ELEKTRISIERENDE VERBINDUNGEN Christina Irrgang über „Key Operators: Weben und Coding als Mittel feministischer Geschichtsschreibung“ im Kunstverein München
Schrille, rhythmische Geräusche eines Nadeldruckers erfüllen den Treppenaufgang des Kunstvereins München und erzeugen eine akustische Vibration. Auf gefaltetem Endlospapier, das der Drucker im Mezzanin ausgibt, ist ein algorithmusgeneriertes Poem von Alison Knowles (geb. 1933) zu lesen: „[…] A House of Glass / Among High Mountains / Existing in Darkness / Inhabited by Horses and Birds […] A House of Hair / In a Deserted Church / Using Candles / Inhabited By Indigenous People Wearing All Colors […] A House of Stone / By the Sea / Using Electricity / Inhabited By Various Collectors of All Types […].“ [1] Knowles’ Arbeit bildet den Auftakt der Gruppenausstellung „Key Operators: Weben und Coding als Mittel feministischer Geschichtsschreibung“. 1967 hatte die Fluxus-Künstlerin gemeinsam mit dem Komponisten James Tenney die Gedichtpartitur The House of Dust angelegt. Deren Basis bilden vier Listen aus zuvor notierten Satzfragmenten, die anhand von kurzen Beschreibungen zu Baumaterial, Umgebung, Beleuchtung und Bewohner*innen ein Haus skizzieren; die einzelnen Fragmente wurden dann mittels einer Programmiersprache kodiert und neu arrangiert. Kurze Zeit nach dem Entstehen ihrer ersten computergenerierten Gedichte plante Knowles, eines dieser Poeme in ein Gebäude zu übertragen, und entwickelte eine begehbare Skulptur, die ihr 1970 bis 1972 als „Transvironment“ – ein Ort, der sich aus situativen Komponenten und Aktionen als fluider Handlungsraum konstituiert – für performative Aktionen am California Institute of the Arts diente. [2]
Im Sinne eines solchen Transvironments ist auch die von Gloria Hasnay kuratierte Ausstellung zu verstehen, die anhand historischer und zeitgenössischer Werke Fäden spannt, um Praktiken des Webens und Codings in Hinblick auf Geschlecht, Arbeit und deren Geschichtsschreibung neu zu beleuchten. Hasnay hat in Zusammenarbeit mit Maurin Dietrich, Lucie Pia und Lea Vajda das Netz weit gespannt. So bringt „Key Operators“ Arbeiten von Elsi Giauque, Lotus L. Kang, Pati Hill, Katrin Mayer, Johannes Porsch, Iris Touliatou, Alison Knowles, dem Duo Michèle Graf und Selina Grüter, Marilou Schultz, Bea Schlingelhoff, Johanna Schütz-Wolff, Charlotte Johannesson, Beryl Korot, James Tilly Matthews und Johanna Gonschorek zusammen, ergänzt von einem Begleitprogramm mit Lynn Hershman Leeson, Claire L. Evans und Sadie Plant. Die vielfältigen Positionen dieser (Vor-)Denker*innen – im Sinne der*des „Key Operator“ als Schlüsselfigur oder zentraler Akteur*in – verweben sich im Kunstverein München inhaltlich-formal, linguistisch, metaphorisch, generationenübergreifend sowie über Landesgrenzen hinweg. Zudem bilden sie durch die kuratorische Setzung der Interims-Direktorin Hasnay einen Diskursraum, der die unsichtbar gesetzten Linien zwischen den Werken und Zeiten greifbar werden lässt. Eine zentrale Rolle im Strukturieren und Erfassen der Ausstellung kommt dem von Johannes Porsch (geb. 1970) entwickelten Display zu, das tragende Oberflächen, verwinkelte Nischen oder ganze Räume erzeugt, die Exponate entlang vereinzelter Stelen in den Raum hineintreten lässt oder sie innerhalb des Displaykörpers in Binnengefüge einbettet. So entstehen Sichtachsen, Ebenen oder unsichtbare Diagonalen, die Querverweise innerhalb der Ausstellung herstellen und zu einem assoziativen Lesen der Exponate über die konkrete räumliche