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SO IST DAS GEBÄUDE, DER SPIEGEL DES KÖRPERS Steph Holl-Trieu über Anja Kirschner bei Fluentum, Berlin

„Anja Kirschner: UNICA“, Fluentum, Berlin, 2022, Ausstellungsansicht

„Anja Kirschner: UNICA“, Fluentum, Berlin, 2022, Ausstellungsansicht

Mit ihrer Videoinstallation UNICA erteilt Anja Kirschner der linearen Verbindung von Vergangenheit und Zukunft ebenso eine Absage, wie der Individualität des Subjekts. Schon in früheren Arbeiten dehnte die Künstlerin und Filmemacherin die Grenzen von Körper, Raum und Zeit, zuletzt in ihrem (Horror-)Spielfilm Moderation. In ihrer jüngsten Ausstellung bedient sich Kirschner einer Bildsprache, die zwischen analogen und digitalen Medien oszilliert. Dabei bindet sie ihre Narration nicht an eine Chronologie, sondern an historische wie virtuelle Orte. Die Kunstwissenschaftlerin Steph Holl-Trieu verhandelt in ihrem Text, wie Kirschner mittels eines komplexen Geflechts aus visuellen und literarischen Referenzen ein neues Menschenbild entwirft.

Unica A ruft ihre Tochter in der Mittagspause an; sie erzählt ihr über einen schrecklichen Traum von einem Mädchen „mit dem Kopf einer Frau und dem Körper einer Schlange“ [1] . – Szenenwechsel – Unica A sitzt am Schreibtisch und liest aus einem Buch vor: „Ich träumte also in dieser vergangenen Nacht von einem schönen, gefährlichen Wesen, halb Mädchen, halb Schlange, das mordlustig war.“ [2] – Szenenwechsel – In einer Anime-Sequenz rettet eine Frau ein Mädchen aus einer zerstörten Stadt, sie fliegen gemeinsam Richtung Himmel. Sobald sie vom Erdboden abheben, verwandelt sich der Körper der Frau in den einer Schlange. Beide, Mädchen und Frau-Schlange, wirbeln durch eine diesige, bewölkte Atmosphäre und verschmelzen zu einer undefinierbaren Figur.

In der Zweikanal-Videoinstallation UNICA (2022) der Künstlerin und Filmemacherin Anja Kirschner folgen die hier beschriebenen Szenen weder zeitlich noch narrativ aufeinander. Sie sind Teil eines Komplexes aus verschiedenen Erzählsträngen, einer immer wiederkehrenden, sich leicht variierenden Bildsprache; erscheinen wie die Erinnerung an einen kodifizierten Traum. Wie diese Art der ästhetischen Erfahrung erzeugt wird, beschrieb Kirschner während des Künstlerinnengesprächs, das zur Finissage der Ausstellung zwischen ihr und der Autorin und Kunstwissenschaftlerin Marina Vishmidt stattfand. Demnach erprobt sie mit UNICA eine Erzählstruktur, die statt einer chronologischen Logik eine verräumlichte Navigationsmechanik aufweist. Ein Gegenstand dieser Untersuchungsmethode ist der Ausstellungsort von Fluentum, einer privaten Sammlung zeitbasierter Kunst. Dieser befindet sich im Hauptgebäude einer Anlage, die zwischen 1936 und 1938 Sitz des Luftgaukommandos III der nationalsozialistischen Wehrmacht war und 1945 als Hauptquartier der US-Militärregierung übernommen wurde. Die diskursiven, politischen und materiellen Dimensionen, die Geschichte und Architektur des Ausstellungsraums untermauern, spürt die von Dennis Brzek und Junia Thiede kuratierte Projektreihe In Medias Res: Media, (Still) Moving auf, in deren Kontext die Videoarbeit UNICA und gleichnamige Ausstellung entstanden.

„Anja Kirschner: UNICA“, Fluentum, Berlin, 2022, Ausstellungsansicht

„Anja Kirschner: UNICA“, Fluentum, Berlin, 2022, Ausstellungsansicht

Den ersten Zugangspunkt zum Werkkörper bilden drei großformatige Zeichnungen. Sie werden von jeweils einem der drei marmorverkleideten Durchgänge gerahmt, die Portikus und Foyer des Hauptgebäudes trennen. Die drei Bilder ROPES#01 (2021), PATTERN#02 (2020–2021) und PATTERN#01B (2021) bestehen jeweils aus einem grid mehrerer Zeichnungen, deren Darstellungen einander spiegeln oder fortführen. Auf jedem der Blätter winden und verknoten sich Organe, organische Gefäßleitstrukturen und anorganische Verbindungslinien zu abstrakten Diagrammen.

