ABSCHIED VON DER POSTMODERNEN KULTURGESELLSCHAFT KLAUS RONNEBERGER UND VASSILIS TSIANOS NACHLESE ZUR „LEITKULTUR“-DEBATTE

Symbolbild
Glaubt man der „Pop-Linken“, so zeichnet sich der gegenwärtige Kapitalismus durch einen kulturellen Pluralismus aus. Die damit verbundene These von der flexiblen Normalisierung sozialer Widersprüche mag im Bereich der Kulturindustrie ihre Berechtigung haben, sie ist jedoch nicht zu verallgemeinern. Gerade was die Frage der Migration anbetrifft, besteht hierzulande — trotz aller multikulturellen Rhetorik — ein weitgehender Konsens darüber, dass sich die Eingewanderten den vorherrschenden Normen und Werten anzupassen hätten. Diese Erwartung wird in der öffentlichen Debatte mit einem Integrationsbegriff verknüpft, mit dem große Teile der Gesellschaft sowohl „Ausgleich“ als auch „sozialen Frieden“ assoziieren. Gegenüber Migrant*innen funktioniert die Metapher der Integration als „Eingliederungs“-Ideologie, in der sich Vorstellungen von sozialer Inklusion und Forderungen nach einer vollständigen kulturellen Unterwerfung widersprüchlich überlagern. „Integration“ stellt in Deutschland ein zentrales Dispositiv bei der Regulation des Sozialen dar, das sich auf eine lange historische Tradition stützen kann. Der Vorstoß der Konservativen zur „deutschen Leitkultur“ lässt sich als Versuch verstehen, mithilfe der Integrationsmetapher den inferioren Status der Migrant*innen zu bekräftigen und zugleich darüber das Thema „Nation“ erneut ins Spiel zu bringen.
Die Kontroverse um die Leitkultur markiert auf dem Feld der Migrationspolitik einen neuen Einschnitt. Zum ersten Mal besteht ein parteienübergreifender Konsens, Einwanderung zuzulassen. Allerdings scheint sich damit um so schärfer die Frage nach der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft und die Frage nach der „Integrationsfähigkeit“ der Migrant*innen zu stellen.
Die Demontage des Asylrechts von 1993 fand nicht zuletzt wegen der Option auf ein kommendes Einwanderungsgesetz eine breite parlamentarische Mehrheit. Eine Zusage, die die konservative Regierung nie einlöste. Auch die rot-grüne Koalition trat 1998 mit dem Versprechen an, die „Einwanderungsfrage“ modernisieren und den Status der hier lebenden Migrant*innen durch ein neues Staatsbürgerschaftsmodell verbessern zu wollen. Doch die Umsetzung des Vorhabens, das selbst in den eigenen Reihen umstritten war, scheiterte schon bald an einer bundesweiten Unterschriftenaktion der Christdemokrat*innen. Inhaltlich zielte die Kampagne („Doppelte Staatsbürgerschaft nein — Integration ja“) darauf ab, wesentliche Grundrechte im Sinne der Verfassungstradition weiterhin als „Deutschenrechte“ festzuschreiben. Nach dem Wahlsieg der Konservativen in Hessen verschwand zunächst die Frage der Einwanderung aus der politischen Agenda der Bundesregierung. Die angestrebte Reform der Staatsbürger*innenschaft endete mit einem Kompromiss, der nur wenig von dem alten Entwurf übrig ließ. Ein Jahr später gelang es Bundeskanzler Schröder mit seiner Forderung nach der Einführung einer Green Card, das Thema Einwanderung auf neue Weise ins Spiel zu bringen. Im Kern handelte es sich bei dem Vorschlag um eine modernisierte Variante des altbekannten „Gastarbeitermodells“, das die Migrationserfahrung der letzten vierzig Jahre schlicht verleugnete. Indem der Kanzler seine Initiative als Einwanderungsbegrenzungsmodell für Hochqualifizierte vorstellte, schien es wieder möglich zu sein — mit Verweis auf die Stärkung des „Standorts Deutschland“ —, einen pragmatischen Umgang mit der Migration zu finden, der sich am Gebot der Nützlichkeit orientierte. Die Gegenkampagne Rüttgers', der Slogan „Kinder statt Inder“ im Zuge des Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen, konnte schon wegen des aktuellen Rekrutierungsbedarfs an gut ausgebildeten Arbeitskräften nicht recht greifen. Bemerkenswert daran war indes der damit verbundene offene Appell an die Reproduktionspflichten der „deutschen Fortpflanzungsgemeinschaft“, der sonst eher hintergründig im Zusammenhang mit der Sicherung der Renten auftaucht.
