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BOYKOTT UND ZENSUR VON ELKE KRASNY

Warum es von Interesse ist, gleichzeitig über Boykott und Zensur nachzudenken.
Warum es von Interesse ist, gleichzeitig über Boykott, Zensur und Staatsmacht nachzudenken.
Warum es von Interesse ist, gleichzeitig über Boykott, Zensur, Staatsmacht und Artikulationsfreiheit nachzudenken.
Warum es von Interesse ist, gleichzeitig über Boykott, Zensur, Staatsmacht, Artikulationsfreiheit und Öffentlichkeit nachzudenken.
Warum es von Interesse ist, gleichzeitig über Boykott, Zensur, Staatsmacht, Artikulationsfreiheit, Öffentlichkeit und Politik nachzudenken.
Warum es von Interesse ist, gleichzeitig über Boykott, Zensur, Staatsmacht, Artikulationsfreiheit, Öffentlichkeit, Politik und Kunst nachzudenken.

Allgemein ist ein Boykott als Rückzug aus Beziehungen definiert. Ein Boykott kann eine Maßnahme der Bestrafung sein. Wenn Staaten andere Staaten boykottieren, dann greifen Staaten zum Mittel des Boykotts als spezifische Form der Bestrafung, um Politik, Außenpolitik, Weltpolitik zu machen. Mit den Mitteln des Boykotts erfolgt die Einmischung von Staaten in andere Staaten. In den meisten Fällen wirkt sich die politische Strategie des Boykotts, die als gewaltfreie politische Vorgangsweise angesehen wird, im Bereich der Wirtschaft, im Bereich der Resourcenpolitiken , entscheidend und vehement auf die Lebensrealitäten derjenigen aus, deren Staaten boykottiert werden. Aus den Mitteln des Boykotts folgen Einschränkungen. Die Effekte dieser Einmischung und der aus diesen folgenden, oft materiellen Einschränkungen, auch des Lebensnotwendigen, stellen eine Form von Gewalttätigkeit dar; sie müssen von all jenen ausgestanden und überstanden werden, die im Territorium eines Staatsgebiets, das boykottiert wird, leben. Diejenigen, die die Wirkungen der Boykottmaßnahmen im Alltag, oft hautnah, zu spüren bekommen, sind die Bewohner*innen von Staaten. Der Boykott, der eine Staatsmaßnahme ist, der einen spezifischen Rückzug von bestimmten zwischenstaatlichen Beziehungen darstellt, wird auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen. Der Boykott trifft die, die über den Boykott nicht entscheiden können. Im Boykott gibt es keine Mitsprache. Ein Boykott kann eine Form des Protests sein. Wenn Intellektuelle, Künstler*innen oder Schriftsteller*innen zum Boykott aufrufen und sich von kulturellen Großereignissen distanzieren, ihre Beteiligung an diesen verweigern und sich von diesen zurückziehen, dann tun sie dies zumeist weniger als Form der Bestrafung, sondern vielmehr als Form des Aufzeigens und der Anklage mit anderen Mitteln, um gegen untragbare Zustände, gegen unerträgliche Gewaltverhältnisse, gegen die Ausbeutung von Ressourcen zu protestieren. Sehr oft tun sie dies, indem sie einem internationalen Festival oder einem globalen kulturellen Großevent wie einer Biennale die Teilnahme verweigern. Dies kann sowohl das physische Erscheinen betreffen als auch die Verweigerung, künstlerische Arbeiten aufzuführen oder auszustellen. Der Boykott als Form des Protests ist eine Verweigerung intellektueller, künstlerischer und kultureller Artikulationen. Der Boykott als selbstgewählte und selbstorganisierte kunstpolitische Protestform verweist darauf, wie Festivals und Biennalen auf die intellektuelle und künstlerische Arbeit angewiesen sind. Ohne Arbeiten kein Festival, ohne Arbeiten keine Biennale. Der Preis von Boykott als kunstpolitischer Protestform ist der Verzicht auf Artikulation durch das Aufführen oder Zeigen künstlerischer Arbeiten, um dadurch zu einer anderen Ebene der Artikulation zu gelangen, nämlich: die Ursachen zu artikulieren, die zur Verweigerung von Beteiligung und Mitwirkung führen. Der Boykott ist die Verweigerung, intellektuelle und künstlerische Arbeit aufzuführen, zu zeigen, zu veröffentlichen. Die künstlerische und intellektuelle Arbeit wird dem Publikum entzogen. Der Boykott trifft die, die über den Boykott nicht entscheiden können. Im Boykott gibt es keine Mitsprache.

