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ÖKOFEMINISTISCHE PERFORMANCE Simon Lindner über Joan Jonas im Haus der Kunst, München

Künstlerische Praktiken, die Beziehungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Agent*innen neu kalibrieren, können unser Bewusstsein für die Notwendigkeit interspezifischer Allianzen stärken. In Zeiten existenzieller ökologischer Zerstörung hat die Förderung solcher Wechselbeziehungen besondere Dringlichkeit. Joan Jonas, die zu den Pionierinnen der Performance Art zählt, bindet das Nichtmenschliche seit Jahrzehnten dezidiert in ihr Werk ein. In seiner Rezension der bislang größten deutschen Überblicksschau der US-amerikanischen Künstlerin nimmt der Kunsthistoriker Simon Lindner zwei Arbeiten in den Blick, die für diesen Aspekt exemplarisch sind, und beleuchtet Jonas’ Praxis unter Einbezug von Donna Haraways Cyborgs und Critter, die er als wesentliche Akteur*innen in Jonas’ Performances wiederfindet.

Eine große Joan-Jonas-Ausstellung war eigentlich schon für 2018 im Haus der Kunst geplant, wurde dann aber mit Verweis auf Sparzwänge zurückgestellt. Einen schlechten Beigeschmack bekam diese Entscheidung, weil an Jonas’ Stelle ausgerechnet Markus Lüpertz und Jörg Immendorff ins Programm aufgenommen wurden. Den beiden deutschen Malerfürsten traute die kaufmännische Leitung, die damals vorübergehend auch den inhaltlichen Kurs bestimmte, offenbar einen verlässlichen Kassenerfolg zu, und so hatte die feministische Video- und Performancekünstlerin aus den USA das Nachsehen (ebenso wie ihre Schwarze Landsfrau Adrian Piper, deren Ausstellung ersatzlos gestrichen wurde). [1] Der neue künstlerische Direktor, Andrea Lissoni, realisierte nun die Joan-Jonas-Schau, deren Besucher*innenzahlen nicht hinter denen der Ausstellungen von Lüpertz und Immendorff zurückstehen. [2]

Jonas’ Kunst versetzt menschliche Körper in überraschende Wechselbeziehungen zu anderen Körpern und der Umwelt; so wird sie regelmäßig mit dem ökofeministischen Denken von Donna Haraway in Verbindung gebracht. [3] Die zentrale Ausstellungshalle im Haus der Kunst präsentiert dahingehend zwei Beispiele, die einander hervorragend ergänzen und auf deren Betrachtung ich mich im Folgenden konzentriere: den Performance-Film Wind (1968) und die Installation Reanimation (2010/12/13). In Wind bewegen sich Performer*innen durch eine natürliche Umgebung, in Reanimation betreten Besucher*innen eine künstliche. Die kuratorische Kombination dieser beiden Arbeiten spannt also den Bogen zwischen zwei Formen von Umwelt, die gewöhnlich voneinander unterschieden werden. Um diese Cyborgs und Critter von Donna Haraway zu beleuchten, bediene ich mich des Begriffs der ökologischen Performance.

Wind ist Jonas’ erster Film, gedreht wurde mit einer Gruppe von Freund*innen an einem kalten Wintertag am Strand von Long Island. Über die weite sandige Fläche fegt der Wind und zerrt an den Körpern und Klamotten der Performer*innen. Die lose Choreografie beschreibt keine dramatische Handlung, sondern lediglich Handlungen im buchstäblichen Sinne, Folgen von repetitiven, alltagsnahen Bewegungen. Das ist typisch für die Spielart des postmodernen Tanzes und der Performance, die Ende der 1960er Jahre Künstler*innen wie etwa Trisha Brown, Steve Paxton, Yvonne Rainer und Jack Smith vertraten und die sich mitunter in Abgrenzung zu expressiven und professionalisierten Tanzformen entwickelte. Die Gruppenperformance in Wind wird zu einer ökologischen Performance, weil die physische Einwirkung des Windes in alle Bewegungen hineinspielt. Wenn die Performer*innen beispielsweise ihre Rücken aneinanderlehnen und im Krebsgang über den Strand wackeln, dann spielen sie nicht nur miteinander, sondern auch mit dem titelgebenden Element. Menschliche und meteorologische Kräfte verschränken sich zu einem einzigen Ökosystem, das komische, rührende und erhabene Momente hervorbringt. Zur Anonymisierung tragen außerdem die einheitlich dunklen Mäntel und vermummten Gesichter bei. Jonas selbst trägt in ihren Performances generell gern Masken und Verkleidungen oder lässt keinen Gesichtsausdruck erkennen – Selbstausdruck ist nicht Teil ihrer Kunst.