Nach einem kurzen Sommer der Staats-Antifa und nach dem „Aufstand der Anständigen“ gegen Rassismus und Rechtsradikalismus versuchten die Christdemokrat*innen mit der Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ ihre verloren gegangene Hegemonie auf dem politischen Feld der Migration zurückzugewinnen. Zur Integration, so der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz, gehöre mehr als Gesetzestreue und Sprachkenntnisse. Die Union erwarte, dass die (Migrant*innen) Ausländer „Teil unseres Landes werden“ und dessen Kultur und Geschichte annehmen. (Frankfurter Allgemeine, 22.11.2000) Während sich die Sozialdemokrat*innen in der Auseinandersetzung um die Leitkultur weitgehend bedeckt hielten, nahmen führende Grüne die Debatte zum Anlass, sich von der „multikulturellen Gesellschaft“ zu distanzieren, obwohl die Konservativen ihre Kampagne explizit als eine Kampfansage gegen dieses Modell führten. So begründete die Bundesvorsitzende Renate Künast ihr Abrücken damit, dass die Gestaltung der Einwanderungspolitik auf die Zustimmung der Mehrheitsbevölkerung angewiesen sei. Deshalb müsse man den konkreten Bedarf an Migrant*innen ermitteln und Konzepte „für die Regeln des Zusammenlebens“ entwickeln. Dafür eigne sich der Begriff des Verfassungspatriotismus, weil er klar mache, dass es jenseits aller kulturellen Unterschiede einen demokratischen Konsens gebe. Die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer wiederum nahm die Auseinandersetzung zum Anlass, die Tabuisierung der „Nation“ durch die Linke anzugreifen und ihre „Liebe zu Deutschland“ zu bekunden.
Für die Konservativen erwies sich die Debatte als ein geeignetes Vehikel, unterschiedliche Interessenlagen miteinander zu vereinen. Einerseits war angesichts des Standortdiskurses eine Absage an jede Form von Zuwanderung nicht mehr haltbar, andererseits galt es, die rassistischen Dispositionen in der Bevölkerung als wahlstrategische Ressource zu berücksichtigen. Gleichzeitig musste die CDU interne Konflikte zwischen der nationalistischen Fraktion und dem Modernisierungsflügel austarieren. Die Frage der Einwanderung mit der Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ zu verbinden, schien alle diese widerstrebenden Momente zu versöhnen. Seit der Verabschiedung der „Leitsätze für eine moderne Zuwanderungspolitik“ (Arbeitsgrundlage der Zuwanderungskommission der CDU vom 6.11.2000) ist die rechte Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ zum Bestandteil der offiziellen Parteilinie geworden. „Integrationsfähigkeit“, so eine Passage in dem Papier, „muss auch ein Maßstab für den Umfang der Zuwanderung sein. [...] Integration erfordert deshalb, neben dem Erlernen der deutschen Sprache, sich für unsere Staats- und Verfassungsordnung klar zu entscheiden und sich in unsere sozialen und kulturellen Lebensverhältnisse einzuordnen.“ angestrebt wird eine identifikatorische Assimilation der Migrant*innen in den „geltenden Werte- und Ordnungsrahmen“.
Die verschlungenen Pfade der Integration
Ähnlich wie bei der Auseinandersetzung um die doppelte Staatsbürger*innenschaft argumentieren Befürworter*innen wie Kritiker*innen in der Kontroverse um die „deutsche Leitkultur“ mit der Integrationsmetapher.
Auf die normalisierende und normierende Funktion der Integration zu setzen, hat in Deutschland eine lange staatspolitische Tradition. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts entwickelte sich mit der Ausbildung des Sozialversicherungssystems ein neues Konzept der sozialen Regulation, das den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit befrieden, die Folgen der Armut kompensieren und die Auswirkungen der Unterdrückung einschränken sollte. An die Stelle des bis dahin dominanten Gedankens einer Gesellschaft konkurrierender Individuen trat die Idee einer befriedeten Solidargemeinschaft, deren Mitgliedschaft nicht auf sozialen, sondern auf völkisch-nationalen Kriterien basierte. Durch Metaphern wie etwa die des „Volkskörpers“ wurde nachdrücklich die Einheitlichkeit dieser imaginären Gemeinschaft erzeugt. Das damit verknüpfte Modell des Sozialstaats weist — wenn auch mit unterschiedlicher Zuspitzung und Gewichtung — von der Weimarer Republik bis zur BRD eine erstaunliche Kontinuität auf. Zwar findet in der Nachkriegszeit eine Verwissenschaftlichung der politischen Technologien und Diskurse statt, die völkische oder biologistische Argumentationsmuster zugunsten systemisch-funktionaler Ideologeme zurückdrängen. Gleichwohl bleibt die Figur der nationalen Solidargemeinschaft und das Gebot des „sozialen Friedens“ gesellschaftspolitisch zentral. Bezogen auf die Frage der Migration macht sich jedoch die völkische Komponente der Integrationsideologie weiterhin bemerkbar, die sich in Unterscheidungen wie „Volksdeutsche“ und „Ausländer“ oder „Gastarbeiter“ und „Aussiedler“ niederschlägt.
