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IKONEN DER AUFSÄSSIGKEIT Sandra Neugärtner über Sibylle Bergemann in der Berlinischen Galerie

Sibylle Bergemann, Moskau, 1974

Sibylle Bergemann, Moskau, 1974

Bei der Auseinandersetzung mit Fotografie geht es immer wieder um die fließenden Übergänge dokumentarischer Ansätze zum Journalismus wie zum Formalismus. Die zunächst in der DDR bekannt gewordene und schließlich international anerkannte Fotografin Sybille Bergemann hat nicht nur innerhalb unterschiedlicher künstlerischer Strömungen stets eine eigene Position behauptet, sondern auch in sich wandelnden politischen Systemen. Die Kunsthistorikerin Sandra Neugärtner stellt in ihrer Besprechung der umfassenden Retrospektive Bergemanns in der Berlinischen Galerie die Bedeutung der dort ausgestellten Werkgruppen heraus.

„Jede Generation hat ihr historisches Grunderlebnis“, sagt Sophie Rois. Für ihre Generation sei das der Mauerfall gewesen: „Dass sich dieser Staat aufgelöst hat und alles ins Schwimmen kam.“ [1] An Sibylle Bergemann (1941–2010) ging der große Moment der Maueröffnung direkt vor dem Fenster ihrer Wohnung, schräg gegenüber dem Grenzübergang Friedrichstraße, unbeachtet vorbei; sie verbrachte den Abend in der Dunkelkammer. Mit dem außergewöhnlichen Werk der Berliner Fotografin, die zu den bekanntesten der deutschen Fotografiegeschichte gehört, beschäftigt sich die Berlinische Galerie in der Ausstellung „Sibylle Bergemann. Stadt Land Hund. Fotografien 1966–2010“. Auch für Bergemann war 1989/90 ein Wendepunkt, der die Bedingungen ihrer Arbeit von Grund auf veränderte. Sie wurde 1990 Mitbegründerin der Fotoagentur Ostkreuz, die sich nach dem Vorbild der genossenschaftlich geführten Fotoagentur Magnum organisierte – eine Überlebensstrategie, die sich bewährt hat. [2] Bergemann fand Anerkennung, verstand es, sich im internationalen Zeitschriftenmarkt zu behaupten, arbeitete nunmehr im Auftrag von Stern und Spiegel, Die Zeit, The New York Times Magazine und Geo und reiste für Reportagen bis in den Jemen oder nach Dakar.

Doch Bergemann gehört nicht nur zu einer anderen Generation als Rois, sie verbrachte die Jahre vor der Wiedervereinigung auf der anderen Seite der Mauer. 1989 blickte Bergemann auf 23 Berufsjahre als Fotografin in der DDR zurück. Während Rois beschreibt, wie sich mit der Wende alles neu formierte, wie es darum ging, den Moment zu erwischen, einen Punkt zu setzen, bevor alles wieder einrastet, [3] setzte Bergemann ihren Punkt bereits in den Jahren zuvor. Bergemann war Teil einer Künstler*innengeneration, die die Lücken im restriktiven DDR-Kulturbetrieb zu finden wusste, die den Traum von der Kunst und vom Leben in der selbst ernannten Freiheit lebte, die trotz der vielen, die ihr Glück woanders suchten, blieb. Zur Frage, wie sie die Wende bewältigte, drängt sich eine andere: Wie gelang es Bergemann, sich im repressiven System der DDR künstlerisch zu verwirklichen?

Sibylle Bergemann, Niederlande, 1986

Sibylle Bergemann, Niederlande, 1986

Beim Betreten der Ausstellung sehen die Besucher*innen als erstes eine Fotoserie mit Hunden, die Bergemann zwischen 1984 und 1986 in den USA und den Niederlanden aufgenommen hat. Ein weißer Mittelspitz schaut vom Beifahrersitz eines PKWs aus dem Fenster; ein Foxterrier streckt sich zu seinem Herrchen hoch, der im Joggingdress am Tresen eines inmitten von Dünen gestrandeten Imbisswagens verweilt. Wie bereits der Titel der Ausstellung signalisiert, macht dieser Einstieg unmissverständlich klar, dass wir in keine überpolitisierte und schon gar keine apologetische Schau geraten sind. Dies würde dem fotografischen Projekt von Bergemann auch nicht gerecht, das durch die Überschneidung der Mentalität des französischen Fotojournalismus eines Édouard Boubat und des poetisch-dokumentarischen Stils von Robert Frank geprägt war und sich von der Funktionsweise der Fotografie als kulturindustrielles, ideologisches Medium nicht vereinnahmen ließ. Zwar lassen sich bei Bergemann Bestrebungen nachweisen, wie sie innerhalb der gegebenen Strukturen Fuß zu fassen versuchte, wobei ihr die Objektivität ihrer Fotografie in die Karten spielte. Doch aus der sozialdokumentarischen Tradition des kritischen Realismus kommend, unterschied sie sich von den Vertreter*innen der realistischen Fotografie in der DDR, die die theoretisch geplante Lebenswirklichkeit geschönt präsentierten. Diese Fotograf*innen schöpften – nicht anders als Bergemann – aus dem faktografischen Machtpotenzial der Fotografie, wobei Objektivität als „Ausdruck einer subjektiven parteilichen Weltsicht des Fotografen“ auslegte wurde. [4] Die Hundeserie veranschaulicht die Ablehnung formalistischer Stilmittel durch Bergemann, etwa Komposition und Bildausschnitt, wie sie vergleichsweise die Hunde-Fotografien von Ilse Bing dominieren. Die Serie zeigt zugleich, welche Privilegien Bergemann in der DDR genoss. So wurden Reisen ins kapitalistische Ausland nur besonderen Personen auf Antrag hin gewährt, von denen Bergemann als Mitglied des Verbands Bildender Künstler in der DDR sehr viele stellte.

