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"Vor emanzipativen Utopien steht ein Schild: Eintritt für Tiere verboten" Ute Kalender und Aljoscha Weskott im Gespräch mit Fahim Amir über sein Buch "Schwein und Zeit"

In unserer Buchrezensionsreihe "Rotation" führen die Kulturwissenschaftler*innen Ute Kalender und Aljoscha Weskott ein Gespräch mit dem Autor Fahim Amir über sein Buch "Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte" (2018). Darin rekonstruiert Amir eine marxistische Geschichte der Tiere als revoltierende Akteure sowohl in Zeiten der Industrialisierung als auch der Populärkultur.

Ute Kalender/Aljoscha Weskott: Fahim Amir, Sie sind ein Experiment eingegangen, was gelungen ist, wie die Resonanz ihres Buches und auch die Preise – Sie erhielten u.a. den Karl Marx-Preis 2018 – verdeutlichen. Ihr Experiment besteht darin, den Status des Tieres neu zu definieren. Wie lässt sich das Tier im marxistischen Denken neu verorten? Was heißt es den Marxismus upzudaten, wie Sie schreiben? Und welche Rolle spielt dabei Donna Haraway in Ihrer Einbeziehung nicht-menschlicher Akteure?

Fahim Amir: Vor emanzipativen Utopien steht ein Schild: Eintritt für Tiere verboten. Dies gilt noch mehr für den Marxismus, der sich in der »Tier-Frage« nie von bürgerlich-liberaler Diskursbildung emanzipiert hat – wenn er dazu überhaupt etwas zu sagen hatte, das über naiv-verhegelte oder idealistisch-humanistische Plattitüden hinausging. Was Paul B. Preciado über den Feminismus sagt, gilt auch für die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung: Stimmen aus der Mitte dieser Bewegungen wurden zunächst marginalisiert und dann vergessen, um nun »schräg« zu erscheinen. Worum es in »Schwein und Zeit«[1] geht, ist keine Fortsetzung eines staatstragend gesinnten, sondern die Wiederbelebung eines ungezähmten und unberechenbaren Marxismus. Tiere spielen bei diesem Zombie-Marxismus eine besondere Rolle, weil sie uns zwingen, theoretisch, politisch und alltagskulturell Liebgewordenes neu zu reflektieren – wenn wir dies zulassen oder dazu gezwungen werden, denn Tiere sind für viele Menschen,und ökonomisch ohnehin, kein Nebenschauplatz. Nach meinem Verständnis sind Tiere Teil der lebendigen Arbeitskraft. Dieses lässt sich bis zu einem gewissen Grad dressieren oder auch verwildern. Ich erkunde letztere Gefilde. Donna Haraway ist für mich eine Gigantin und neben Marx seit zwei Jahrzehnten meine wichtigste intellektuelle Sparring-Partnerin. Obwohl ich sie in »Schwein und Zeit« nur ein einziges Mal zitiere, atmet jede Seite die Morgenbrise ihres Denkens. Zugleich muss ich eingestehen, dass ich ihre Arbeiten methodisch und konzeptuell interessanter finde als ihre mitunter erschreckend rückschrittlichen Schlussfolgerungen – für Tiere und Menschen.

UK/AW: Sie haben in Ihrem Buch dem Tier einen wichtigen Status in der Entwicklung fordistischer Produktionsweisen, Produktionsbedingungen und architektonischer Infrastrukturen gegeben. Worin besteht dieser genau in der Entstehung der modernen Fabrik?

