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SEXPOL REVISITED Antke Antek Engel über „Everybody: A Book About Freedom“ von Olivia Laing

Körper der Freiheit. Olivia Laing, die neben ihrem vielbeachteten Roman „Crudo“, für den Kathy Acker Patin stand, vor allem für ihre non-fiktionalen Essaysammlungen bekannt ist, hat ein neues Buch geschrieben. „Everybody“ ist eine Collage von Biografien, die maßgeblich von der Psychoanalyse Wilhelm Reichs bestimmt ist. In assoziativen Verknüpfungen spürt Laing darin dem Leben und Arbeiten von Künstler*innen, Literat*innen und Intellektuellen wie Philip Guston, Christopher Isherwood, Agnes Martin, Nina Simone und Susan Sontag nach, die alle miteinander zu verbinden scheint, dass sie in der einen oder anderen Form durch Reichs Denken beeinflusst worden sind. Die komplexe Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Körper, Sexualität und Freiheit, die Laing mit dieser Assemblage leistet, macht aus „Everybody“ streng genommen vier Bücher in einem, so Antke Antek Engel.

Faszinierend ist die Idee, dass beim Streit um Identitätspolitik um einen falschen Begriff gestritten wird. Vielleicht sind die westlichen Befreiungsbewegungen – von den Arbeiter*innenkämpfen zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Gay Liberation bis zu Black Lives Matter – keine Identitätspolitiken, sondern Körperpolitiken. Olivia Laings neuestes Buch Everybody: A Book About Freedom stellt die Körper in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen; diese rätselhaften Wesen, für die sich keine Einigkeit in Bezug auf die Frage erzielen lässt, wie das Verhältnis zwischen Empfinden, Denken und Affekten, zwischen biografischen Erfahrungen, gesellschaftlichen Bedingungen und Widerstand zu bestimmen ist. „Bodies in peril and bodies as a force for change“, heißt es im Vorspann des Buchs. Indem Laing diese Doppelperspektive aufrechterhält und gezielt zugleich Verletzlichkeit und Lust, zugleich Kämpfe gegen Unterdrückung und für Freiheit sieht, umgeht sie ein Opfernarrativ. Dennoch konfrontiert sie die Leser*innen schonungslos mit der Brutalität, die prekäre Lebensbedingungen, Krankheit oder Gewalt, sei es sexuelle oder staatliche, für das Leben im bzw. als Körper bedeuten können.

Angeregt durch einen Flohmarkt-Zufallsfund, nämlich Wilhelm Reichs autobiografische Schrift People in Trouble (1953), beginnt Laing eine langjährige Recherche, aus der eine Collage von Biografien entsteht. Der Blick auf Arbeit und Leben von Künstler*innen, Literat*innen und Intellektuellen, denen gemeinsam ist, dass sie in der einen oder anderen Form durch Reichs Denken beeinflusst worden sind, eröffnet eine komplexe Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Körper, Sexualität und Freiheit. Die These von der sexuellen Befreiung als politischer Revolution nahm im Berlin der Weimarer Republik Form an und inspirierte nach Reichs Tod den Anti-Vietnamkrieg-Aktivismus, den Feminismus und die Lesben- und Schwulenbewegung. Die autobiografischen Passagen des Buchs zeigen, dass diese Perspektive es Laing ermöglicht, ihre Erfahrungen als Umweltaktivistin, als Heilpraktikerin, ihr Aufwachsen in einem lesbischen Haushalt und die Normen und Zwänge sexueller Experimentierfreude neu zu justieren.

Reich, der der Psychoanalyse eine marxistisch-gesellschaftspolitische Wendung verliehen hat, sah den Körper als Speicher lebensgeschichtlicher Erfahrungen und traumatischer Erlebnisse. Diese führen in repressiven Gesellschaften zu einem sogenannten Charakterpanzer, der eher körpertherapeutisch als durch Gespräche aufzulösen sei. Vor allem aber benötige es, um die Orgon genannte Lebensenergie freizusetzen, konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Arbeiter*innenklasse und zum Abbau sexistischer Unterdrückung, was Reich und seine Kolleg*innen durch kostenlose psychoanalytische Ambulatorien, Sexualberatung und freien Zugang zu Verhütungsmitteln umzusetzen versuchten.