Sibylle Bergemann, Marisa und Liane, Sellin 1981

Sibylle Bergemann, Marisa und Liane, Sellin 1981

Neben essayistischen Reportagen, wie der berühmten Dokumentation der Errichtung des Marx-Engels-Denkmals (1975–1986), präsentiert die Ausstellung Stadtaufnahmen in Berlin, New York und Paris. Im Zentrum aber stehen Bergemanns Porträt- und Modefotografien. Seit Mitte der 1970er Jahre fotografierte Bergemann Frauen. Die oft zentralperspektivisch ausgerichteten Figuren blicken trotzig oder nach innen gewandt direkt in die Kamera, meist posieren sie einzeln in glanzloser urbaner Umgebung. „Die renitente Haltung [...] lässt nie nur eine einzige Deutung zu“, schreibt Susanne Altmann. „[Bergemann] bewegt sich über zarte assoziative Brücken vom Privaten ins Universelle, vom Selbstausdruck zur Systemkritik.“ [5] Neben diesen thematischen, mit „Unsichtbare Beobachterin“, „Moskau, Paris, New York“ oder „Frauen“ überschriebenen Kapiteln, gibt es noch solche, die chronologisch ausgerichtet sind.

Vier Kapitel nehmen die Lebens- und Arbeitsmittelpunkte von Bergemann und Arno Fischer, jenem berühmten Fotografen, von dem Bergemann 1966 das Fotografieren erlernte und der ihr Lebenspartner wurde, zum Ausgangspunkt. Dazu gehören unter anderem „Schiffbauerdamm 12, Berlin 1976–2004“ und „Schloss Hoppenrade, Brandenburg 1973–1979“. Hier erfährt der Besucher, wie Bergemann und Fischer parallel zu ihrer Wohnung in Berlin-Mitte für 37,40 Mark im Monat drei Zimmer in einem halb verfallenen Schloss mieteten und diesen Rückzugsort als Treffpunkt einer illustren Fotografie- und Kulturszene etablierten. Das Besondere: Ost und West verschmelzen an diesem Ort. Nicht anders in ihrer 160 Quadratmeter großen Altbauwohnung am Schiffbauerdamm, in der neben Christian Borchert, Ute und Werner Mahler, Thea und Roger Melis, auch internationale Fotograf*innen, wie Ellen Auerbach, Henri Cartier-Bresson, Robert Frank und Josef Koudelka, ein- und ausgingen. Diese Kapitel gewähren Einblicke in eine Kulturszene in der DDR, die mit den Erwartungen der Besucher*innen kollidieren dürften. Eine Fotografie von Ludwig Schirmer zeigt einen Morgen im Schloss in Hoppenrade – ein Nächtigungsarrangement mit Feldbetten inmitten großbürgerlichen Mobiliars. Die intimen Aufnahmen demonstrieren, wie es Bergemann und Fischer gelang, das eigene Leben in einen neuen Bezugsrahmen zu setzen; erzählen, wie sie in diesen privaten Räumen den infantilisierenden Einschnürungen durch die DDR entkamen und ihre Kreativität entfalteten. Laut Annette Simon brachte die Tatsache, dass die konsequente öffentliche Opposition ins Gefängnis führte oder haarscharf daran vorbei, verschiedene Verhaltensweisen hervor. „Eine der am meisten verbreiteten war, die Gesetze des Staates mit klammheimlicher Freude hintenrum außer Kraft zu setzen oder zu umgehen.“ [6]

