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Bring the Noize, Holger Schulze über „Sounds Like Silence“ im Hartware Medienkunstverein Dortmund

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Jens Heitjohann, „In Begleitung", 2012

Ich trete in den Kreis. Der junge Mann hinter dem weißen Kreis auf dem Boden erhebt sich, zieht seine Jacke an und geht voraus. Ich folge ihm, die Rolltreppen hinunter über jede Etage des Dortmunder U (Zentrum für Kunst und Kreativität in der ehemaligen Union-Brauerei). Wir durchqueren die Bürogebäude, laufen auf der Straße in Richtung Nordstadt, vorbei an Supermärkten, einer Konzerthalle und betreten eine Brache, die von hohen Gittern nur notdürftig abgeschirmt ist. Er führt mich an den Rand des Geländes, wir gehen durch die Büsche, über moosige Abhänge voller Backsteine; dann stehen wir in einer kleinen, sandig-kieseligen Lichtung: eine Handvoll knallgelber Buchstaben, vermutlich aus dem ehemaligen Schriftzug eines Supermarktes liegen dort. Wir wenden uns um in Richtung auf das Dortmunder U und der Mann, der mir vorangegangen war, zeigt mir nun seine Stoppuhr und nimmt die Zeit. Einmal nach 33 Sekunden; einmal nach 2 Minuten 40; und schließlich nach einer weiteren Minute und 20 Sekunden. Schon auf dem Weg dorthin hatte ich die Geräusche unseres Schuhwerks gehört, das Dröhnen vom Metall der Baufahrzeuge und den fernen Verkehrslärm.

Nun aber, eingebettet in die drei per Stoppuhr markierten Sätze, sind all diese Klänge der Umwelt Komposition: die Warnsignale, die Vogelschwärme, Bahnlinien, Rufe und Spaziergeräusche. Die Arbeit „In Begleitung“ (2012) von Jens Heitjohann aus Leipzig, an der ich als Teil der Ausstellung „Sounds Like Silence“ teilgenommen habe, hat mich zum liebsten Hörort dieser einen Person gebracht. Als Besucher zwingt mich diese Arbeit mitten hinein in genau die auditive Erfahrung, die John Cages Komposition „4'33''“ seit ihrer Welturaufführung am 29. August 1952 durch den Pianisten David Tudor in der Maverick Concert Hall bei Woodstock (New York) verkörpert. Cages Komposition ist kein „stilles“ Stück – auch wenn dies oft leichthin behauptet wurde und wird; der Komponist selbst zitierte diese Zuschreibung nur höchst pikiert und irritiert – steht doch die Nichtstille, der Lärm und alle Geräusche des täglichen Lebens jenseits musikalischer Aufführung im Zentrum dieser Komposition. Der kulturkritische und musikästhetische Schlachtenlärm, der „4'33''“ seither begleitete und der weiteren Aufführungen des Stücks stets vorauslief, all dies kann in der beeindruckend kuratierten und mit viel Gespür und Witz inszenierten Ausstellung im Dortmunder U nachvollzogen und erlebt werden.

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„Sounds like Silence", HMKV, Dortmund, Ausstellungsansicht

Im Jahr 2012, in dem John Cage hundert Jahre alt geworden wäre, ist „Sounds Like Silence“ dezidiert keine Cage-Huldigung: anders als der große Archivüberblick in der Akademie der Künste Berlin („A Year from Monday. 365 Tage Cage“, beendet am 5. September 2012), anders als die kaum überschaubare Menge an Aufführungen im weltweiten Konzertkalender unter dem Titel „CAGE100“ (noch bis in den Juli 2013, Koordination: Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig), anders auch als die beeindruckende Versammlung von hybriden Ansätzen zwischen Neuer Musik und bildender Kunst in der Mathildenhöhe Darmstadt („A House Full of Music“, beendet am 9. September 2012). Inke Arns und Dieter Daniels konzentrieren sich dagegen in ihrer Ausstellung ganz auf diese eine, vermutlich bekannteste Komposition von Cage und ihre Entstehungszeit in den 1950er Jahren – was Anlass bietet, direkte Vorläufer, künstlerische Reaktionen und heutige Aufführungen und Bearbeitungen von „4'33''“ zu zeigen und zu diskutieren. Dieser starke Fokus und die dramaturgisch außergewöhnlich gelungene Raumgestaltung tragen entscheidend zum faszinierenden Gelingen dieser Ausstellung bei: es gelingt ihr sowohl ein breites Publikum anzusprechen als auch Cageianer/innen mit vielen Fundstücken und Interpretationen zu überraschen. Auf den ersten Blick themenfremd beginnt die Ausstellung mit einer großräumigen, grafischen Einführung in Skalen und Bedingtheiten des Hörvermögens sowie mit einem Überblick über die Geschichte der Hör- und Klangforschung in den Künsten und Wissenschaften der letzten hundert Jahre. Dieser Gang in die Ausstellung hinein geleitet die Besucher zugleich wohltuend unaufdringlich, doch dezidiert in die Fragen und Anliegen der Klangkunst, der akustischen Ökologie und der Sound Studies und trägt damit auch zum erweiterten Verständnis des Nachlebens von „4'33''“ in all diesen Disziplinen bei.

