit auszusetzen – einer existenziellen „Ortlosigkeit“ [2] , die der Auseinandersetzung mit dem Selbst genauso eigen ist wie dem Anfang eines ungeplanten Bildes. So zeigen Hughes’ Szenerien anstelle konkreter geografischer Orte Gefühlszustände, psychologische Landschaften gewissermaßen. Die Künstlerin baut ihre Bilder nicht in Gedanken, sie arbeitet nicht mit Skizzen, sie setzt nichts Fertiges um. Vielmehr entwickelt sich das Bild nach und nach aus ersten, intuitiven Gesten auf der leeren Leinwand. Hughes’ Malprozess ist ein Improvisieren und ein Präsent-Sein: „[I]t is me living in this world now.“ [3]
Nun liegt das Paradox dieser Gegenwärtigkeit bekanntermaßen darin, dass sie sich verflüchtigt, sobald die Distanz des Erkennens und Urteilens einsetzt. Der Modus des Suchens und Tastens streitet sich mit dem Abgeschlossenen und Stabilen und muss daher immer ein Ringen sein. In Hughes’ Bildern zeigt sich das in einem unbedingten Willen freizudrehen, der sich immer wieder festhält am begrenzten Bildformat und an erkennbaren, erinnerten Formen, nur um sich aufs Neue loszureißen. Die dabei entstehenden Grenzgänge, zwischen Spur und Figur, Abstraktion und Gegenstand, markieren ein Sich-Öffnen und Sich-Lokalisieren zugleich. So scheint es nur logisch, dass diese Bilder eine Gleichzeitigkeit verschiedenster Impulse und Modi des Mark-Making zulassen: gehauchte Formen, wilde Striche, gesprühte Flächen; überreizte Hitze, schwingende Kraft, linderndes Anschmiegen.
Augenscheinlich wird dieses Spektakel auch in der Serie Time Lapsed, die am Beginn der Ausstellung steht und dieser außerdem ihren Titel verleiht. Sie besteht aus zehn Zeichnungen, deren Landschaften in der Zusammenschau eine Bewegung des Zu- und Abnehmens vollziehen, wie der Rhythmus eines Tages oder der Jahreszeiten. Die bunten Blätter zeugen wie die Gemälde von einer überbordenden Varianz an Gesten: Mal wird ein Pinsel mit Vehemenz ‚leer gemalt‘, oder ein Stift gräbt sich kreiselnd und unter Druck ins Papier; dann wieder wird das Blatt zart gestreichelt oder Farbflüssigkeit zum selbstständigen Rinnen losgelassen. Es mag auch am Medium und am Format liegen, dass diese Zeichnungen weniger dramatisch, ja, lustiger daherkommen als die materialsatten, monumentalen Gemälde. Dabei sind sie auch fragiler. Time Lapsed, das ruft nicht nur den Zeitraffer (Engl. time-lapse) auf, den die Werke, innerhalb der Serie und dem einzelnen Bild, in eine vibrierende Synchronität übersetzen. „Lapse“ heißt auch nachlassen, enden, hinfällig sein, scheitern – Fehler. lapse ist nah am collapse. Eine einstürzende Zeit. Gegenwart ist, wenn wir da sind – und ungreifbar zugleich, wie ein merkwürdiger glitch im unaufhaltbaren Verrinnen der Zeit. So phantasma-artig Hughes’ Bilder aussehen, so weit weg sie von der Realität zu sein scheinen, so sehr führt ihr Spalt doch in eben dieses fragile Hier und Jetzt.
Wie das glitzernde Wasser im Mondlicht ist freilich auch die Vorstellung von der Malerei als authentischem Speicher der Gegenwärtigkeit ihrer Macher*in und deren inneren wie äußeren Bewegungen ein so verbreitetes wie kitschiges Klischee. Doch obwohl die Künstlerin tief in die bewährte Trickkiste der Malerei greift, haben diese Bilder nichts mit Naivität, Nostalgie oder anachronistischem Eskapismus zu tun. Sie vollziehen auch keine pseudoromantische Beweihräucherung des Außenseiter-Genies, das sein narzisstisches Leiden an der Welt auf die Leinwand wirft.
„I had been so hung up on why, and who – why am I making this painting? Who is this painting about? Is it about me? Is it a self-portrait? Me, Me, me, me, me, me. And then kind of eliminating that and just letting the ,me‘ happen“ [4] , beschreibt Hughes ihre Hinwendung zur Landschaft.
Das Sich-Öffnen von Hughes’ Bildern stemmt sich gerade gegen das obsessive, in sich geschlossene Kreisen um das Ich, das nur die immer gleichen Antworten kennt. Das Tasten und Suchen nach sich und einem Bild davon, ist kein „Sich-Ausdrücken“ aus einer abgeschotteten Innerlichkeit heraus und auch kein Rückzug aus der Welt, sondern vielmehr der Versuch eines In-der-Welt-Seins. Die Aggressivität und Verletzlichkeit der Entblößung hat so auch etwas Hoffnungsvolles, Verbindendes an sich. Damit lässt sich das intensive Fühlen in seiner ganzen Zerrissenheit auch als eine Geste der Reparation verstehen. Eine Art Gegenprogramm zum Autopilot-Modus, zu Taubheit und Vereinzelung angesichts der andauernden Krisenhaftigkeit der Gegenwart. Es dennoch zu wagen, sich selbst zu spüren und dabei in die Welt zu greifen, ist befreiend und wie eine klaffende Wunde – genauso wie das Wagnis des malerischen Experiments, das sich immer wieder aufs Neue zum Ungewissen aufschwingt. Statt ironischer Distanz braucht es dazu Mut, Lust und Leichtsinn: Mit offenen Augen in die Sonne schauen.
„Shara Hughes: Time Lapsed“, Kunstmuseum Luzern, 17. September bis 20. November 2022
Ramona Heinlein ist Kunsthistorikerin, Redakteurin und Autorin. Sie lebt und arbeitet in Wien.
Image credit: 1. Courtesy of the artist and Galerie Eva Presenhuber, Zurich, Vienna, New York, © the artist, photo Stan Narten, JSP Art Photography; 2. Courtesy Kunstmuseum Luzern, photo Marc Latzel; 3. Courtesy of David Kordansky Gallery, © the artist, photo Stan Narten, JSP Art Photography, 4. Courtesy Kunstmuseum Luzern, photo Marc Latzel
Anmerkungen
[1] | Zur „Zugänglichkeit“ von Hughes’ Gemälden vgl. auch Fanni Fetzer, „Der Spalt zum Unbewussten“, in: Time Lapsed, Ausst.-Kat., Kunstmuseum Luzern, 2022, S. 25–33, hier: S. 26. |
[2] | Isabelle Graw spricht im Interview mit Shara Hughes von „Placelessness“. Siehe „Where are we know“, in: Shara Hughes, 2021, S. 229–236, hier: S. 230. |
[3] | Ebd. |
[4] | Shara Hughes im Interview mit Barry Schwabsky, in: Ebd., S. 106–115, hier: S. 111. |