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DEVOLUTION DES AUGES Simon Baier über Pamela Rosenkranz im n.b.k., Berlin, und bei Karma International, Zürich

„Pamela Rosenkranz: Spill Retina“, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), Berlin, 2024

„Pamela Rosenkranz: Spill Retina“, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), Berlin, 2024

In der kulturellen Entwicklung der menschlichen Wahrnehmung schien eine neue Stufe erreicht zu sein, als Apple 2012 den englischen Begriff für Netzhaut als Markenname für sein Retina-Display registrierte. Diese Synonymie von Screen und Auge aufgreifend, entwickelt Pamela Rosenkranz für Einzelausstellungen in Berlin und Zürich bestehende Werkserien weiter: Die blauen Bildschirme von „Alien Blue Windows“ referenzieren nicht mehr architektonische Gegebenheiten, sondern symbolisieren das menschliche Wahrnehmungsorgan; die Ergebnisse von Google-Suchen fungieren in „Healer Scrolls“ als Bildträger für Malereien. In seiner vergleichenden Review erörtert Simon Baier, dass die Rezeption von Rosenkranz’ Arbeiten nicht durch eine Differenz, sondern eine Nähe zur Evolution unserer Online-Sehgewohnheiten auszeichnet ist.

Das ausströmende LED-Licht eines kreisförmigen Tableaus in Pamela Rosenkranz’ Einzelausstellung „Spill Retina“ im n.b.k. taucht den gesamten Raum in sich graduell verändernde Farbtöne. Ähnlich dem leuchtenden Signet eines Tropfens, das die Künstlerin für ihre Ausstellung im Kunsthaus Bregenz 2021 an der Außenfassade der Institution installierte, fungiert auch hier eine einfache geometrische Form als eine Art Logo und überführt ein komplexes diskursives Feld in ein schnell distribuierbares Zeichen. In diesem Fall ist es nichts weniger als das Sehen selbst, das die Ausstellung als vielleicht unmögliches, weil allumfassendes Thema der visuellen Kultur durch die einfachste Visualisierung des Auges, zu einem Kreis stilisiert, zu besetzen versucht. Überraschenderweise ist dieses Auge nicht – analog zu einer Camera obscura – ein Loch, sondern ein Screen, der die weitestgehend leeren Wände der Ausstellung dominiert; ansonsten sind nur zwei kleinformatige Papierarbeiten auf ihnen zu finden. Den Ausstellungsraum in ein Environment zu verwandeln, in dem Licht das vorherrschende Medium ist, ruft James Turrells Ganzfeldexperimente der 1980er und 1990er Jahre auf, deren kulturelle Absorption von globaler Spa-Kultur bis zu Drakes Musikvideo zu Hotline Bling (2016) reicht. Die Deinstallation der Kassettendecke im n.b.k.-Showroom macht die dahinterliegenden elektrischen Leitungen und damit einen Teil der vernetzten Infrastruktur des Gebäudes sichtbar. Zusammen mit einem halb transparenten Plastikvorhang, der vor allem die Fenster verdeckt, verkehrt Rosenkranz damit den ersten Anschein von Turrell’schen Transzendenz-Kitsch in eine eher bedrückende Dystopie, die zwischen Ruine und Klinik oszilliert.

„Pamela Rosenkranz: Spill Retina“, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), Berlin, 2024

„Pamela Rosenkranz: Spill Retina“, Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), Berlin, 2024

Rosenkranz hat in der Vergangenheit immer wieder angeregt, Charles Darwins Evolutionstheorie für ein Nachdenken über unsere zeitgenössische visuelle Kultur anschlussfähig zu machen. [1] Dabei rekurriert die Künstlerin nicht direkt auf Theorien einer biologistischen Ästhetik, sondern vorrangig auf technologische und medientheoretische Diskurse. Im n.b.k. ist die durch den runden Bildschirm disseminierte Farbatmosphäre als eine Art zweite Natur bestimmt. Eine von den Screens unserer Smartphones, iPads und Laptops ausstrahlende, künstliche Helligkeit ersetzt natürliches Licht. Darwinistisch gewendet, ist dies die technische Umwelt, an die sich menschliche Organe anpassen und die sie wiederum transformieren. Bei Rosenkranz ist die Fusion so weit fortgeschritten, dass Auge und Screen in eins fallen.

