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Spielerische Unaufgeregtheiten Rainer Bellenbaum über Filme der Viennale 2019

Pedro Costa, „Vitalina Varela“, 2019, Filmstill

Pedro Costa, „Vitalina Varela“, 2019, Filmstill

Von Ende Oktober bis Anfang November 2019 fand das Wiener Filmfestival, die „Viennale“, statt. Im Gegensatz zu den grellen Bildabfolgen schnellproduzierter Netflixserien, bot das Festival einen ruhigeren Ansatz innovativer Erzählformen von internationalen Regisseur*innen. Rainer Bellenbaum analysiert diese erzählerische Unaufgeregtheit, die der Internetkonkurrenz abhanden gekommen zu sein scheint, bzw. die das Kino als Ort weiterhin unabdingbar macht.

Deadpan, Stoneface oder performativer Dokumentarfilm – Kinofiguren haben unterschiedliche Gründe für ein minimalistisches Mienenspiel. Längst sind es nicht mehr bloß die turbulenten Missgeschicke in Stummfilmkomödien, denen Buster Keaton mit trockenem Gesichtsausdruck trotzt. Und auch die Abgebrühtheit eines Humphrey Bogart oder die laszive Coolness einer Lauren Bacall entsprechen nicht mehr den aktuellen Beweggründen für eine zurückgenommene Mimik. Konjunktur hat indes das Spiel mit der Unaufgeregtheit; derzeit in den Varianten des aus unmittelbarer Beobachtung und Performance zusammengesetzten dokufiktionalen Films. Die dabei wiederkehrenden Figurenkonzepte bewegen sich zwischen ethnologischem Blickwinkel und epischem Rollenmodell. Wie facettenreich die daraus resultierenden Spielarten sind, lässt sich gut am Programm des Wiener Filmfestivals „Viennale“ ablesen, das neuerdings keinen Rangunterschied mehr macht zwischen den traditionellen Gattungen von Spiel- und Dokumentarfilm und ihren gegenseitigen Entgrenzungen. Die hier zutage tretende Vielfalt an bildlichen und narrativen Bedeutungen des Inexpressiven verblüfft, zumal in einer Zeit, deren mediale Praktiken weitgehend vom Modus erhitzter Erregungen und kalkulierter Affektionen gekennzeichnet sind. Zu fragen ist insofern nicht nur, an wen oder was sich die unaufgeregte Miene richtet, sondern auch nach ihrer Eignung, dem Gestus der Empörung, dem Marktgeschrei oder Maulheldentum Paroli zu bieten.

Dabei ist Empörung durchaus ein Motiv, dass in Pedro Costas jüngstem Film Vitalina Varela (2019) subtil anklingt. Die Titelfigur trifft mit dem Flugzeug von den Kapverdischen Inseln in Lissabon ein, drei Tage zu spät für das Begräbnis ihres Ehemannes. Vor 40 Jahren war dieser aus der ehemaligen portugiesischen Kolonie geflohen, um im Land der Kolonisator*innen nach Arbeit zu suchen. Seitdem hatte Vitalina vergeblich gehofft, ihren Mann wiederzusehen. Ihre verspätete Begegnung mit seinem europäischen Exil, mit den armseligen Lebensumständen seiner resignierten hiesigen Freunde sowie die von ihm hinterlassene Bruchbude erschüttern Vitalina umso mehr, als sie ihrerseits inzwischen in der afrikanischen Heimat ein stattliches Haus fertigstellte. In elegischem Flüsterton trägt die Protagonistin ihre Klagen vor, was sie sieht, erfährt; gemessenen Schrittes tritt sie immer wieder aus dunklen Schatten in schmale Lichtkegel. Wenngleich vereinzelte Emotionen dem Film kurze Momente des Dramatischen verleihen, übertönen diese doch niemals auch dank der an Gestaltungsweisen des Chiaroscuro erinnernden Lichtfindungen den epischen Duktus des Films. Abgeklärt, mit nahezu priesterlichem Ernst folgen die gecasteten kapverdischen Einwander*innen Costas inzwischen mehrfach erprobter Reflexion über die prekären Bedingungen (post-)kolonialer Immigration.