Besucher*innen dem zweiten Werk in der zentralen Ausstellungshalle, Reanimation, zuwenden, dürfte ihnen auffallen, dass Holzdielen auf ganzer Länge der Halle ausliegen. Sie verleihen den Schritten Resonanz. Beim Gehen stellt sich ein (wenn auch unterschwelliges) Gefühl für die Rhythmik der eigenen Körperbewegungen ein. Die groben grauen Dielen könnten zu einer Terrasse oder einer Bühne gehören. [4] Mittig in der Halle bilden ein Gerüst und vier lichtdurchlässige Wände die Videoinstallation Reanimation. Sie ging aus einer Performance hervor, die 2010 einmalig von Jonas aufgeführt wurde. Als Videoarbeit war sie 2012 erstmals auf der 13. Documenta zu sehen. [5] Während die Umwelt in Wind eine natürliche war, ist sie in Reanimation in erster Linie künstlich, genauer handelt es sich hier um ein mediales Ökosystem. Letzteres holt die Besucher*innen explizit aus ihrer Rolle als passive Betrachter*innen heraus und verwickelt sie in eine (medien)ökologische Performance.

Von außen betrachtet bietet die vielschichtige Installation einen verlockenden Anblick. Vier Shōji, traditionelle japanische Raumteiler, stehen einander gegenüber und grenzen ein Inneres vom Äußeren ab. Irgendwo aus dem Inneren streuen dutzende Kristallkugeln Lichtflecken über Boden und Wände der dunklen Ausstellungshalle. Samische Gesänge und mystische Industrial-Klangeffekte wechseln einander ab. Die mit Papier bespannten Raumteiler werden mit Videos bespielt und können beidseitig betrachtet werden. Ein Pavillongestell trägt Punktstrahler, Lautsprecher und Projektoren. Treten die Besucher*innen dann zwischen zwei Shōji hindurch, durchschreiten sie die durchlässige Grenze des Ökosystems von Reanimation und werden (unfreiwillig) Teil einer Performance. Denn sie finden sich zwangsläufig in einem der Lichtkegel wieder, werfen ihren Schatten auf eine Projektionsfläche und erscheinen (als Körper und Abbild) im Sichtfeld von anderen, die bereits auf der Bank in der Mitte der Raumsituation Platz genommen haben. Es kommt bei Reanimation also zu einer Rollenaufteilung zwischen Besucher*innen, die sich innerhalb der Installation befinden und deren Blick von einem Videobild zum nächsten wandert, und anderen, die hinzutreten und so das Bild der Installation verändern. Anders als im Kino, wo das Betreten des Lichtkegels eine eindeutige Störung bedeutet, bindet der Inhalt von Jonas’ Videos die Aufmerksamkeit hier nicht an eine einzige Fläche. Das Eintreten von leibhaftigen Menschen in die rhapsodische Szenerie der Installation führt zu ständigen Mutationen.

Dieses produktive Störelement legt nahe, Jonas’ Kunst im Licht von Donna Haraways Cyborgs zu betrachten – ökofeministischer Figuren, die die eingeübten Grenzen zwischen Mensch, Tier, Maschine, Ding und Umwelt unterwandern. Sie ersetzen starre Identitätskonstruktionen durch so überraschende wie unzulässige Verflechtungen: „[…] cyborg politics insists on noise and advocates pollution, rejoicing in the illegitimate fusions of animal and machine.“ [6] Haraway betont den Aspekt der Störung, weil im Konzept des Cyborgs gemeinhin bedrohliche Kontrollszenarien mitschwingen. Kybernetische Regulierungseffekte bedeuten für sie aber nicht nur systemische Eingliederung, sondern bergen in ihrer Spontaneität und Selbsttätigkeit eine emanzipatorische Chance. Haraways Cyborg-Komponenten gehen niemals restlos in der Verkoppelung auf; stattdessen ist jeder Zusammenschluss lediglich eine partielle und unvollständige Übersetzung. [7] Zur Bezeichnung der heterogenen Komponenten – seien sie nun technischen, physiologischen oder atmosphärischen Ursprungs – greift Haraway zu dem Begriff Critter. Wörtlich übersetzt bezeichnet dieser Kriechtiere oder, in abfälliger Rede, Viecher. [8] Es sind störende Nebensächlichkeiten, die plötzlich in symbiotische und sympoetische Relationen zueinander treten und sich zu einem Cyborg, einer überraschenden Grenzüberschreitung, verselbstständigen können.