Die zwei hinter Plexiglas präsentierten Bilder der Serie Healer Scrolls erweitern eine solche Perspektive, nach der die Geschichte des Sehens zwischen biologischem Substrat und technischem Environment aufgespannt ist. Es handelt sich um Digitaldrucke der Ergebnisse von Internet-Suchanfragen, die Rosenkranz mit wässrigen Pigmentlösungen übermalt hat und deren Papier entsprechend der japanischen Kirigami-Technik so geschnitten wurde, dass die Oberflächen an Fisch- oder Schlangenschuppen erinnert. Das farbige vom Screen ausgehende Lichtbad ist hier auf die spezielle Form des visuellen Erfassens einer Google-Suche bezogen, wobei Sehen ein fortlaufendes Gleiten zwischen Bild und Text ist, dessen Scrolling-Modus auf Unendlichkeit ausgelegt ist. Im menschlichen Körper sind vor allem die Blautöne des ausgestellten Screens wie seiner realweltlichen Pendants für die Unterdrückung der Melatonin-Ausschüttung verantwortlich und unterminieren so den Wechsel zwischen Tag und Nacht oder Wach- oder Schlafzustand. Rosenkranz stellt der räumlich-zeitlichen Dimension des Screens, die kein klares Oben und Unten mehr aufweist, das endliche Format der Malerei gegenüber. Die Zeit der Insomnie ist auf einen Raum bezogen, der eine bestimmte Form von Orientierungslosigkeit durch Unüberschaubarkeit produziert.

„Pamela Rosenkranz: Healing Scrolls“, Karma International, Zürich, 2024

„Pamela Rosenkranz: Healing Scrolls“, Karma International, Zürich, 2024

Google, als eine das Sehen gegenwärtig hegemonial dominierende Struktur, ist in „Spill Retina“ nicht allein Sujet der Malerei. Liest man das Handout zur Ausstellung, dann entsteht der Eindruck, dass es auch das dominante Mittel der darin zitierten Recherche ist. Speist man zur Überprüfung den Hinweis, „dass sich unser Auge auf die allerersten Wirbeltiere zurückführen lässt: Fische, die vor 420 Millionen Jahren in ihrem Aussehen Haien geähnelt haben“, zurück in die Suchmaschine, lässt sich umgehend die Quelle der Information identifizieren. Die Referenzen erscheinen demnach weniger das Ergebnis einer zeit- oder rechercheintensiven Form der Wissensproduktion zu sein als vielmehr ein generisches Informationsangebot, das Rezipient*innen zur kollaborativen und inklusiven Fortführung der künstlerischen Recherche einlädt. Die Rezeption der Ausstellung beschränkt sich nicht auf die Installation, sondern kann durch eine eigene Onlinesuche fortgesetzt werden, der Fährte des Handouts folgend. Einerseits könnte man dies als opportunistischen Gleichschritt mit einer durch Algorithmen gesteuerten Produktion von „Wissen“ durch ein Kartell kapitalistischer Akkumulation kritisieren. Rosenkranz entzieht sich diesem meist unter ethischen oder politischen Vorzeichen gesetzten Anspruch auf Differenz und setzt stattdessen ihre Arbeit mit deren Analysegegenstand gleich. Andererseits situiert die mimetische Angleichung an die von Google strukturierte Umwelt die Produktion in einem Modus der Immanenz als einzig möglichen Ort von Kritik, an dem Gezeigtes und Bedingung des Zeigens nicht voneinander getrennt werden können. Die Künstlerin thematisiert damit, wie ästhetische Erfahrung heute insgesamt funktioniert, nämlich vor allem online durch konstante und immer weitergeführte Überprüfung und Kontextualisierung des zuvor Rezipierten. Trevor D. Lamb skizziert zum Beispiel in seinem Paper „The Evolution of the Eye“, das einer schnellen Google-Suche zufolge Quelle des Rosenkranz-Zitats im Handout ist, dass die Entstehung des humanen Auges auf ein Organ zurückgeführt werden könnte, das sich vor 500 Millionen Jahren im Körper des Schleimals ausgebildet hat. [2] Dieses Organ operierte keineswegs visuell, sondern übermittelte dem Gehirn des Schleimaals allein zirkadiane Rhythmen wie den Wechsel von Tag und Nacht. Ein solcher Rhythmus steht auch im Zentrum der Destabilisierung durch unsere gegenwärtigen Screen Cultures. „Spill Retina“ operiert damit auf verschiedenen Ebenen einer Wissensproduktion: sinnlich und lokal, aber auch textuell, digital und dezentriert.