In den späten fünfziger Jahren kam es angesichts eines wachsenden Bedarfs an Arbeitskräften zur Anwerbung von „Gastarbeitern“. Die Rekrutierungsstrategie orientierte sich an den akuten Erfordernissen des Arbeitsmarktes und ging mit einer Politik der begrenzten Aufenthaltsdauer für Migrant*innen einher. Für dieses Rotationsmodell war „Nichtintegration“ konstitutiv. Spätestens mit der Verhängung des Anwerbestops 1973 und dem politisch nicht intendierten, aber dennoch verstärkt einsetzenden Familiennachzug vollzog sich in der deutschen Öffentlichkeit eine Wahrnehmungsverschiebung. Die Präsenz einer Migrant*innen-Wohnbevölkerung löste eine Reihe von kontroll und sozialpolitischen Überlegungen aus. Der Migrationsdiskurs artikulierte sich nun in zweifacher Hinsicht als Problemdiskurs: Zum einen ging es um Maßnahmen, die sich gegen den Status eines Einwanderungslandes richten, zum anderen verstärkten sich Forderungen nach einem Eingliederungsprogramm, um befürchtete Desintegrationsfolgen für die Gesellschaft zu vermeiden. Im Laufe der siebziger Jahre entwickelte die SPD das sozialtechnokratische Modell der partiellen Integration, das insbesondere die Kinder der „Gastarbeiter" zu erfassen versuchte. Die CDU/CSU denunzierte diesen Ansatz als „Zwangsgermanisierung der Türkenkinder“ und sprach sich für eine „rückkehrorientierte Integration“ aus. Die sozialliberale Regierung, so der damalige bayerische Sozialminister Fritz Pirkel (CSU), wolle die kulturelle und nationale Eigenständigkeit der Migrant*innen gegen deren erklärten Willen unterdrücken. (Vgl. Frankfurter Rundschau, 26.3.1981)
Während sich trotz solcher Einwände Integrationskonzepte allmählich institutionalisierten und auf immer weitere Alltagsbereiche ausdehnten, fand zu Beginn der achtziger Jahre mit der Legitimationskrise des integrativen Sozialstaats eine erneute Verschiebung des Migrationsdiskurses statt. Die einsetzende Konjunktur postmoderner Ideologien führte zu einer Aufwertung des Kulturbegriffs, die sich auch in der Debatte über den Umgang mit den Einwanderungsminderheiten niederschlug. Ausgehend von der Vorstellung einer ethnisch differenzierten Gesellschaft griffen die Befürworter*innen eines multikulturellen Modells die vorherrschende Integrationspolitik als intolerante, nivellierende Assimilation an. Aus ihrer Perspektive stellten die Herkunftskulturen der Einwanderer und Einwanderinnen weniger eine Bedrohung als vielmehr eine Bereicherung für die Nation dar. Programmatisch handelte es sich bei dem Konzept um eine Normalisierungsstrategie, die „Ethnizität“ als Alltagsrealität verhandelte und von der Notwendigkeit einer regulierten Einwanderung ausging. Dieser Versuch einer Modernisierung der Migrationspolitik scheiterte aber in der Bundesrepublik an dem Konsens, sich weiterhin als „Nicht-Einwanderungsland“ zu verstehen. Die Abschottung erfolgt seit den achtziger Jahren primär über eine zunehmende Einschränkung des Asylrechts, das neben Familiennachzug oder temporär begrenzten Arbeitsverträgen die einzig legale Möglichkeit bildet, nach Deutschland zu kommen.
Nach dem Fall der Mauer und der Vereinigung verhandelte die deutsche Öffentlichkeit das Phänomen der Migration vor allem als Problem der „inneren Sicherheit“. Bevorzugtes Thema des Sicherheitsdiskurses war „der Ausländer“ nicht als Angehöriger fremder Kulturen, sondern als Krimineller. Meist operierten die „Sicherheits- und Moralpaniken“ mit der Unterscheidung, ein großer Teil der Kriminalität werde von außen eingeschleppt. Wenn in den Medien von Kriminalität die Rede ist, dann in Verbindung mit „ausländischen Drogendealern“ oder mit Jugendlichen, die sich an „sozialen Brennpunkten“ zu „Gangs“ zusammenschließen und eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellen.