Viel nüchterner dagegen erscheint Li (Li Chuan) als Arbeitspendler in From Tomorrow on, I will (2019). Von vornherein sind es die Vereinzelung und die soziale Isolation, die ihm jeden Gefühlsüberschwang ausgetrieben haben. Seinen Job als Nachtwächter in einem Beijinger Bürohaus verrichtet Li genauso einsam wie seine Besorgungen in der von neoliberalem Gesellschaftswandel beherrschten chinesischen Megacity. Deren moderne Fassaden und die großen Plakate mit den für Li unerreichbaren Schöner-Wohnen-Versprechungen haben sein Gesicht erstarren lassen. Er selbst kann sich nur halbtags eine dunkle Unterkunft in einem maroden Haus leisten. Kommt er von seiner Nachtschicht zu früh nach Hause, fühlen sich seine wechselnden Mitbewohner*innen gestört. Reden sie mit ihm, dann ohne Blickkontakt. Dass Li sich ein neues Hemd kaufen kann, eröffnet ihm kaum Zugang zum Gesellschaftsleben; und doch lässt die heimliche Freude über ein neues Kleidungsstück ihn bescheiden weiterleben, wie auch die Ruhe, die er zwischen Sonne und Schatten in einem Park findet. Das unterscheidet Li von dem chinesischen Dichter Hai Zi [1] , dem die Autoren des Films, Ivan Marković und Wu Linfeng, ihren Titel verdanken. Zi hatte sich mit seinem Gedicht Haus und Garten an einem Strand poetisch ironisch für ein „Morgen“ aufgehoben, von dem er sich selbst durch Freitod auszuschließen entschied. Hingegen ist Li im Film kein tragischer Held. Genauso wenig adressiert er einen Humor à la Buster Keaton. Eher reflektiert Lis Haltung vom Dunkeln aus: einerseits gleichmütig dem glänzenden „neuen Gesicht Chinas“ entgegenzusehen und zu überleben, andererseits unsere eigene physische Kinosituation beim Anschauen dieses so melancholisch wie respektvoll fotografierten Films. Auf nicht unähnliche Weise schauend und zuhörend, verkörpern die Mitwirkenenden in Eloy Encisos Film Longa Noite (2019) ausgewählte literarische Dialoge und briefliche Reflexionen über den Spanischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre. Dabei halten die Sprechenden durchaus Abstand von den ihnen zugedachten Rollen. Encisos Schauspielführung folgt jener Methode, wie sie vor allem von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet für das Kino entwickelt wurde: Anstatt die Bedeutungen überlieferter Zeugnisse psychologisch zu rekonstruieren, sprechen die im Film Auftretenden, als transportierten sie ein über ihre Vorstellungen hinausreichendes Textmaterial. So verkörpern die Mitwirkenden auch in Longa Noite das Gesagte nur ansatzweise; selten steigern sie sich mimisch darin hinein; kaum runden sie es durch eine Geste ab. Hebt eine Akteurin doch einmal die Stimme wie zum Zorn an, so wirkt dies wie auf Probe gezeigt, schon kurz darauf hält die Betreffende wieder inne, bereit, ihren Ton zu wechseln oder zu schweigen. [2] Und wenn die Darstellerin einer Witwe den Wunsch, in Frieden zu leben, „egal welche Partei an der Macht sei“ [3] , plötzlich vom Blatt abliest, gewinnt diese Aussage somit ein über das Einzelschicksal hinausreichendes Deutungspotenzial. Zumal an geschichtsüberspannenden Schauplätzen sorgfältig ins Bild gesetzt, bewahrt Longa Noite die in ihm überlieferten Erinnerungen an Bürgerkrieg und Franco-Diktatur vor kurzschlüssiger Veranschaulichung und Interpretation.