Mit einer zweiten, nur einige Wochen später eröffneten Einzelausstellung bei Karma International in Zürich entwickelt Rosenkranz die Idee eines szenografischen Settings für ihre Papierarbeiten in eine ganz andere Richtung. Anstatt mit auratischer Seltenheit operiert „Healer Scrolls“ mit der Quantität einer seriellen künstlerischen Produktion. Sowohl die Installation im Galerieraum als auch die Oberfläche der 15 dort gezeigten Tableaus oszillieren zwischen dem online in Massen zu findenden Quellenmaterial und seiner Präsentation. Rosenkranz konterkariert die digitale Herkunft der in Reihe gehängten Prints mit der malerischen Handarbeit, die im Gegensatz zu früheren Werken zwar nicht mehr unmittelbar mit der Hand, sondern mit dem Pinsel ausgeführt ist. Nichtsdestotrotz operiert diese Malerei immer noch innerhalb eines durch Deskilling eröffneten Feldes, das – analog zu einer Google-Recherche – so einfach und inklusiv wie möglich ist: eine Schichtung wässriger, dünner Farbschleier, die auf schillernde Monochrome hinauslaufen. Mit Pigmentlösung gefüllte PET-Flaschen, die auf Sockeln im Raum verteilt sind, werden hier mit dem Seriennamen Liquid Life als Malutensilien gekennzeichnet. Getrocknete Farbe an den Außenseiten der Objekte ist Spur ihres vergangenen Gebrauchs für die Herstellung der Malereien. Die Farbbehälter rufen damit eine Form möglicher Berührung der malerischen Oberflächen auf, die in starkem Kontrast zu den hinter Plexiglas präsentierten Artefakten steht. Im Tableau Healer Scrolls (Tear Structures) (2024) bleiben die Ergebnisse der vorangegangenen Google-Suche unter den zittrigen Pinselstrichen fast unberührt. Lesbar sind gleichfalls nur noch die verschiedenen Titel; die aufgerufenen Bilder bleiben als weiße Leerstellen ausgespart. Die guilty pleasure, der Drang, immer weiter zu scrollen, macht sie sekundär. Hier wie in anderen Arbeiten der in Berlin und Zürich ausgestellten Serie verschwinden die profanen Suchanfragen ganz hinter verführerischen Oberflächen eines irisierenden Farbglanzes, den die Plexiglasrahmen noch verstärken.

„Pamela Rosenkranz: Healing Scrolls“, Karma International, Zürich, 2024

„Pamela Rosenkranz: Healing Scrolls“, Karma International, Zürich, 2024

Rosenkranz gesamte Praxis setzt sich – in einem Spannungsverhältnis zu den referenzierten Szenarien der Handarbeit – permanent explizit in Relation zu megalomanen Komplexen globaler Produktion: sei es Amazon, Google oder dem System der globalen Kommodifizierung von Wasser in PET-Flaschen. All diese Zusammenhänge werden dabei als Teil eines Élan vital artikuliert, der sie durchströmt und so mit einer evolutionären Tiefengeschichte verbindet, die weit bis vor das Anthropozän zurückreicht. Rosenkranz thematisiert die Anbindung ihrer künstlerischen Produktion an eine Struktur wie Google, inklusive deren energetischen, aber auch ökologischen Implikationen. [3] Vor diesem Hintergrund lässt sich die schiere Attraktivität ihrer Arbeiten als Teil einer gefährlichen Logik lesen, die auf chemische und neuronale Abhängigkeit setzt: auf eine Sucht, die den Erhalt der Lebensform riskiert, deren planetare Verbreitung sie gleichzeitig so vehement vorantreibt. Die irisierenden Oberflächen – gleich einer Netzhaut oder einem Screen –, auf die fast alle von Rosenkranz’ Tableaus als Strategie einer unmittelbaren Fesselung des Blicks setzen, verhandeln deshalb nicht zuletzt eine radikale Schwundstufe des Visuellen: das Ergebnis fataler Attraktion.

„Pamela Rosenkranz: Spill Retina“, n.b.k., Berlin, 11. September bis 10. November 2024; „Pamela Rosenkranz: Healer Scrolls“, Karma International, Zürich, 2. Oktober bis 9. November 2024.

Simon Baier ist Professor für Kunstgeschichte und Bildwissenschaften an der Universität Oslo.

Image Credits: 1. + 2. © n.b.k. / photo Jens Ziehe; 3. + 4. Courtesy of the artist and Karma International, photo Annik Wetter

ANMERKUNGEN

[1]Der vielleicht avancierteste Versuch, Darwin für die Kunsttheorie fruchtbar zu machen, löst das Versprechen eines möglichen Anschlusses an spezifisch moderne Konfigurationen der Ästhetik, wie die der Gegenwartskunst, leider nicht ein. Winfried Menninghaus, Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Frankfurt/M. 2011.
[2]Trevor D. Lamb, „The Evolution of the Eye“, in: Scientific American, 1, 2011, S. 64–69.
[3]In einer vor Kurzem veröffentlichten Ankündigung ließ Google verlauten, vor dem Hintergrund einer verstärkten Nachfrage nach KI, als zweifelhaftes Zeichen der Nachhaltigkeit, ein Netz aus kleinen modularen Kernreaktoren für den Betrieb der Rechenzentren in Anspruch zu nehmen, der ansonsten in Zukunft energetisch unmöglich scheint. Michael Terrell: New nuclear clean energy agreement with Kairos Power , Google The Keyword, Company News, 14. Oktober 2024.