FA: Die moderne Fabrik hat eine vielgestaltige zoopolitische Vorgeschichte. Der Fabrik fordistischen Typs gingen bekanntermaßen die Zeitstudien von u.a. Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey voraus, die als eine Art Protokino die fotografische Analyse der Bewegungsabläufe von Tieren zum Gegenstand hatten. Bald kamen auch Arbeiter*innen und ihre Bewegungen an die Reihe, insbesondere aus Verwertungssicht „überflüssig“ erscheinenden Aspekten ihrer Tätigkeit wurde der Krieg erklärt. Bei Fredrick W. Taylor wurden solche Studien Teil des Scientific Managements und fordistischer Routinen industrieller Produktion. Während Muybridge & Ko Pferde und Vögel beim Galopp und Fliegen fotografierten, entwickelte sich parallel die US-Schlachthausindustrie als größte integrierte Industrie der Welt und war damit zugleich ein Labor der Moderne. Chicago als eigentlicher Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts wurde nach allen gewaltigen Modernisierungen von einem Innovationsfieber ergriffen: Wie konnte nun auch Tötung und Zerlegung der Tiere mechanisiert werden? Sigfried Giedions künstlerischer Forschung in seiner „Herrschaft der Mechanisierung“ (1948, dt. 1982) ist die Einsicht zu verdanken, dass – nachdem alle Mechanisierungsversuche an der Intelligenz, Sozialität und Körperlichkeit der Tiere gescheitert waren – die involvierte menschliche Arbeitskraft zur Maschine transformiert wurde: Im vertikalen Schlachthof wurde der Körper der Tiere gegen sie verwendet – ihr eigenes Gewicht zog sie durch alle nun kleinteilig zersplitterten Schritte von Tötung und Zerlegung entlang einer an der Decke befestigten Schiene. Henry Ford zeigte sich davon tief beeindruckt und machte die „disassembly line“ (dt. Zerlegeband) zur „assembly line“ (dt. Montage- bzw. Fließband); die Zersplitterung der Arbeit wurde beibehalten und weitergetrieben. Diese Prozesse werden durch operaistische Theoriebildung verständlich, die den Widerstand der lebendigen Arbeitskraft primär setzt und ihn als Katalysator wertverwertender Modernisierung versteht. Wenn der Operaismus Recht hat, dann bei Tieren: Ob erfolgreich oder nicht, Sabotage und Exodus stehen hier an der Tagesordnung – auch ohne polizeilich-juridisch oder besitzbürgerlich-kontraktualistisch anmutende Intentionalitäts- und Souveränitätsnormen erfüllen zu müssen.

„Apparatus for Catching and Suspending Hogs. 1882. ‘The hog M acts as a decoy for the others, and much time and labor are thus saved.’ (U.S. Patent 252,112, 10 January, 1882)“, aus „Mechanization Takes Command“ (Sigfried Giedion, 1948, auf dt.: „Herrschaft der Mechanisierung“, 1982)

„Apparatus for Catching and Suspending Hogs. 1882. ‘The hog M acts as a decoy for the others, and much time and labor are thus saved.’ (U.S. Patent 252,112, 10 January, 1882)“, aus „Mechanization Takes Command“ (Sigfried Giedion, 1948, auf dt.: „Herrschaft der Mechanisierung“, 1982)

UK/AW: Das Tier ist in Werbung, Film und Kunst, ja in der Populärkultur insgesamt als Fetisch omnipräsent – d.h. als geliebtes, gefürchtetes und gehasstes Objekt, häufig als anthropomorphes Wesen. Wie lässt sich die Magie des Tieres in seiner kinematografischen Performanz (Jurassic Park etc.) mit einem marxistischen Denken verbinden?

FA: Nicht nur Marx verwendete mit Vorliebe den mit industriellem Schlachtabfall assoziierten Begriff der »Gallerte« für abstrakte menschliche Arbeit – auch das Wort »Film« meinte ursprünglich den aus Schlachtabfällen gewonnenen Gelatinefilm als Träger lichtempfindlicher Substanzen. In vergleichbarer Weise stand der heutige Ausdruck für bildsynthetisches »Rendern« zunächst für Tierkörperverwertung. Eine, über medienarchäologische und materialästhetische Fragen hinausgehende Geschichte wäre noch zu schreiben, die der Nachbarschaft von Filmrolle, Fließband und Schlachthof-Technologien nachgeht und ergründet wie menschliche und nichtmenschliche Leben und Körper in die widersprüchliche Zirkulation fleischlicher, industrieller und symbolischer Währungen gesetzt wird. Ohne subtile Nuancen scheinen hingegen zeitgenössische Klassenpädagogiken auszukommen, wenn sie sich auf das Tierische richten, um die Menschen zu disziplinieren. In der deutschen Reality-Doku-Serie Die Haustier-Nanny beispielsweise besucht eine Expertin der Haustierhaltung Familien und ihre Haustiere, um zu »helfen«.

UK/AW: Das Tier in der Revolte basiert in Ihrer Abhandlung auf keinen Heldengeschichten: Die Ratten der Lüfte (Tauben) sind aber Verbündete in den politischen und sozialen Kämpfen. Auch die drogenkontaminierten Ratten in den Katakomben des Berghains sind in Ihrem Buch glückliche Wesen. Ist das eine Art poetischer Materialismus? Wie definieren Sie diese Widerständigkeit des Tieres genau? Und was sind „schmutzige Räume“ in diesem Zusammenhang?