Die erste Konfrontation des Besuchers mit „4'33''“ in dieser Ausstellung ist zudem keine vermeintliche Originalaufführung, sondern eine medientechnische Inszenierung durch das BBC Symphony Orchestra anno 2004, sportreportageartige Begleitkommentare des TV-Sprechers inklusive. Die institutionelle, musikhistorische und auch apparative, ja finanzielle Provokation, die in diesem Stück steckt, wird hier unmissverständlich deutlich: ein renommiertes Konzerthaus, die Barbican Hall in London, wird bespielt, von Orchestermusikerinnen und -musikern, die viereinhalb Minuten lang gerade keine Klänge hervorbringen, die nicht das tun, wofür sie doch in langen Jahren ausgebildet und abgeprüft, ausgewählt und für diesen Abend gebucht und entlohnt wurden, und für die eine regelrechte Materialschlacht aufgefahren wurde: Das gigantische Hördispositiv des Konzerthauses plus öffentlich-rechtlicher Liveübertragungsmaschinerie spielt nur sich selbst, sonst nichts. Erst nach diesem einschneidenden Nicht-, oder genauer, Andershörerlebnis in der Ausstellung führen die Kuratorin und der Kurator den Besucher zu begleitenden Werkgruppen von Cage (etwa die frühen „Imaginary Landscapes“ vor 1952 oder die späten „Number pieces“ seiner letzten Lebensjahre), zu Dokumenten des historischen Kontexts, zur Vielfalt der verschiedenen Partituren, in denen diese Komposition vorliegt – bis hin zu zeitgenössischen Varianten, Bearbeitungen und Reaktionen von Charles Wilp, Nam June Paik, Guy Debord und Heinrich Böll – sowie zu aktuellen Beispielen künstlerischer Aneignung und medialer Inszenierung von Brandon LaBelle, Manon de Boer, Jens Brand, Ultra-Red und nicht zuletzt Bruce Nauman. Zwei Schwerpunkte der Ausstellung sind dabei besonders deutlich: zum einen die popkulturellen Aneignungen des Stückes, zum anderen Arbeiten jüngeren Datums, die „4'33''“ als ein eigenes Genre der Kunst erkennbar machen.

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„Sounds like Silence", HMKV, Dortmund, Ausstellungsansicht

Aus dieser letzten Gruppe stechen drei Werke hervor: Bruce Naumans „Mapping the Studio I – All Action Edit (Fat Chance John Cage)“ (2001), Jens Brands „Stille – Landschaft“ (2002) und Jens Heitjohanns eingangserwähntes „In Begleitung“. Heitjohanns Interpretation des Cage‘schen Konzepts als beeindruckend performative und situativ-intime Umsetzung ist zweifellos ein Höhepunkt von „Sounds Like Silence“. Gerade die Nicht-Reproduzierbarkeit und Inkommensurabilität dieser Arbeit (jede/r Besucherin erlebt eine andere Begleitung und Hörsituation) hebt den Ansatz von „4'33''“ radikal auf den Stand aktueller ästhetischer Debatten der radikalen Performativität, des Ephemeren und der Flüchtigkeit (wie etwa bei Paweł Althamer, Tino Sehgal oder Janet Cardiff & George Bures Miller). Durchaus vergleichbar ist Naumans Arbeit, für die er monatelang die nur vermeintliche Stille und Ödnis seines Ateliers in New Mexico per Infrarotkamera aufzeichnen ließ. Dieser Arbeit ist ein gesamter großer Ausstellungsraum gewidmet, in dem sie auf sieben Leinwänden an allen Seiten des Raumes projiziert wird, so dass sie die Betrachter/innen direkt in die räumliche Situation des Ateliers versetzt. Ähnlich wie Cages Stück die Situativität des Hörens betont und Heitjohanns Performance diese noch weiter individualisiert und mobilisiert, wird in Naumans Umsetzung der vermeintlich leere, unmarkierte Raum der künstlerischen Nicht-Tätigkeit, das nächtliche Atelier, zu einem Kunstwerk, in dem Zettel und Staub, Tiere und Geraschel, Lichtwechsel und fernen Lärm zu Akteuren werden: wildes Pandämonium nachtaktiver Atelierbewohner. „Stille – Landschaft“ von Jens Brand schließlich wird in einem schallisolierten und resonanzarmen Raum gezeigt, der in der Ausstellung als Holzcontainer steht, dessen Betreten als Übertritt in eine selbstverantwortete Erfahrungssituation inszeniert ist: die Referenz auf Cages wiederholten Bericht seiner einschneidenden Erfahrung beim Besuch eines schalltoten Raumes und seiner Überraschung, darin dennoch seinen Herzschlag und seine Neuronenaktivität zu hören, ist überdeutlich. Brands Arbeit zeigt einen 360°-Schwenk über eine Salzwüste im Norden Botswanas und konfrontiert so die radikale Klangereignisarmut dieses Ortes mit Erwartungen an absolute, ästhetisch reduzierte Totenstille. Ich bin in diesem Filmcontainer auditiv eindeutig abgeschnitten von der gesamten Ausstellung und Außenwelt; eine Isolation, die jedoch die Isolation des Kameramanns von der Restwelt nur andeuten kann, die dieser zum Zeitpunkt der Aufnahme erlebte. Varianten der Stille werden erfahrbar.