Solche Critter scheinen mir vielerorts in Jonas’ Kunst am Werk zu sein. In Wind beispielsweise in Gestalt des Windes. Jonas und ihre Co-Performer*innen hätten ihn meiden und die Filmaufnahme auf einen anderen Tag verschieben können. Stattdessen improvisierten sie. Und in Reanimation kann das Eintreten von Besucher*innen einerseits als störend empfunden werden, andererseits aber lässt jedes Eintreten die Membran der Installation affektiv spürbar werden und führt das Ganze einer neuen Konfiguration zu: Die Schatten der Besucher*innen mischen sich ins Video, sodass sie von der Außenseite der Shōji-Wände betrachtet zu Bildelementen werden. In Jonas’ ökologischen Performances treten einzelne Faktoren in spontane Wechselbeziehungen voll eigenartiger Brüche. Als Performer*innen treten hier nicht menschliche Individuen auf, sondern vielmehr Nebensächlichkeiten wie Schatten, Spiegelungen, Alltagsgesten, Wind, Kleidung, Tiere, Bewegungsmuster. Ihre dynamischen Zusammenschlüsse unterlaufen den kategorischen Unterschied zwischen Natur und Technik und verbinden Ökologie und Medienökologie.

Wind und Reanimation bilden den konzeptuellen und architektonischen Mittelpunkt der Ausstellung und verdeutlichen den Kurator*innen zufolge die werkübergreifende Auseinandersetzung der Künstlerin mit dem Thema Ökologie. Mit Blick auf die performative Qualität von Jonas’ Kunst verwenden die Kurator*innen den Begriff des Rituals. [9] Das erscheint insofern sinnvoll, als Körper und Dinge bei Jonas häufig in formalisierte, gesellschaftlich codierte Bewegungen versetzt werden. Allerdings erfasst der Begriff des Rituals kaum das Aufbrechen derselbigen Muster und die Neusortierung von Zugehörigkeiten. Für diesen transformatorischen Aspekt scheint mir der Begriff der ökofeministischen Performance im Sinn Donna Haraways besser geeignet zu sein.

„Joan Jonas“, Haus der Kunst, München, 9. September 2022 bis 26. Februar 2023.

Simon Lindner promoviert im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Aus rechtlichen Gründen können die Bilder, die diesen Text zum Zeitpunkt der Veröffentlichung begleitet haben, nicht mehr gezeigt werden.

Anmerkungen

[1]Vgl. Jörg Heiser, „Männerbünde im Haus der Kunst“, in: Süddeutsche Zeitung, 2.1.2019.
[2]Laut Pressesprecherin des Haus der Kunst liegen die Besucher*innenzahlen der drei Ausstellungen in derselben Größenordnung.
[3]Zuletzt Alex Zivkovic, „Joan Jonas’s Ecological Portraits“, in: Afterimage, 49, 1, 2022, S. 63–87.
[4]Jonas bezeichnet ihre Arbeiten als „stage sets“, weil ihre Installationen meistens aus Performances hervorgehen. In die andere Richtung können die Körper der Besucher*innen wieder eine Performance-Dimension in die Installationen hineintragen. Siehe „From the Imagination to the Real (2017), Gespräch zwischen Joan Jonas, Andrea Lissoni, Julienne Lorz und João Ribas“, in: Joan Jonas, Ausst.-Kat., London/München/Serralves, München, 2018, S. 234–270, hier: S. 237.
[5]Jonas war zuvor auf den Documenten 5 (1972), 6 (1977), 7 (1982), 8 (1987) und 11 (2002) zu sehen. Ihre erste große Retrospektive fand 1994 im Amsterdamer Stedelijk Museum statt. 2009 nahm sie erstmals an der Venedig Biennale teil und bespielte dort 2015 den US-Pavillon.
[6]Donna Haraway, „A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century“, in: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991, S. 149–181, hier: S. 176.
[7]„[…] a cyborg world might be about lived social and bodily realities in which people are not afraid of their joint kinship with animals and machines, not afraid of permanently partial identities and contradictory standpoints.“ Donna Haraway, „A Cyborg Manifesto“, S. 154. „Like all offspring of colonizing and imperial histories, I – we – have to relearn how to conjugate worlds with partial connections and not universals and particulars.“ Donna Haraway, Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, Durham/London 2016, S. 13.
[8]„[…] if you see such a semiotic barnacle, scrape it off.“ Donna Haraway, Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, Durham/London 2016, S. 169, Anm. 1.
[9]Vgl. Pressetext zur Ausstellung.