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ÜBERLEBENDE BÜCHER Robert Kehl über Annette Kelm im Museum Frieder Burda | Salon Berlin

Annette Kelm, „Eva Leidmann, Auch meine Mutter freute sich nicht! Die Fehltritte eines bayrischen Mädchens, 1932, Zinnen Verlag, Basel/Leipzig/Wien, Einbandentwurf Martha von Wagner-Schidrowitz“, aus der Serie „Die Bücher“, 2019/2020

Annette Kelm, „Eva Leidmann, Auch meine Mutter freute sich nicht! Die Fehltritte eines bayrischen Mädchens, 1932, Zinnen Verlag, Basel/Leipzig/Wien, Einbandentwurf Martha von Wagner-Schidrowitz“, aus der Serie „Die Bücher“, 2019/2020

Wenn das Buch zum Bild wird. Annette Kelms neue Fotoserie, die noch bis Ende Oktober im Berliner Salon des Museums Frieder Burda zu sehen ist, konkretisiert die Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust am Beispiel der NS-Bücherverbrennungen: Welche Möglichkeiten der Repräsentation von Geschichte gibt es, wenn kollektive Erinnerung sich immer weniger durch Zeitzeug*innenberichte konstituiert? Der Kunstwissenschaftler Robert Kehl analysiert das memoriale Moment der konzeptualistischen Bildästhetik von Kelms Fotografien, das uns auch in unserem Septemberheft zum Thema Anti-Antisemitismus beschäftigen wird.

Mit ihrer jüngsten Ausstellung „Die Bücher“ im Berliner Salon des Museums Frieder Burda zeigt sich Annette Kelm von einer neuen Seite. Form und Thematik, Umfang und Konzentration der Arbeit wirken überraschend. „Die Bücher“ – das sind jene, die 1933 auf Initiative der Deutschen Studentenschaft den zahlreichen Bücherverbrennungen in deutschen Städten zum Opfer fielen oder auf Schwarzen Listen erfasst wurden, die ‚jüdischen Zersetzungsgeist‘ und ‚undeutsches‘ Gedankengut aus Bibliotheken, Buchhandel und Öffentlichkeit aussondern sollten. Aussonderung, Verfemung und Vernichtung begegnet Kelms Arbeit über 80 Jahre später mit einer fotografischen Sammlung von 50 zeitgenössischen Erstausgaben dieser Bücher. Zunächst war die Arbeit in einer Wechselausstellung des noch jungen NS-Dokumentationszentrums in München zu sehen; seit Mai diesen Jahres nun auch im Museum Frieder Burda in der ehemaligen Jüdischen Mädchenschule in Berlin-Mitte, wo sie in sinnfälligem, aber nicht ortsspezifischem Zusammenhang steht.

Als eine der wichtigen Stimmen in der Diskussion um das Erbe des Fotokonzeptualismus befasst sich Kelm in ihren teils bis zur Sachfotografie reduzierten Stillleben nur insofern mit Gedächtnis, als die arrangierten alltagskulturellen Objekte, Textilien oder Pflanzen oft metonymisch oder evokativ auf innere Spannungen der Moderne zielen. Kunsthistorische Rekurse einerseits, andererseits die verdichteten bildästhetischen Strukturen ihrer Arbeiten [1] machen dabei den deutlichen Abstand zu den Problemstellungen des Konzeptualismus der späten 1960er Jahre deutlich.