Im Ghettodiskurs scheint sich gegenwärtig die Auseinandersetzung um die Spannbreite des Integrationsbegriffs zu fokussieren. Grundsätzlich lassen sich zwei Argumentationsmuster erkennen: Zum einen werden Prozesse der Fyklusion und Fragen der sozialen Ungleichheit thematisiert, zum anderen geht es um die Problematik gemeinsam geteilter Werte und Normen. Beide Semantiken sind über den Referenzpunkt verknüpft, dass die räumliche Ausgrenzung oder die „Absonderung“ einer sozialen Gruppe den Zusammenhalt in der Gesellschaft zerstöre. Auf Dauer dürfe nicht ein bestimmter Teil der Bevölkerung außerhalb der staatlichen Gemeinschaft stehen, da sonst der „soziale Friede“ bedroht sei. Zentral ist dabei die Figur des explosiven Raums, in dem sich ein „Sprengstoff“ ansammelt, der sich irgendwann entzündet.
Einerseits dienen die Ghetto-Beschwörungen dazu, sozialräumliche Spaltungen in den Metropolen zu skandalisieren. Diese Form der Sozialkritik, deren mediale Popularisierung vor allem von Sozialwissenschaftler*innen wie Hartmut Häußermann oder Wilhelm Heitmeyer betrieben wird, beschränkt sich jedoch darauf, an die integrative Verantwortung von Staat und Gesellschaft zu appellieren. Die Ambivalenz der Integration, insbesondere was die Dimension der Normalisierung und Disziplinierung anbetrifft, ist aus diesem Konsensmodell weitgehend getilgt. Das Einklagen ausgleichender Maßnahmen erfolgt aus der Perspektive einer präventiven Pazifizierung, die auf das Bedrohungspotential von „Risikopopulationen“ verweist: Gelänge es jetzt nicht, die Ausländer zu integrieren, so seien zukünftig gesellschaftliche Konflikte unvermeidbar. Nur eine Politik der sozialen Einbindung könne Ghettos sowie eine Fundamentalisierung der Migrant*innen verhindern. Solche Dramatisierungsszenarien mobilisieren zwar unter Umständen staatliche Ressourcen und Unterstützungsprogramme, tragen aber gleichzeitig dazu bei, die Stigmatisierung der Marginalisierten zu verfestigen.
Andererseits bildet die Etikettierung von Quartieren als „gefährliche Räume“ regelmäßig die Grundlage für eine restriktive Lokalpolitik. So fordern viele Kommunalpolitiker*innen, der Entstehung von Ghettos entgegenzuwirken, indem man bestimmte Stadtteile vor einem „ungesteuerten Zuzug von (Migranten) Ausländern“ bewahre. Als „realistische Techniker der Sozialpsychologie“ (Etienne Balibar) warnen sie vor der Überschreitung von „Toleranzschwellen“ und „Belastungsgrenzen“. Auch hier wird eine Drohung ausgesprochen: Schrumpft die bisherige Mehrheitsgesellschaft zu einer „Minorität unter Minoritäten“ und bedrängt eine „angriffige, unduldsame, zuwanderungs- und vermehrungsreiche Kultur“ die andere (Frankfurter Allgemeine, 1.11.2000), dann schwindet die Integrationskraft der Deutschen mit entsprechend nachteiligen Folgen für die Migrant*innen.