Setzung hinweg einladen. Die Arbeiten von Pati Hill (1921–2014) etwa, die in den frühen 1970er Jahren (Büro-)Kopierer zur Erzeugung ihrer Bilder verwendete, zeigen die Vorder- und Rückseite einer Festplatte, auf die ihr Gedicht Electronic Plate (o. J.) Bezug nimmt. Hill beschreibt darin die Ästhetik von Linien: der hinterlassenen Wegespuren von Käfern in Baumrinden analog zum Erscheinungsbild von Festplatten, das von Verlaufsbahnen gekennzeichnet ist. Das Gedicht hängt in der Agglomeration der Display-Elemente zwar nicht so, dass es für eine Betrachterin, die vor Hills Copy Art steht, sichtbar wäre, doch sind die drei Arbeiten über eine von der Ausstellungsarchitektur verstärkte Querverbindung im Raum miteinander verbunden. Eine Korrelation in Bezug auf die Nähe zwischen Natur und Technik gehen die Werke ferner mit der Webarbeit Circuit Chip & Al Diné Weaving (2024) von Marilou Schultz (geb. 1954) ein, die für diese Ausstellung entstanden ist: Schultz’ Bildteppich, den die Künstlerin mit handgesponnen Garnen gefertigt hat, verbindet die Indigene Webtechnik und die Bildsprache der Navajo mit Schultz’ Kritik an der Ausbeutung ihrer Vorfahrinnen – den Navajo-Weberinnen, die aufgrund ihrer Fähigkeit zu präziser Arbeit zwischen 1965 und 1975 für das Unternehmen Fairchild Industries in New Mexico Computerchips hatten fertigen müssen.
Die Thematik der Unterdrückung kommt auch in den Bildteppichen von Johanna Schütz-Wolff (1896–1965) zum Ausdruck: Der großformatige Gobelin Der Tote (Fragment, 1930) mit der Darstellung einer Frau mit Katze, den Schütz-Wolff selbst zerstörte, da ihre Arbeit durch die Nationalsozialisten diffamiert worden war und woraufhin sie deren Gewalt eine eigene gewaltsame Geste entgegensetzte, rückt ihr selbstbestimmtes Schaffen in den Fokus. Die Figur der Betenden (1932) wiederum ist so gehängt, dass sie wie eine zeitliche Spiegelung auf eine Partie jener Wand blickt, auf der sie hier 1969 anlässlich einer Gedächtnisausstellung der Künstlerin schon einmal zu sehen war. Hier, wie auch anderswo in der Ausstellung, verbindet Hasnay vergangene Betrachtungs- und Rezeptionsmomente mit dem Jetzt, bringt sie in Revision, regt an zu einer kritischen Reflexion über die klassische Konnotation der Textilkunst als (kunstgewerblicher) „Frauenarbeit“. Vor allem aber stellt sie deren Entwicklung zu einer eigenständigen künstlerischen Ausdrucksform heraus, die sich im 20. Jahrhundert immer mehr dem Coding annäherte.
Die ausgebildete Weberin Charlotte Johannesson (geb. 1943) zum Beispiel, deren Arbeit Textil- und Computerkunst vereint, erkannte in den 1970er Jahren die Nähe zwischen ihren eigenen Vorzeichnungen und Pixeln, zwischen gewebter Struktur und Computergrafik und erlernte das Programmieren technischer Bilder autodidaktisch: ein Schritt der Selbstbefähigung, wie er sich auf ähnliche Weise für Beryl Korot (geb. 1945) auf dem Feld des Webens in Verbindung mit Malerei und Videokunst ergab. Mit Malereien auf handgewebter Leinwand wie Babel 2 (1980), in die Korot mit einem Faden eine Linienstruktur als Code in die gemalten Bildpartien hineinarbeitete, verzahnt sie Weben und Coding über eine Abstraktion der biblischen Babel-Erzählung zu einer autonomen und sich weiterentwickelnden Zeichensprache. Als Mitbegründerin und -herausgeberin der Fachzeitschrift Radical Software, von der in „Key Operators“ zwei reproduzierte Ausgaben einsehbar sind, setzte sich Korot neben ihrer künstlerischen Praxis aktiv für die Demokratisierung neuer Technologien ein.