Im Gegenzug erscheint die Ausstellung „Die Bücher“ als antiästhetisch reduziertes, konzeptuelles Dokumentarprojekt. In gleichförmiger Reihe durchziehen die Bilder die Galerieräume. Serie bedeutet bei Kelm zumeist ein Ensemble variierend positionierter, belichteter oder gefilterter Prints, die das Werk im Sinne des Unvollendeten oder Provisorischen offenhalten und, in ‚bildanalytischer‘ Form, den fotografischen Arbeitsprozess demonstrieren. Hier aber vollzieht sich eine prozedurale, potenziell unabschließbare Vervielfachung des Werks, das auf die quantitative Dimension der ‚Säuberung‘der Nationalsozialist*innen reagiert. Auf den je 52 x 70 cm bemessenen, hochformatig weiß gerahmten Inkjetprints ist je ein Buch gleichmäßig hell ausgeleuchtet. Zentriert, frontal und gerade liegen diese auf weißem Grund, von dem sie ein weicher Schlagschatten des Führunglichts abhebt. Die sonst für Kelm typische Kompression des Bildraums durch frontale, intensiv farbig hervortretende Backdrops oder abfallende Standebenen ist ganz einem neutralen reprofotografischen Setting gewichen. Kelm verzichtet hier jedoch nicht völlig auf einen bildimmanenten Diskurs: Der fotografierte Schlagschatten der Bücher interferiert illusionistisch mit den Realschatten der Distanzleisten der Rahmen. Die glanzfreie Oberfläche der Prints darin bietet dem Auge keinerlei Halt, sodass die Bücher aus der Fläche hervorzuspringen scheinen und an Plastizität gewinnen.

„Annette Kelm: Die Bücher“, Ausstellungsansicht

„Annette Kelm: Die Bücher“, Ausstellungsansicht

Dieses Trompe-l’œil unterstreicht nur die zentrale Operation der Arbeit, Bücher zu verbildlichen. Die so nahegelegte Frage: Warum nicht diese Bücher selbst ausstellen?, lässt das Entzugsmoment der Serie deutlich werden. [2] Denn indem die Bücher fotografiert und in die Vertikale an die Wand gekippt werden, sind sie als mediale Träger unlesbar geworden. Weder ist ihr Inhalt, noch sind Buchgestaltung, etwaige innere Gebrauchsspuren oder Besitzer*innenvermerke als Informationen länger zugänglich. Relikte werden visuell verfügbar, deren historischer Status als materiell überlieferte Objekte wird aber gebrochen – hierin ähnelt die Ausstellung Naomi Tereza Salmons Sammlung von Asservaten (1995) der Vernichtungslager. Nicht das Schwinden eines dokumentarischen Informationswerts ist hier wichtig (dieser bleibt ja in den Buchobjekten erhalten), sondern vielmehr der Umstand, dass die Arbeit das spezifische Gedächtnispotenzial des Relikts, das Vergangene hier und jetzt zu sein, eindämmt. Dass die auratische Erscheinung des Relikts schließlich substituiert zu werden droht durch die auratische Erscheinung des Kunstwerks selbst, ist der Effekt, den Kelm durch reprofotografische Sachlichkeit zu blockieren versucht.

„Die Bücher“ bearbeitet einen kulturellen Verlust, der schon zeitgenössische Projekte der Restitution und des Erinnerns hervorgebracht hat. 1934 sammelten antifaschistische Exilant*innen in Paris die verbrannten Bücher in der Deutschen Freiheitsbibliothek. In der Nachkriegszeit allerdings stellte sich die Herausforderung, den Zivilisationsbruch nicht durch „das Hohle der auferstandenen Kultur“ [3] , so die Wendung Adornos, einfach zu überdecken. Jede nachträgliche Kanonisierung der verfolgten und umgebrachten Künstler*innen im Diskurs nationaler Kultur war von diesem Problem bedroht, das auch Arbeiten wie etwa Gerhard Richters 48 Porträts (1972) antrieb. Kelms Arbeit scheint das Problem nun zu aktualisieren. Was unterscheidet „Die Bücher“ dann aber von einer Ehrengalerie?

