Oh, du arme Utopie der gebrochenen Stimmen! Marietta Kesting über „Prekärotopia“ im Lenbachhaus, München
„Vom utopischen Versuch gemeinsam zu verändern. Ein prekäres Singspiel von Beate Engl, Leonie Felle und Franka Kaßner“ („Prekärotopia“ Programmheft)
Ein minimalistisches Set ist aufgebaut. Der Schriftzug „Prekärotopia“ aus nackten Glühbirnen heißt die Besucher*innen willkommen. Der Begriff des Prekären und des Prekariats hat seit 2004 durch Judith Butler (Precarious Life) eine Reaktualisierung erfahren und stand für eine Beschreibung gegenseitiger Abhängigkeiten, die Erfahrung ökonomischer Unsicherheit und des Ausgesetztseins. Jedoch ist der Zenit dieses Begriffs schon lange überschritten. Zwischen 2006 und 2009 schien kein Feuilletonartikel ohne ihn auszukommen. Zehn Jahre später kursiert der Begriff weiter in Kunst und Theorie, zuletzt insbesondere bei Isabell Lorey. Sie plädiert in Rückbezug auf Stefano Harney und Fred Moten (The Undercommons, 2013) für ein Unterbrechen des Gefüges von Prekarisierung und Verschuldung, wodurch das gemeinsame politische Handeln in der Gegenwart verhindert werde, weil alles auf eine vermeintlich bessere Zukunft ausgerichtet sei. In diesem Sinne ist die Diskussion des Begriffs „Prekariat“ zwar nicht neu, aber sie hat sich keineswegs erledigt. Im Kunstbau entsteht zunächst der Eindruck, einen armseligen Jahrmarkt zu betreten, aber dieser Eindruck bestätigt sich nicht, es tauchen keine im Berliner Bar 25-Stil zusammengezimmerte Büdchen auf, sondern viele leere Flächen. Ein paar schwarze Mikrofonständer bilden eine Gruppe mit beleuchteten Plastikweltkugeln, die aus einer verstaubten Schulbibliothek stammen könnten. Ein Kubusraum ist mit vergilbten Zetteln bedeckt wie mit einem Fell. Die Globen werden später als Diskobeleuchtung eingesetzt. In einer Ecke parkt ein überdimensionales Brathuhn-Mobil. Eine hölzerne Konstruktion sieht aus wie eine Mischung aus Bühne und Treppe und ist das dominante Objekt im Raum, das an die konstruktivistischen Skulpturen von Gustavs Klucis erinnert. Außerdem ragt eine rote geöffnete Hand in die Höhe. Alles ist reduziert und aufgeräumt. Das ändert sich während der Live-Aufführungen des Singspiels, wenn Zuschauer*innen auf dem Fußboden und den Klappstühlen sitzen. Es gibt in ihrer Genauigkeit unübertreffliche deutsche Bezeichnungen, die aber schon fast in Vergessenheit geraten sind – „Singspiel“ ist eine davon. Dabei handelt es sich um ein kleines Schauspiel mit eingestreuten Gesängen und selbstständigen Instrumentalsätzen, das sich im deutschen Sprachraum während des 18. Jahrhunderts aus der französischen Opéra-Comique – als bürgerliches Gegenstück zur großen Oper – entwickelte.
Und jetzt machen drei Bildhauerinnen ein Singspiel im April 2019 – warum? Schaffen sie eine soziale Skulptur? Beate Engl, Franka Kaßner und Leonie Felle, die als die Figuren Speaker, Trickster und Poupée auftreten, schrieben Texte und Musik, und auch die meisten Instrumente wurden von ihnen selbst eingespielt. Es gehört einige Chuzpe dazu, sowas auf die Beine zu stellen, zumal mit begrenzter Zeit und begrenzten Ressourcen. „,Prekärotopia‘ ist ein Antiquitätensystem“, stellen die Künstlerinnen selbst fest, schaffe jedoch eine eigene Ästhetik jenseits von Nostalgie zu behaupten. Ihr Projekt ist gleichzeitig absolut zeitgemäß und passt zu den vielerorts neu entstehenden kollektiven Praktiken, die sich häufig auch durch gemeinsames Singen präsentieren. Chöre erleben schon länger eine Renaissance, man denke an Formationen wie Schwabinggrad Ballett oder das Opernprojekt von Alice Creischer, Andreas Siekmann und Christian von Borries auf der Documenta 12; das Appeal von Chören scheint ungebrochen, und Chorszenen sind Teil aktueller Filme, Performances und Theaterstücke. Zusammen zu singen, das ist vielleicht gleichzeitig das Einfachste und Schwierigste, was man gemeinsam machen kann. Musik ist (fast) immer kollektiv, insbesondere jenseits der nicht westlichen klassischen Musikdarbietung mit Orchester und Star-Logik. Gemeinsam zu singen affiziert, ist ein Stück Selbstermächtigung und bildet eine Gruppe, nach der man sich im heutigen Zeitalter der totalen Individualisierung und Selbstverantwortung (anscheinend) wieder sehnt. Beate Engl äußerte, dass sie sonst nur in der Badewanne singe, wohingegen Franka Kaßner eine eigene Performancepraxis und Leonie Felle – als einzige der drei – mehr musikalische Erfahrung mitbringe. Die gesungenen Lieder nehmen stilistische und inhaltliche Anleihen bei Brecht, Weill und Eisler – von der Dreigroschenoper, deutschen Revuefilmen der 1930er Jahre und Esther Williams in den amerikanischen Aqua-Musicals der 1950er Jahre bis hin zu Hildegard Knef und der Neuen Deutschen Welle, die ihrerseits schon einiges dieses historischen Materials ausschlachtete. „Who pays the piper, call for the tune“ – die englischen und deutschen Texte sind verkürzte Aphorismen, verbinden Kapitalismuskritik mit linkem Demo-Sprechgesang, und obwohl sie oft klischierte Phrasen bilden, gehen sie darin nicht auf, sondern ironisieren. Ein grauer Gummiball hängt an einem Seil, der gleichzeitig eine Abrissbirne darstellen soll und die Fragilität von Gesang auf der Baustelle andeutet. Die Aufführung erstaunt und wirft viele Fragen auf, wie zum Beispiel: Sind drei Leute schon ein Chor? Ja, drei sind die kleinste mögliche Sozialität und Einheit der Gesellschaft. Erst ab drei Mitgliedern gilt man als Gruppe oder Bande. Gemeinsam zu sprechen und zu handeln und sich damit auch die (institutionelle Ausstellungs-)Bühne zu teilen – das wirkt gerade im Ego-Kunstbetrieb wie eine rebellische Geste, wo sonst häufig die Soloshows der Künstlerfürsten und das Prinzip einer gegen alle vorherrschen.