Boykott – sowohl der politische Top-down-Boykott, der eine Staatsmaßnahme der Bestrafung in zwischenstaatlichen Beziehungen darstellt, als auch der kunstpolitische Bottom-up-Boykott, der durch die Maßnahme der Verweigerung der Teilnahme auf Grund von katastrophisch-gewaltförmigen politischen, ökonomischen oder menschenrechtlichen Verhältnissen nicht nur die Involviertheit in diese Verhältnisse verweigert, sondern diese gleichzeitig auch aufzeigt und spektakulär öffentlich sichtbar macht – beruht auf der Ökonomie der globalen Aufmerksamkeit. Boykott ist effektiv, wenn er medienintensiv kommuniziert wird. Boykott macht Bestrafung und Verweigerung so öffentlich wie nur möglich.

Boykott setzt auf die Mobilisierung von globaler öffentlicher Aufmerksamkeit. Boykott ist eine Form von medienwirksamer Beziehung zur Weltöffentlichkeit. Boykott ist beredt. Boykott ist laut.

Kann Boykott eine Form von Zensur darstellen?

Allgemein ist Zensur das Verbot, die Unterdrückung, die Verhinderung der Artikulation von spezifischen Inhalten und auch von spezifischen Formen der Darstellung von Inhalten. Zensur agiert mit den Argumenten der Moral, der Politik und zunehmend der öffentlichen Sicherheit. Die Ausübung von Zensur ist eine Form der Ausübung von Staatsmacht. Zeitgenössisch operiert nicht nur die Staatsmacht mit Organen der Zensur, sondern es operieren ebenso globale soziale Medienplattformen wie Facebook, die für die Aufgabe des Zensierens Moderatoren einsetzen.

Zensur ist eine Form der Beschränkung der Artikulationsfreiheit. Zensur ist die Verhinderung von Artikulation. Im Namen der Moral wird das, was die Moral gefährdet, zensuriert. Im Namen der Staatsmacht wird das, was die Staatsmacht gefährdet oder kritisiert, zensuriert.

Zensur zensuriert das, was nicht vor die Augen und in die Ohren der Öffentlichkeit gelangen soll. Das Zensurierte ist das Verschwundene. Das Zensurierte ist das, was nicht gesagt werden darf, was nicht gesagt worden sein wird. Das Zensurierte ist das, was nicht dargestellt werden darf, was nicht dargestellt worden sein wird. Das Zensurierte ist das, was zum Schweigen gebracht wird, was nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden darf.

Während der Boykott auf medienwirksame Öffentlichkeit setzt, um seine Strafmaßnahmen und Verweigerungsmaßnahmen mitzuteilen, zieht die Zensur es vor, im Hintergrund zu bleiben und – gestützt auf rechtliche Rahmenbedingungen und Gesetze – ihre Macht auszuüben. Zensur ist unsichtbar. Zensur ist leise.

Damit Boykott nicht zur Zensur wird, damit Aufrufe zum Boykott nicht zu Zensur führen, braucht es Zonen der Reflexion, Diskussion und Debatte, die – wiewohl dies paradox anmuten mag – sowohl boykottfrei als auch zensurfrei sind und bleiben. Nur dann, wenn es Medien gibt, die um Freiräume der kritischen, differenzierten und differenzierenden Reflexion kämpfen, die weder durch Boykott noch durch Zensur zu Akteur*innen des Untersagens und des Zum-Schweigen-Bringens werden, wird der Öffentlichkeit die Debatte nicht entzogen. Anti-Antisemitismus, Antirassismus, Antifremdenfeindlichkeit gemeinsam in Konfliktualität zu diskutieren, ist schmerzhaft und schwierig. Deshalb gilt es, für Medien einzustehen, die sich den Debatten nicht durch Boykott entziehen und die nicht auf die Verweigerung von Debatten setzen, sondern auf deren Provokation, deren Austragung und deren Fortführung. Gegen die Folgen des Zum-Schweigen-Gebracht-Werdens, das durch Boykott und Zensur, durch Boykott als Zensur oktroyiert und perpetuiert wird, zu denken, zu schreiben, zu argumentieren, zu agieren, das erfordert die Wendung zur Auseinandersetzung, die nicht den individuell verinnerlichten Konfliktlinien des Hassens, mit denen Staat gemacht wird, folgt. Während Boykott und Zensur bekannte, historisch eingeübte und mit Kalkül eingesetzte Verfahren sind, Gewalt und Unterdrückung auszuüben und damit jenen Gewaltlogiken, denen sie entspringen zu entsprechen, ist das Finden von Formen des Auseinandersetzens, die nicht auf dieses Kalkül setzen und versuchen, Gewaltlogiken hinter sich zu lassen, wesentlich weniger vertraut, historisch nicht eingeübt.