Belohnte Unterwerfung
In Deutschland ist die Regulation des Sozialen entscheidend an den Integrationsbegriff gekoppelt. Für die Frage der Migration fungiert diese Metapher vor allem als Assimilationsmodell im Sinne einer Anpassung der Einwander*innen an die „Dominanzkultur“. Die Superiorität einer „deutschen Leitkultur“ zu behaupten, entspricht damit zunächst dem vorherrschenden Konsens, den Migrant*innen lediglich eine subalterne Stellung in der Gesellschaft zuzuweisen. Der Vorstoß der Konservativen korrespondiert aber auch mit einem Paradigmenwechsel im linksliberalen Milieu. Gelang es in den achtziger Jahren dem Multikulturalismus, die assimilatorische Integrationspolitik ideologisch unter Druck zu setzen, so hat sich in der Zwischenzeit der Charme des kulturalistischen Differenzmodells weitgehend verflüchtigt. Dies verdankt sich allerdings weniger einer Kritik an den „positiven Rassismen“ des Konzepts, bei dem die Referenz auf Kultur dazu tendiert, soziale Verhältnisse zu ethnisieren. Das Abrücken geschieht vielmehr unter der Vorgabe, dass es sich dabei um ein „Schönwettermodell“ der fröhlichen Postmoderne gehandelt habe, das den sozialen Realitäten der neuen Berliner Republik nicht mehr standhalte. Mit Erleichterung konstatiert Theo Sommer in der Zeit den neuen Konsens in Deutschland: die Absage an die Multikulti-Rhetorik und das Herausstellen des „nationalen Interesses“. Nun könne man sich endlich den „wichtigen Fragen“ zuwenden: „Wie viel Einwanderung brauchen wir? Wie viel können wir bei unserer demografisch schrumpfenden Integrationskraft vertragen?“ (Die Zeit, 16.11.2000)
Eine Reihe von Intellektuellen nimmt die Rede von der „deutschen Leitkultur“ zum Anlass, sich solchen Fragen zuzuwenden. So beklagt ein Autor in der Süddeutschen Zeitung die seit 1968 vorherrschende Meinung, alle Wege zur Idee der Nation führten unweigerlich nach Auschwitz. Es gebe „die unausgesprochene These, dass die gestörte Nation Deutschland geheilt werden kann durch den ,edlen Fremden', natürlich in der Kitschversion vom klezmerspielenden Juden, trommelnden Afrikaner, folkloretanzenden Türken. Weil die Deutschen sich selbst hassen, ist der Kurde hier König.“ (Süddeutsche Zeitung, 20.11.2000) Die Rückbesinnung auf die eigenen nationalen Werte erfolgt häufig aus einer psychologisierenden Perspektive. Offen für das „Fremde“ könne nur der sein, der sich des „Eigenen“ sicher sei. „Tatsächlich ist der unantastbare Kernbestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung das einzig annehmbare Angebot zur Integration. Wenn aber nur die Freiheit bewahrt wird, nicht ihr konkreter Inhalt — was bleibt von der deutschen Art? Das ist es, was die angestammte Bevölkerung umtreibt.“ (Stefan Dietrich, FAZ-Leitkommentar, 25.10.2000) Für den konservativen Historiker Arnulf Baring krankt Deutschland daran, dass es kein Selbstbewusstsein besitzt: Da es Hitler gegeben habe, dürfe es keine deutsche Nation geben, „kein Einverständnis mit der deutschen Geschichte, der Kultur, den großen zivilisatorischen Errungenschaften Deutschlands“. (Frankfurter Allgemeine, 19.10.2000) Auch dieser Versuch der Renationalisierung der Gesellschaft ist an die Integrationsmetapher gekoppelt. Die Höherwertigkeit der deutschen Nation gilt etwa einer Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte als Voraussetzung für einen gelingenden Assimilationsprozess der Migrant*innen, „denn integriert werden muß immer durch jemanden in etwas, ansonsten hat man es mit einem strukturlosen Gemenge zu tun […] Der dominante Part ist auch der verantwortliche Part. Wenn die Deutschen die anderen Kulturen in die ihre Integrieren, tragen sie auch wesentliche Verantwortung dafür, dass der Prozess keine der Seiten überfordert und dem Verzicht aller auch ein Gewinn aller gegenübersteht.“ (Barbara Zehnpfennig, Frankfurter Allgemeine, 27.12.2000)
Eine Aussage, die angesichts der deutschen Geschichte erstaunt. Auch in der Kontroverse um die jüdische Emanzipation im 19. Jahrhundert ging es um die Behauptung, eine vollständige Gleichberechtigung könne erst am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses stehen. Die jahrzehntelange Problematisierung der „Integrationsfähigkeit der Juden“, die stets auch einen festen Bestandteil der antisemitischen Rhetorik bildete, führte dazu, dass für einen großen Teil der Bevölkerung die Juden auch nach Erlangung der staatsbürgerlichen Rechte nicht als Deutsche galten. Deren Assimilation nahmen die Antisemit*innen vielmehr zum Anlass, umso intensiver nach Zersetzungs- und Unterwanderungsphänomen zu suchen. Diese Tatsache wird in der aktuellen Integrationsdebatte ausgeklammert, und das nicht ohne Grund. Denn die These von der befriedenden Wirkung einer unterwerfenden Anpassung gehört selbst einem Diskurs an, der die Immigration aus der Perspektive sozialer Kontrolle behandelt und rassistische Kategorisierungen stützt.
Erschienen in TEXTE ZUR KUNST #41, 2001
Image Credit: Public Domain, Foto Tony Alter, 2011