In einer frühen Skizze (Body-Building), die während der Planung der Ausstellung entstand, füllt Kirschner das Marmorfoyer mit den verschiedenen „Organen“ der Installation. Sie legt damit – neben dem Titel der Ausstellung, den Namen der Protagonistinnen und den Zeichnungen im Eingangsbereich – einen weiteren Verweis ihrer Auseinandersetzung mit Unica Zürn (1916–1970) offen. Zürn, die für ihre Prosatexte, Zeichnungen und Anagramme sowie für ihre Nähe zum Surrealismus [3] bekannt ist, fertigte 1958 bettlägerig und von hohem Fieber heimgesucht in einem Notizbuch die Zeichnung Plan des Hauses der Krankheiten (1958) an. In dieser Abbildung fragmentiert sie ihren eigenen Körper und fügt seine Teile in den Grundriss des Krankenhauses ein, in dem sie von ihrem Feind – dem „Militaristen“ [4] Dr. Mortimer – verfolgt wird; ein Versuch, sich diese unheimliche Architektur anzueignen. So gibt es den „Saal der Bäuche“, das „Zimmer der Augen“ und den „Schleichweg für die Feinde“ zwischen Herz und Händen.

Bei Fluentum gibt es keinen Schleichweg, dafür ein „Body-Building“ in Form eines wulstigen, aus fleischfarbenem Stoff bestehenden Verdauungstrakts, der sich die Treppe hinunterwindet und vor der schräg installierten Projektionsleinwand in seiner Doppelfunktion als Sitzgarnitur landet. Auf der Leinwand ist Unica A in ihrem Atelier zu sehen. Mit einem Filzstift fährt sie eine Skizze nach, ein Element des Musters, das als PATTERN#01B (2021) im Eingangsbereich hängt. In einer weiteren Szene ist eine Schauspielerin in einem Motion-Capture-Studio zu sehen. Sie folgt den Anweisungen eines Voiceovers, sammelt Clues (dt. Hinweise) und interagiert mit Objekten, bewegt sich in einem verlassenen Haus, das nicht zu sehen ist, sondern durch neonfarbene Bodenmarkierungen und Attrappen angedeutet wird. Zwischendurch wird eine Bildschirmaufnahme der Game-Engine Unity eingeblendet, eine Software, die zur Entwicklung von Computerspielen genutzt wird. Gezeigt wird die Liveübertragung der Bewegungserfassung von der Schauspielerin auf ein Avatarskelett. Auch diese Figur heißt Unica, Unica B. Sie erhält die Anweisung: „Du tötest deinen Gegner und wischst das Blut von deinem Schwert ab.“ Während sie kämpft, ertönen dramatische Foley-Sounds, Geräusche, die die Verwundung des gegnerischen Körpers simulieren.

Später navigiert Unica B nicht mehr durch das Studio, sie joggt einen Berg hoch – zu einem atmosphärisch-pulsierenden Soundtrack von Wibke Tiarks. Die Bewegungen der Schauspielerin erscheinen computergeneriert, und der Kontrast zwischen natürlicher Umgebung und künstlicher Motorik haben etwas Unheimliches. In einem Close-up sieht man, wie ihre Hände den Berghang durchforsten und Porzellanscherben aus der Erde entfernen. Die zunächst natürlich erscheinende Landschaft wird nach und nach als naturalisiert entblößt: Unica B befindet sich auf dem Teufelsberg, der aus 26 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt besteht, das Äquivalent von 15.000 Gebäuden oder einem Drittel der während des Zweiten Weltkriegs zerbombten Berliner Häuser. Die Scherben erinnern an Bilder von den sogenannten Trümmerfrauen, an die Krise der reproduktiven Arbeit, die jedem Krieg, jeder Nachkriegszeit implizit ist.

Anja Kirschner, „UNICA“, 2022, Videostill

Anja Kirschner, „UNICA“, 2022, Videostill

Im zweiten Teil der Videoarbeit, eine von Diana Gradinaru handgezeichnete Anime-Sequenz, die im Obergeschoss als eine Art Refrain läuft, ist ebenfalls ein Close-up von Händen zu sehen sowie Trümmerteile auf einer Erdmasse. Der Loop läuft nicht nur etwas zeitversetzt zum anderen Kanal der Installation, sondern auch asynchron zum linearen Zeitmodell. Er könnte beides verkörpern: Zukunftsprojektion oder historische Überlieferung. Falls der Refrain die Zukunft simulieren sollte, so wird auch die Zukunft noch von vergangenen Krisen modelliert sein.