FA: Diese Einschätzung nehme ich gern an und würde ergänzen: Der Materialismus war immer schon poetisch. Die Dialektik Marx´scher Provenienz beispielsweise war in ihrer begriffslogischen Darstellung eine besondere Form der strengen und zugleich wilden poetischen Ontologie. Zwischen der Widerständigkeit eines Tierknochens gegen seine Bearbeitung und dem ausgewachsenen Widerstand einer revolutionär gesinnten Organisation, die ihre Feuertaufen in zahlreichen historischen Konflikten bestanden hat, gibt es ein Kontinuum von Widerstandsformen. Tiere sind Teil davon, so ein wesentlicher Gedanke des Buches. Das bedeutet keine Gleichmachung mit Menschen, sondern die Herausarbeitung partieller Verbindungen. Die Taube hat hier für mich exemplarischen Charakter, ähnlich der Cyborgin bei Haraway. Spezifisch markiert die Spaltung in pigeon und dove, die il/legitime Bewegung im Raum. Die sorgsame Parzellierung der weder genetisch noch zoologisch unterscheidbaren zwei Taubenformen lässt das Wirken sozialer Technologien vermuten: Die weiße Taube des Friedens, der Sanftmut, der Monogamie und der Folgsamkeit gehört zu Staatsakten, Hochzeiten und Friedensbewegungen. Weiß bleibt die Taube jedoch nur durch permanente züchterische Intervention von menschlicher Seite. Mit der nicht-weißen Stadttaube ist hingegen kein Staat zu machen, ihr aggressiver Kot droht nationale Kulturdenkmäler zu zersetzen, und sie passt weder zu konventionellen Vorstellungen natürlich schöner Wildheit noch zu servil gedachter Nutztierexistenz. Trotzdem ist sie überall. Anstatt eines defizitorientierten Bildes von Tieren schlage ich vor, andere Ökologien stärker in den Blick zu nehmen, da gehören die extatischen Körper der Berghainkatakomben selbstverständlich dazu, auch wenn sie vielen liebgewonnenen Vorstellungen von Natürlichkeit zu widersprechen scheinen.

„Pigeon“ und „Dove“

„Pigeon“ und „Dove“

UK/AW: Könnten Sie noch einmal darauf eingehen, wie Sie die Differenz von Mensch und Tier denken? Wie unterscheidet sich Ihr Agencybegriff des Tieres von einem utilitaristischen?

FA: Was die Frage der Mensch-Tier-Differenz angeht, so würde mir kein Kriterium einfallen, das alle Menschen und Tiere einschließt oder ausschließt. Aus marxistischer Sicht würde ich abstrakt Klassendifferenzen zwischen Menschen stärker Gewichten als humanistische Universalismen. Auch die Rede vom „Tier“ verdeckt mehr als es beschreibt: Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Tieren (von Bakterien bis zu Blauwalen), wie diese Unterschiede zum Menschlichen stehen, harrt der Erforschung und Reflexion. Wir wissen eigentlich fast gar nichts über Tiere bzw. stehen an den Anfängen. Cord Riechelmann weist in diesem Kontext auf Foucaults Bemerkung aus einer seiner Vorlesungen hin [2] – seit der Antike galten Elefanten fast zweitausend Jahre als Vorbild für tugendhafte Familien. Erst seit wenigen Jahrzehnten wird erforscht, dass Elefanten in matriarchalen Verhältnissen leben, kindergartenähnliche Strukturen aufbauen, die männlichen Elefanten eigentlich nur zur Besamung auftauchen und danach fortgejagt werden, weil sie zu nichts zu gebrauchen sind. Das sei aber nicht weiter schlimm, weil sie groß sind, so Riechelmann. Ich kann dies hier zwar nicht konkret beurteilen, aber mir erscheint es einleuchtend, dass es Multituden von Differenzen zwischen Menschen und Tieren gibt. Diese könnten Ansatzpunkte für Solidarisierungen sein anstatt in technokratisch-paternalistischen Vorstellungen von Anwaltschaft zu verharren.

UK/AW: Fahim Amir, wir bedanken uns für das Gespräch.

Anmerkungen

[1]https://edition-nautilus.de/programm/schwein-und-zeit/
[2]https://soundcloud.com/user-299153345/streit-ums-politische-heinz-bude-im-gesprach-mit-cord-riechelmann

Fahim Amir ist Philosoph und Künstler aus Wien und lehrt experimentelle Theorie und Gestaltung an der Kunstuniversität Linz.

Ute Kalender ist Soziologin, Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin. Sie bereitet momentan ein Forschungsprojekt zu dekolonialen, xenofeministischen und queer-crip Perspektiven auf Digitalisierung und digitale Medien vor.

Aljoscha Weskott ist Kunst- und Kulturwissenschaftler. In seinem Post Doc-Projekt untersucht er das digitale Bild im Rahmen einer medienökologischen Theoriebildung.