„Annette Kelm: Die Bücher“, Ausstellungsansicht

„Annette Kelm: Die Bücher“, Ausstellungsansicht

Die strenge Ordnung der Bücher an den Wänden tritt auf der Ebene des Bildgedächtnisses an gegen die notorischen Schwarz-Weiß-Fotografien und Filmsequenzen der Berliner Bücherverbrennung, auf denen die ausgesonderten und geplünderten Bücher nur in Haufen vorhanden sind. Die individuelle Repräsentation der einzelnen Bücher stellt als Überblick und Vergleichsanordnung eine gänzlich neue Anschaulichkeit her. Es ist die gestalterische Vielfalt und Verschiedenartigkeit der einzelnen Buchdeckel und Schutzumschläge, die ins Zentrum rücken. In den Buchgestaltungen spiegeln sich aber nicht einfach die Weimarer Avantgarden (so der Wandtext). Zu beobachten sind die Transfers zwischen avantgardistischen, antikünstlerischen Strategien und dem Bereich angewandter Kunst. John Heartfield ist – weniger überraschend − mit Einbandgestaltungen für den Malik-Verlag vertreten. Erich Weinerts selbstgestaltetes Affentheater (1925) könnte einer Dada-Mappe von George Grosz entnommen sein; Hans Bellmer fertigte 1925 den Entwurf für die Krimisammlung Der Pfiff um die Ecke von Walter Serner. Vielschichtig wird das Gesamtbild auch durch das Nebeneinander avantgardistischer und naturalistischer Gestaltungsweisen, die zum Teil auch in nationalsozialistischen Illustrierten Platz hätten Platz finden können (u. a. Vicki Baum: Helene Willfüer von 1928). Nicht zuletzt gibt Heartfields Montage für Upton Sinclairs Das Geld schreibt (1930) [4] aber auch Anlass für die Überlegung, welche Denkstrukturen das Bild der von fetter Bonzenhand geführten Marionetten mobilisiert, wenn ähnlichen Allegorien gleichzeitig in der antisemitischen Bildpublizistik des NS eine bekanntermaßen reaktionäre Wirkungsgeschichte bestimmt war – und teils bis heute ist.

Die fotografierten Buchtitel, kanonische wie vergessene, sind weder systematisch noch chronologisch geordnet. Es wird demnach keine Antwort auf die Frage gegeben, warum gerade dieser oder jener auf die Schwarzen Listen gelangte. Keine direkte Linie führt, anders gesagt, von der Ästhetik zum Verbot. Kelms Arbeit stellt die verbrannten Bücher als Knotenpunkte im Netzwerk der Weimarer Kultur vor, das – weitab von nur würdevoller Erinnerung − interessante und kritische Komplexität gewinnt. In diesem Sinne dürfte auch die streng geordnete Hängung zu verstehen sein: nicht eine kategorial deutende Unterteilung, sondern eine generische, egalisierende archivalische Ordnung, die den Einzeltitel als ein Objekt erfasst, das erst noch genau anzuschauen wäre. „Die Bücher“ fordert daher in ihrem Insistieren auf das Faktische und Gegenständliche von Geschichte den forschenden Blick einer Relektüre ein. Zugleich liegt aber, das ist ebenso wichtig, in der konzeptualistischen Werkform ein memoriales Moment: die Arbeit könnte so lang wachsen, bis noch das letzte verbrannte Buch erfasst ist.

„Annette Kelm: Die Bücher“, Museum Frieder Burda | Salon Berlin, 12. Mai bis 24. Oktober 2020.

Robert Kehl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts Kunstwissenschaft und Ästhetik an der UdK Berlin.

Image credit: Thomas Bruns, Courtesy the artist und KÖNIG Berlin/London/Tokyo

Anmerkungen

[1]Zu diesem Verhältnis bei Kelm vgl. Sabeth Buchmann: „Fehler sind eine Frage der Sprache“, in: AK Annette Kelm, Errors in English, London: Koenig Books, 2006, S. 14f.
[2]Es existieren entsprechende Kollektionen; in erster Linie ist hier die Sammlung Salzmann an der UB der Uni Augsburg zu nennen, die Tausende Erstausgaben als „Bibliothek der verbrannten Bücher“ führt.
[3]Th. W. Adorno, Metaphysik. Begriffe und Probleme (1965), hg. v. Rolf Tiedemann. Nachgelassene Schriften IV, Bd. 14. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998, S. 172.
[4]Schutzumschlag und Entwürfe (auch anderer seiner Bücher) finden sich nun im Katalog Heartfield Online unter https://heartfield.adk.de/node/5142.