Die Autorin findet Spuren von Reichs Ideen in Christopher Isherwoods Erzählung Goodbye to Berlin (1939) über dessen homosexuelles Erwachen im Berlin der Weimarer Republik. Dort lässt Laing Reich bei der Begegnung mit Magnus Hirschfeld an die homophoben Grenzen seiner sexuellen Befreiungsvision stoßen. Laing betrachtet die unterschiedlichen Umgangsweisen von Susan Sontag und Kathy Acker mit deren Brustkrebserkrankungen und zeigt, wie Reichs Denken in soziale Diskurse zum Umgang mit Krankheit eingeflossen ist, egal, ob diese durch den Glauben an Medizintechnologie oder an Ganzheitlichkeit geprägt sind. Laing entwickelt an den künstlerischen Arbeiten von Ana Mendieta oder dem Schreiben von Andrea Dworkin Eindrücke feministischer Politisierung, die aus der sozialen Realität von Vergewaltigungen machtvolle intellektuelle und künstlerische Interventionen erwachsen sieht.

Es sind die Politisierungsprozesse, die Laing an Agnes Martin, Philip Guston oder Nina Simone interessieren und die sie – indem sie auf poetische Weise ihre Rezeptionserlebnisse beschreibt – in deren Kunst hineinliest. Laing entwickelt ihre Gedanken zum Gefängnis-Abolitionismus ausgehend von Edith Jacobsons Reflexionen über ihre KZ-Haft. Unter Bezug auf Oscar Wilde, Malcom X und den Schwarzen schwulen Bürgerrechtler Bayard Rustin fragt sie, wie sich Erkenntnis stiftende und widerständige Effekte noch unter brutalsten Haftbedingungen entfalten können oder nicht. Angesichts von Staats- und Polizeigewalt zeigen sich die Möglichkeiten und Grenzen politischen Widerstands, in denen Körper, absichtsvoll oder gegen deren Willen, die öffentliche Bühne bespielen. Reichs Fassungslosigkeit angesichts österreichischer Polizeigewalt der 1920er Jahre, in deren Fahrwasser sich eine faschistische Bürgerwehr formierte, verlängerte sich hin zum Wiedererstarken des Ku-Klux-Klans in den USA der 1960 Jahre; Philip Gustons Gemälde erscheinen als politische Entgegnung, die eine Linie zu den rechten Aufmärschen in Charlottesville 2017 zieht.

Die assoziativen Verknüpfungen unterschiedlichen Materials, unverbundener Diskurse, entfernter historischer Ereignisse oder widerstreitender Sichtweisen regen zum Nachdenken und Befragen eigener Gewissheiten an. Misstrauisch macht Laings emphatische Narration. Stilmittel des historischen Romans erwecken den Eindruck, als sei sie selbst bei der Wiener Julirevolte im Jahr 1927, beim Erstürmen des Magnus-Hirschfeld-Instituts durch die Nazis 1933 oder bei Peter Reichs Besuchen seines Vaters im Gefängnis 1957 anwesend gewesen. Gewagt ist auch, dass Laing, dem poststrukturalistischen Credo zum Trotz, es gelte, den Text als Text sprechen zu lassen, keine Hemmungen hat, biografische Interpretationen von Theorien oder künstlerischen Arbeiten anzubieten. Doch vermeidet sie kausale oder intentionale Kurzschlüsse, insofern sie immer wieder verdeutlicht, wie ähnliche Erfahrungen ganz unterschiedliche Reaktionsweisen hervorrufen. Auch lädt sie widerstreitende Interpretationen ein, die beispielsweise Marquis de Sades sexuelle Libertinage mal als sexistische Ausbeutung, mal als Befreiungsfantasie eines inhaftierten Körpers erscheinen lassen.