„Prekärotopia“ ist eine zutiefst intermediale Arbeit zwischen Filmset, Bühne, Reenactment/Probe, live und aufgezeichnet. An den Wänden des Kunstbaus laufen drei Videoprojektionen, in jeder ist eine der beteiligten Künstlerinnen die Hauptperson. Die Videos entstanden in Kollaboration mit der HFF München. Die Musik kommt teilweise vom Band, wohingegen die Künstlerinnen mit Ansteckmikros im Raum verteilt singen, während ihre projizierten Doubles im Hintergrund in Endlosschleife laufen. In einem der Videos legt Franka Kaßner, geschminkt als abgebrühter jokerähnlicher Trickster, gleichzeitig DJ und MC, ein Brathuhn auf einen Plattenspieler, das dann im Kreis rotiert. So wird nicht nur die Drehung des Huhns am Spieß umgekehrt – aus der Horizontalen in die Draufsicht –, sondern auch ein Kommentar zu kapitalistischer Massentierhaltung, zu Hühnerfabriken und vielleicht zu langweiliger Hitparadenmusik eingestreut. Im Laufe der einzelnen musikalischen Nummern kommt alles in Bewegung. Im mittleren Teil der Aufführung, in der spannendsten Szene, wird die Treppe auseinandergebaut, mehr noch: geradezu auseinandergerissen. Die Einzelteile werden dabei laut knallend als Percussioninstrumente genutzt. Der Trümmerhaufen deutet eine Zerstörung der Städte und des Alten an. Ein weiterer Höhepunkt ist Kaßners Fahrt im selbst gebauten Broilermobil über die Bühne. Dennoch fällt früher oder später auf, dass das ganze Spektakel nicht näher definiert, was verändert werden soll, und lediglich ein Stück auf das nächste folgt. Geste und Texte bewegen sich zwischen utopischer Hoffnung, Zynismus und einem Spiel mit Wortbausteinen. Ist dies also nur die Überführung einer entleerten politischen Geste in den Kunstkontext? Die Stimme zu erheben, laut zu werden, aber nicht zu schreien, sondern zu singen, ist eine künstlerische Strategie gegen Sprachlosigkeit, Verstummen und Effizienz sowie auch gegen eine bestimmte schlecht gelaunte linke Politikpraxis, der der Spaß abhandengekommen zu sein scheint. Die Zuschauer*innen erheitert das musikalische Programm; Partizipation oder Selbsterkenntnis wie bei anderen aktuellen Performances ist nicht erforderlich. Engl, Felle und Kaßner wollten die Bedingungen und Möglichkeiten einer gemeinschaftlichen künstlerischen Praxis aktualisieren und erproben. Ein Prozess, der nicht einfach war und auch nicht zu einer Angleichung oder Entindividualisierung, aber dennoch zu unerwarteten Ergebnissen und neuer Ausdrucksform führte. Ohne klare Message werden doch Signale gesendet. Vielleicht gibt es gegenwärtig deshalb auch anderswo die Wiederaufnahme von Gesang und Chor in unterschiedlichen Kunstsettings, wie zum Beispiel in Arbeiten von Chto Delat, in Michell Voltas performativer Praxis, dem von Constanze Ruhm initiierten Chor „Mala Sirena“ oder in Max Linz‘ neuem Film „Weitermachen Sanssouci“ sowie im Programm des deutschen Pavillons, der dieses Jahr von Natascha Sadr Haghighian bespielt wird. Einige der Lieder von „Prekärotopia“ sind so eingängig, dass sie sofort zu Ohrwürmern werden könnten. Vorstellbar ist, dass nun ein kleiner Teil der Münchner Bevölkerung etwa diese Zeilen vor sich hin trällert: Hey you! Listen to me There is no equality! The only system I can see, Is business and economy! Progress, growth and capital, Highspeed neoliberal! Power, money – can’t you see? Everywhere – hierarchy!
„Prekärotopia: Ein prekäres Singspiel von Beate Engl, Leonie Felle und Franka Kaßner“ im Kunstbau, Lenbachhaus, München, 31. März bis 22. April 2019.
Marietta Kesting arbeitet am cx centrum für interdisziplinäre Studien an der Akademie der Bildenden Künste in München und lebt in Berlin.
Ausstellungsansichten 1 und 2 von Leonie Felle.