Sibylle Bergemann, Katharina Thalbach, Berlin 1974

Sibylle Bergemann, Katharina Thalbach, Berlin 1974

Die Fotografien aus Hoppenrade zeigen neben Angelica Domröse Katharina Thalbach. Mit legendären Mode-und Porträtaufnahmen der jungen Schauspielerin begann 1974 Bergemanns Laufbahn bei der Sibylle, dem wichtigsten Mode- und Lifestyle-Magazin der DDR. Außer den Veröffentlichungen in „etwas freisinnigeren“ Zeitschriften der DDR – neben Sibylle gehörten dazu Das Magazin und Sonntag – konnte Bergemann ihre Arbeit bei der IX. und X. Kunstausstellung der DDR in Dresden präsentieren (1982/83 und 1987/88), wo der Fotografie erstmals ein separater Ausstellungsbereich eingeräumt wurde. Mit der aktiven Zuwendung der Berlinischen Galerie zum Kunstgeschehen in der DDR richtete sich das Interesse von Ulrich Domröse, dem langjährigen Leiter der Fotografischen Sammlung, auf diesen Bereich, den er „künstlerisch-ambitionierte Photographie“ nannte. [7] Bereits 1992 zeigte die Berlinische Galerie „Nichts ist so einfach wie es scheint. Ostdeutsche Photographie 1945–1989“ und konzentrierte sich innerhalb der Eingleisigkeit erzählerischer Fotografie in der DDR – ein Ergebnis des völligen Fehlens ganzer Stilrichtungen jenseits des Realismus – auf Positionen, die der Verklärung von Wirklichkeit widerstanden. [8] Vertreten war auch Bergemann, von der erste Arbeiten 1990 in den Museumsbestand aufgenommen wurden. Auch in der Ausstellung „Die Geschlossene Gesellschaft. Künstlerische Fotografie in der DDR“ vor knapp zehn Jahren, die 35 Autor*innen vorstellte, war Bergemann mit zehn Fotografien präsent.

Das Besondere der aktuellen Ausstellung, die über 200 Arbeiten der Künstlerin zeigt, besteht darin, dass erstmalig auch ausgewählte Motive des Frühwerks zu sehen sind, darunter 30 bisher unveröffentlichte Fotografien. An der Konzeption beteiligt waren Bergemanns Tochter Frieda von Wild sowie deren Tochter Lily von Wild, die zusammen mit der Galerie Loock den fotografischen Nachlass verwalten. Kuratorin Reich fungierte, bis sie 2020 an die Berlinische Galerie wechselte, als Direktorin bei Loock, was die enge Zusammenarbeit für die aktuelle Ausstellung erklärt. Bergemanns Arbeit ist in ihrer Komplexität zugänglich – ohne das Politische auszuklammern, aber auch ohne es überzustrapazieren. Es entspricht Bergemann, für die das Abschotten vor dem politischen Ereignis – in der Dunkelkammer, wenn nicht im Medium selbst – symptomatisch war. Reich und ihr Team erzählen von den (Un-)Möglichkeitsbedingungen des Davor und Danach. Viele zerbrachen an dem Danach. Nicht Bergemann. 20 Jahre nach dem Mauerfall konstatierte sie: „Vielleicht haben sich zuweilen die Themen und Techniken gewandelt. Aber mein Blick auf die Dinge ist immer gleich geblieben.“ [9] In dieser Aussage verbirgt sich ihre Antwort auf die oft gestellte Frage, in welcher spezifischen Weise sie sich der Realität gestellt hat – jene Frage, die auf die komplizierten Verflechtungen des Mediums mit dem ideologischen Bereich abstellt.

„Sibylle Bergemann. Stadt Land Hund. Fotografien 1966–2010“, Berlinische Galerie, 24. Juni bis 10. Oktober 2022.

Sandra Neugärtner ist Kunsthistorikerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg.

Image credits: all © Estate Sibylle Bergemann/OSTKREUZ, 2. Courtesy Loock Galerie, Berlin

Anmerkungen

[1]Sophie Rois im Interview mit Susanne Lenz, „Es ist leichter, Sex zu spielen, als Sex zu haben“ , in: Berliner Zeitung, 5.6.2022.
[2]Mit dieser Organisationsform gelang es, den Vertrieb der eigenen Arbeit zu sichern, Bildrechte zu behalten und Einfluss zu wahren.
[3]Rois, Interview.
[4]Berthold Beiler/Heinz Föppel (Hg.), Erlebnis Bild Persönlichkeit. Fünf Fotografien: Fünf Sichten, Leipzig 1973, S. 10.
[5]Susanne Altmann, „Revolution ohne Angst oder Aufruhr in den Augen Sibylle Bergemanns. Typologien von Weiblichkeit“, in: Sibylle Bergemann. Stadt Land Hund. Fotografie 1966–2010, Ausst.-Kat., hg. von Thomas Köhler/Katia Reich, Berlin 2022, S. 179.
[6]Annette Simon, Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin. Versuch über ostdeutsche Identitäten, Gießen 2009), S. 86.
[7]Ulrich Domröse, Nichts ist so einfach wie es scheint. Ostdeutsche Photographie 1945–1989, Berlinische Galerie, Museum für Moderne Kunst, Photographie und Architektur, 1992, S. 9.
[8]Domröse, Nichts ist so einfach.
[9]Ralf Hanselle im Gespräch mit Sibylle Bergemann, „Meine Sicht auf die Welt ist gleich geblieben“, in: ProfiFoto, 9, 2009, S. 48–51, hier: S. 51.