Die Inkohärenz nicht aufzulösen, bedeutet für Laing, sich und die Leser*innen mit der doppelten Bedeutung von Freiheit zu konfrontieren: der Befreiung von Unterwerfung und der Freiheit, (sich oder andere) zu unterwerfen, beide verbunden mit einem Potenzial der Gewalt. Sie sind weder historisch sauber zu trennen, noch lässt sich die Natur-Kultur-Frage eindeutig beantworten. Exemplarisch wird das Ringen um dieses Dilemma mehrfach in der Gegenüberstellung von Reich und Freud durchgespielt: Gilt es einen Todestrieb zu bändigen oder sexuelle Energie zu befreien? Speist sich Gewalt aus menschlicher Natur oder Unterdrückung? Doch auch diese plakative Alternative darf im Verlauf des Buchs an Überzeugungskraft verlieren, wenn Laing angesichts historischer und aktueller Nazigewalt ihre Parteilichkeit für Reich durch Zweifel ersetzt: Womöglich lag Freud mit seinem Pessimismus doch richtig?!

Everybody ist eine Weigerung, zu akzeptieren, dass die Beiträge, die Reich in der Zwischenkriegszeit für die Psychoanalyse und durch seine dezidiert antifaschistische Praxis gegen den aufkommenden Nationalsozialismus geleistet hat, durch seinen Ausschluss aus der psychoanalytischen Vereinigung oder seine zunehmend esoterischen wissenschaftlichen Ansätze im US-amerikanischen Exil diskreditiert würden. Neben der politischen Kontroverse mit Freud über die Frage, ob sich die Psychoanalyse politisch neutral zu geben habe, stellt Laing die Konfrontation mit dem NS-Staat, seine Flucht und den damit einhergehenden Verlust von Freundschaften und politischer Vision heraus. Zentral erscheint die letztendlich tödliche Bedeutung der McCarthy-Ära, die in staatliche Verfolgung, die einzige offiziell verordnete Bücherverbrennung in den USA und Reichs Verhaftung mündete. Bereit, multidirektional zu denken und Widersprüche anzuerkennen, denkt Laing einerseits darüber nach, inwiefern sich Reichs soziale Isolation und psychisch-mentale Ver-rückung aus Fluchterfahrung und politischer Verfolgung erklären lassen, und betont andererseits, welche Gewalt von Reich unter dem Einfluss von Alkohol und zunehmender Paranoia gegenüber seinen späten Partnerinnen Ilse Ollendorf und Aurora Karrer sowie seinem Sohn Peter ausging. Wie wurde der frühere Verfechter sexueller Selbstbestimmung von Frauen seinen eigenen Überzeugungen zum Trotz zum gewalttätigen Patriarchen?

Everybody ist vier Bücher in einem: eine Wiederentdeckung von Wilhelm Reichs Denken über Sexualität und Politik; ein Mosaik westlicher Befreiungsbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts; eine praxeologisch-psychoanalytische Philosophie des Körpers und eine materialistische Theorie politischer Emanzipation, die eine Dialektik von Repression und Befreiung diskursanalytisch auf Bio- und Nekropolitik hin untersucht. Wer fürchtet, dass dies ein bisschen viel des Guten ist, liegt nicht falsch. Doch ist es eben auch kein Theoriebuch, sondern eine politische Streitschrift, ein Buch für die Freiheit, die sich nicht ohne Körper entfaltet.

Olivia Laing, Everybody: A Book About Freedom, London: Picador, 2021, 368 Seiten.

Antke Antek Engel ist promovierte Philosoph*in. Xie leitet das Institut für Queer Theory (iQt) in Berlin und hat Gastprofessuren für Gender und Queer Studies inne.

Image credit: Picador, Pan Macmillan