Auf die Tragweite des Wandels, der im 19. Jahrhundert mit Joseph-Marie Jacquards von Lochkarten gesteuerten Webmaschinen einsetzte, verweisen die vereinzelt an den Wänden angebrachten Sabots – jene Schuhe, die Weber*innen noch an mechanischen Webstühlen trugen: Bea Schlingelhoffs (geb. 1971) Installation Sabotage or Trophy? (2024) greift den Protest gegen die industrielle Textilproduktion auf, den Arbeiter*innen einst durch das Werfen ihrer Schuhe in die Maschinen ausdrückten. Schlingelhoff thematisiert die technische Weiterentwicklung mit einhergehender Arbeitslosigkeit und sozialem Wandel in einer Geste, die sich durch die Diagonale des gesamten Kunstvereins spannt, und hebt einen Aspekt hervor, der für alle hier gezeigten Arbeiten grundlegend ist: So wurden Weben und Coding nicht bloß im Zuge der Digitalisierung durch die Programmierbarkeit des Webstuhls miteinander verkettet; beide Techniken sind Sprachen und werden als solche von kontinuierlicher Transformation konstituiert. Die Ausstellung kreist ein, welche kollektiven Möglichkeiten aus ihrer Verkettung resultieren oder noch daraus entstehen könnten.
Die Entwicklungen, die aus dem Neu- und Umschreiben von Codes hervorgehen, analysiert Katrin Mayer (geb. 1974) in ihrem 2020 begonnenen und seit 2022 als Onlineplattform realisierten Langzeitprojekt c0da, das feministische Schreibpraktiken und ihre einhergehende Geschichte des Programmierens beleuchtet. [3] Daraus abgeleitet kontextualisiert ihre für „Key Operators“ konzipierte Arbeit Mache für Dich Linihen… (2024) ausgehend von Rechenmaschinen und Textilfasern materielle und räumliche Bedingungen weiblichen Arbeitens. Auf die bereits im Mittelalter zu Rechentüchern verfilzten Pflanzenfasern der Eriophorum vaginatum zurückgreifend, die Mayer zu Bildflächen drapiert und durch grafische Wandzeichnungen und weiterführende Recherchematerialien ergänzt, beleuchtet die Arbeit einige substanzielle Grundlagen für weibliches Agieren in Verbindung mit Berechenbarkeit. Mayer stellt diese Grundlagen als Basisfaktor für eine in sich tragfähige Autonomie heraus, die überzeitliche Validität besitzt.
Es lässt sich viel Zeit verbringen in diesem transversalen Diskursraum, der von einer Struktur der Vernetzung getragen wird: Die im Kunstverein München verhandelten Aspekte von Kette, Schuss, Code und Skript verlinken sich zu einer Umgebung, die die Bedeutung immaterieller Verbindungen betont, um Aspekte von Geschlecht, Arbeit und vergeschlechtlichter Arbeit anders zu zeigen, als ihre bisherige Schreibung sie ausgibt.
„Key Operators: Weben und Coding als Mittel feministischer Geschichtsschreibung“, Kunstverein München, 7. September bis 24. November 2024.
Christina Irrgang ist promovierte Kunst- und Medienwissenschaftlerin und verfasst hauptberuflich als freie Autorin Texte über (zeitgenössische) Kunst.
Image credit: Courtesy die Künstler*innen und Kunstverein München e.V., Fotos Maximilian Geuter
ANMERKUNGEN
[1] | Vgl. Alison Knowles, The House of Dust Edition (1967), Kunstverein München, Installation, 2024. |
[2] | Alison Knowles’ Schlüsselwerk The House of Dust wurde 2021 in Wiesbaden als 3D-Druck repliziert. Im September 2024 eröffnete ihre umfangreiche Retrospektive im Museum Wiesbaden (bis 26. Januar 2025). |
[3] | Vgl. Felix Vogel, „Rewriting Codes,“, in Texte zur Kunst, August 2024. |