Eloy Enciso, „Longa noite“, 2019, Filmstill

Eloy Enciso, „Longa noite“, 2019, Filmstill

Obgleich das probierende und distanzierende Sprechen nicht wesentlich auf Humor abzielt, erinnern doch einzelne Aspekte an jene komische Unaufgeregtheit, wie sie Buster Keaton zum Markenzeichen seiner Performance gemacht hat. In der von ihm vorgeführten rechtschaffenden, zwar resignativen, doch zugleich von Überlebenshoffnung erfüllten Handlungsweise erkennt der Philosoph Stanley Cavell, in Anlehnung an Martin Heideggers Daseins-Konzeption, eine erhellende Würdigung für die sich als nicht selbstverständlich (z. B. disfunktional) meldenden Phänomene der Welt. Keatons Darstellung akzeptiere gleichsam die Verdammnis, „to project, to inhabit, a world that goes essentially beyond the delivery of our senses“ [4] . So betrachtet, lässt sich Keatons Stummfilmkomik des in seinem Scheitern Unverwüstlichen auch auf die Sprechakte in Encisos Longa Noite beziehen. [5] Weder teilt dieses Sprechen und Zeigen einseitig die Ideologie einer Partei, noch sucht es die Provokation im extremistischen Widerspruch. Vielmehr vermag der sich absichtslos „meldende“ Körper einer heute weitgehend auf Identifizierung angelegten Diskursform fühlbar entgegenzuwirken. Es ist kaum Zufall, dass die Ausdruckspassivität gerade dort vorkommt, wo die üblichen Grenzen zwischen Fiktion und Dokument durchlässig geworden sind; hintertreiben diese Mischformen doch per se eine von Identifikationsansprüchen geleitete Inszenierung.

Dass solches Mittel der Ausdruckspassivität inzwischen in sehr unterschiedlichen Genrekonstellationen und Produktionsformaten zutage tritt – auch das war in Wien zu erkennen, wenngleich die verschiedenen Beispiele in unterschiedlichem Maße überzeugten. So driftet Elia Suleimans It Must Be Heaven (2019) zu sehr ins Selbstgefällige ab, wenn der Regisseur sich in den hier zahlreich aneinandergereihten skurrilen, teils konfliktuellen Begegnungen immer wieder selbst als gleichmütig defensiven Beobachter inszeniert. Deutlich interessanter ist Angela Schanelecs fragmentarischer Film Ich war zu Hause, aber … (2019). Darin sind die melodramatisch erzählten Aufregungen einer im Mittelpunkt stehenden alleinerziehenden Mutter (Maren Eggert) und die Proben eines Schülertheaters spannend aufeinander bezogen. Wenn die Kinder Zeilen aus Shakespears Hamlet aufsagen, ohne sich in die Rollen dieser Tragödie wirklich hineinsteigern zu können, absorbiert ihr nüchterner Vortrag nicht zuletzt auch die Dominanz jenes Aufregungsspiels der Hauptfigur.

Doch ob die inexpressive Darstellungsweise in den Filmen darauf abzielt, den ihr begegnenden Erregungen die Wucht und Übersteuerung zu nehmen; oder ob eine passive Performance ein möglichst offenes Bedeutungspotenzial des jeweils Gesagten und Gezeigten bewahren will – gemeinsam ist sämtlichen hier aufgeführten Positionen die Einsicht, dass es dem über konventionelle Identifikationsmuster hinausschauenden Kino nicht wesentlich an der emphatischen Beantwortung von Wer-Was-Wann-Fragen gelegen sein kann. Insbesondere ein Kino, das die expressive Veranschaulichung solcher Informationsdramaturgie hintertreibt, ist in der Lage, auch der heute üblichen Instrumentalisierung von Affekten entgegenzuwirken.

Viennale in Wien, 24. Oktober bis 6. November 2019.

Anmerkungen

[1]Das Gedicht Facing the Sea, with Spring Blossom, das der chinesische Dichter Hai Zi am 25. Januar 1989, zwei Monate bevor er sich das Leben nahm, geschrieben hat, beginnt mit den Worten „From tomorrow on, I will be a happy person“.
[2]Verónica Quintela bei einem Dialog aus Guillermo Tell tiene los ojos tristes (Wilhelm Tell mit den traurigen Augen), 1955, von Alfonso Sastre.
[3]Celsa Araújo bei einem Dialog aus No (1952) von Max Aub.
[4]Stanley Cavell, „What Becomes of Things on Film“, in: Philosophy and Literature, 2, 1978, S. 249257.
[5]Auf ähnliche Weise trifft das für die Filme Straub/Huillets sowie für die fiktionalisierten Dokumentarfilme Pedro Costas zu.