Diese Art der filmischen Arbeit verlangt nach einer neuen Begrifflichkeit des Virtuellen: Kirschner selbst hat deshalb den Begriff der „Anamersion“ entwickelt. [5] Das Präfix „Ana-“ verkehrt das Vorzeichen der Immersion. Es gibt weder die Annahme noch das Ansuchen einer stabilen Kategorie des Subjekts, das von Umgebung zu Umgebung transportiert werden könnte, ohne selbst transformiert und rekonfiguriert zu werden. Hier zeichnet sich Kirschners Beschäftigung mit Sylvia Wynter ab: Wynter sprach vom Menschen als Code oder als Genre, in dem sie dem Konzept des Menschen-als-Nomen das Mensch-Sein-als-Handlung entgegensetzte. [6] Ziel war dabei, den sogenannten Monohumanismus [7] zu dekonstruieren, der eine besonders spezifische und lokalisierbare Soziogenese des Menschen als bürgerlichen, weißen Mann zu universalisieren versucht. Dieser Monohumanismus findet sich nicht nur in aktuellen Diskussionen um das Anthropozän wieder, sondern ebenso in narrativen Framings von postapokalyptischen Videospielen. [8] Unica – ob A oder B – erscheint dagegen deindividualisiert. Zwar wird sie in der Ausstellung „UNICA“ als temporär individuierte Charaktere „gespawned“ [9] , doch nur als lokale Ausdrucksformen von Unica-als-Prinzip, als Algorithmus, der mit dem Monohumanismus bricht, mit dem fatalistischen Code einer selbstzerstörerischen Spezies. Aus diesem Code lässt sich keine Essenz abstrahieren; es lassen sich nur Deutungsmöglichkeiten und Rekombinationen durchspielen: Formal unterwandert UNICA nicht nur die militärisch symmetrische Architektur des Ausstellungsraums, sondern auch die lineare Zeitstruktur des Films. Kriegsgeschichte und postapokalyptische Zukunftsprojektion verdichten sich hier zu einer Gegenwart der fortdauernden – und deshalb immer zu bewältigenden – Krise.

„Anja Kirschner: UNICA“, Fluentum, Berlin, 22. April bis 16. Juli 2022.

Steph Holl-Trieu ist Autorin und Künstlerin.

Image credit: 1 + 2. Courtesy of the artist and Fluentum, photo Stefan Korte; 3. © Anja Kirschner

Anmerkungen

[1]Anja Kirschner, UNICA, Zweikanal-Videoinstallation, 2022, zit. nach Lisa Jeschke, „Heimliche Immersion“, in: UNICA. Anja Kirschner, Ausst.-Kat., hg. von Dennis Brzek/Junia Thiede/Markus Hannebauer, Berlin, 2022, S. 109–120 , hier: S. 113.
[2]Unica Zürn, „Notizen einer Blutarmen“, zit. nach Luisa Lorenza Corna, „Ohne Gehirn Pläne schmieden“, in: UNICA. Anja Kirschner, S. 75–84 , hier: S. 84.
[3]Unica Zürn bewegte sich über Beziehungen zu Alexander Camaro und Werner Heldt im Kreis des vom Surrealismus geprägten Künstler*innenkabaretts „Die Badewanne“ in Berlin, lernte 1953 Hans Bellmer kennen, mit dem sie nach Paris zog und im Umfeld von André Breton und Henri Michaux anfing, Anagramme zu verfassen und zu zeichnen. Vgl. Helga Lutz, Schriftbilder und Bildschriften: Zum Verhältnis von Text, Zeichnung und Schrift bei Unica Zürn, Heidelberg 2003.
[4]Lisa Jeschke, „Heimliche Immersion“, S. 118.
[5]Anja Kirschner, Dissertation, unveröffentlicht, zit. nach Corna, „Ohne Gehirn Pläne schmieden“.
[6]„We therefore now need to initiate the exploration of the new reconceptualized form of knowledge that would be called for by Fanon’s redefinition of being human as that of skins (phylogeny/ontogeny) and masks (sociogeny). Therefore bios and mythoi. And notice! One major implication here: humanness is no longer a noun. Being human is a praxis.“, in: Katherine McKittrick (Hg.), Sylvia Wynter: On Being Human as Praxis, Durham/London 2015, S. 23.
[7]Übersetzung von engl. monohumanism.
[8]Im Künstlerinnengespräch beschreibt Kirschner den Entfremdungsmoment, als sie während eines Testspiels mit „Hello Son!“ angesprochen wurde, sowie die Enttäuschung, als sie herausfand, dass der „spielbare“ Charakter Riley, ein Deutscher Schäferhund in Call of Duty: Ghosts, doch nur während sehr begrenzten Momenten der Kampagne gespielt werden konnte.
[9]Spawning, dt. Brut, bezeichnet im Computerspiel den (Wieder-)Einstieg einer Spielfigur, eines Nicht-Spieler-Charakters oder eines Gegenstands an einem bestimmten oder zufälligen Punkt in einem Level.