In ihrem Gespräch mit Isabelle Graw und Dirk von Lowtzow weist die feministische Rabbinerin Delphine Horvilleur darauf hin, dass wir heute „eine Verpflichtung haben, endlich diese Stimmen des Andersseins zu hören, die in unserer Gesellschaft jahrhundertelang unterdrückt wurden“. Zensur und Boykott sind schnell bereite Begriffe und Verfahren, Maßnahmen von Bestrafung und Unterdrückung auszuüben. Die Begriffe, die zu einem anderen Hören aufrufen, zu einem viel intensiveren Hören, die Gegen-Mittel zu Ansteckung und Ausbreitung von Boykott und Zensur, sind nicht geläufig. Sie sind nicht eingeübt, sie sind als Verfahren für Beziehungen zwischen Staaten und zwischen Menschen nicht gut angelegt. Horvilleur führt weiter aus, dass dafür gesorgt werden muss, dass die Stimmen, die nun endlich Ausdruck und Gehör finden, „nicht so gewaltsam monolithisch“ werden. Diese Forderung zur Differenziertheit wendet sich gegen den „Reinheitsdiskurs“, den wir in seinem Innersten durch Formen ausschließender und gewaltlogischer Zensur begreifen können. Diese Zukunftsarbeit des Sprechens, Hörens und Gehört-Werdens, ohne in Reinheitsdiktatur überzugehen, die eine Weiterführung von Boykott und Zensur mit den Mitteln der Politik des Ausschlusses von Differenzen auf allen zwischenmenschlichen Maßstäben und Organisationsformen ist, liegt vor uns. In diesem zukünftigen Sprechen, Hören, Gehört-Werden wird es um eine andere Ethik der Verantwortung gehen müssen. Denn Boykott und Zensur bringen auch die Verantwortung zum Schweigen, da man für sein Sprechen, seine Antworten gar keine Verantwortung übernehmen könnte, wenn diese Verantwortung immer schon durch das auferlegte Schweigen entzogen würde. Das Zum-Schweigen-Gebracht-Werden, das Zum-Schweigen-Gebracht-Worden-Sein, ist und war die Verurteilung dazu, nicht Verantwortung übernehmen zu können – für die eigene Stimme, die eigene Äußerung. Lernen zu können, diese Verantwortung zu übernehmen, ohne die Figuren von Boykott, Zensur und deren Eingeschriebensein in Formen dessen fortzuführen, was als Reinheitsdiktatur diagnostiziert wird, ist die Aufgabe. Horvilleur betont diese Verantwortung, für die es keine einfachen Rezepte gibt. Sie fragt, wie man jemandem beibringt, dass man Verantwortung trägt für das, was man tut und einem passiert. Sie betont, dass wir eine Möglichkeit finden müssen, die Idee der Verantwortung zu stärken. Boykott als Zensur ist das Gegenteil der Idee der Stärkung von Verantwortungen. Deshalb ist es von Interesse, gleichzeitig über Boykott, Zensur und die Entwicklung von Artikulationsfreiheit in Verantwortung nachzudenken und zu beginnen, die Einübung von Artikulationsfreiheit, für die Verantwortung übernommen und getragen wird, zu wagen.

Dr. Elke Krasny, Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien, forscht zu feministischen Care-Perspektiven und Fragen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit in Architektur, Kunst und Urbanismus.