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Cage Against The Machine, 2010

Popkulturell war „4'33''“ Vorlage für viele Verballhornungen, Künstlerwitze und zahllose Tonträger-Gimmicks (wie an einem Punkt der Ausstellung vorgeführt wird); sei es im Projekt „Cage Against The Machine“, mit dem über vierzig britische Musiker/innen (darunter Coldcut, Orbital, Pete Doherty, Billy Bragg, The Vaccines, Kooks, Imogen Heap, Unkle) im Jahr 2010 ein weiteres Mal das musikindustrielle Ritual der anrührend-verkaufsträchtigen Weihnachtsballade auf Platz 1 der Charts durchbrechen wollten: diesmal (nach Rage Against The Machines „Killing In The Name“ im Vorjahr) mit einer Single, die alle Musiker/innen im Studio untätig ließ, viereinhalb Minuten hörbares Schweigen. Das variantenreiche Schweigen setzt sich fort in Dick Whytes suggestivem Zusammenschnitt einer unendlichen Folge von „4'33''“-Aufführungen auf YouTube oder ähnlichen Onlinevideoplattformen, von Profi- oder Laienmusikern: Cages avantgardistisches Werk zeigt sich hier als ein globaler Evergreen, der längst ins kollektive Popkulturgut eingemeindet ist. Bester Beleg hierfür ist sicherlich die Aufführung 2010 durch Helge Schneider, Harald Schmidt, Katrin Bauerfeind samt Showband in Schmidts Late-Night-Show: der öffentlich-rechtliche Sendeplatz am späten Abend erlaubte hier zwar eine Grenzüberschreitung – Neuer Musik am unüblichen Sendeplatz –, die allerdings durch Ironiesignale abgefedert werden musste – die vom Jazzmusiker Schneider selbst wieder ironisiert werden, fast straßenkarnevalshaft (aufdringlich gespieltes Gähnen, Räkeln, Schnalzen, Schnaufen, Stoppuhranschauen etc.pp.). Schneider ironisierte also ein weiteres Mal die bildungsbürgerlich-humorige Vereinnahmung des Cage-Stückes als Insiderwitz. Spätestens mit dieser Aufführung ist der Bogen zurück zur BBC-Aufführung geschlagen. Beide Beispiele belegen, dass womöglich mit der Distanz zu den Zeitgenossen in Musik und Kulturkritik (von freundschaftlich verbundenen Künstlern/Künstlerinnen und Komponisten/Komponistinnen wie Christian Wolff, Alvin Curran, Alison Knowles oder Kritikern/Kritikerinnen und Publizisten/Publizistinnen wie Heinz-Klaus Metzger, Richard Kostelanetz oder Daniel Charles) auch eine distanziertere, vielleicht banausischere, in jedem Fall aber vielfältigere und komplexe, auch popkulturelle Interpretation dieses Stückes möglich geworden ist: jenseits einer moralisierenden Hörpädagogik des Stillehörens einerseits oder einer posttraumatischen Avantgardebelastungsstörung andererseits, die immer wieder aufs Neue die gegenkulturellen Kämpfe der Vergangenheit durchzukämpfen hat. In der überraschenden Interpretationsvielfalt, die Inke Arns und Dieter Daniels aus ihrer Konzentration auf eine einzige Arbeit Cages gewinnen (die instruktive, begleitende Publikation mit Artikeln u.a. von David Toop, Brandon LaBelle sowie des Kurators und der Kuratorin belegt dies) ist „Sounds Like Silence“ mit Sicherheit die vielleicht wichtigste, sicherlich aber eine der besten Ausstellungen des ausgehenden Cagejahrs 2012.

„Sounds like Silence", Hardware MedienKunstVerein, Dortmund, 25. August 2012 bis 6. Januar 2013.