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VON KLANGKÖRPERN UND KOSMOLOGIEN Susanne Neubauer über Camila Sposati in der IFA-Galerie, Stuttgart (und Berlin)

„Camila Sposati: Atem-Stücke,“ ifa-Galerie Stuttgart, 2023, Ausstellungsansicht

„Camila Sposati: Atem-Stücke,“ ifa-Galerie Stuttgart, 2023, Ausstellungsansicht

Mit einer Reihe skulpturaler Keramikinstrumente, die Camila Sposati im Rahmen ihrer zweiteiligen Einzelausstellung zunächst in Stuttgart und dann in Berlin präsentierte, knüpft die brasilianische Künstlerin an das Objektverständnis einiger Indigener Gemeinschaften an, Artefakte als integrale Bestandteile gelebter Praktiken zu begreifen, und nicht als statische Kulturgüter, die beäugt und beschützt werden müssen. Wie Susanne Neubauer mit Blick auf die Stuttgarter Schau hervorhebt, unternimmt Sposati hier zudem den Versuch, die Verflechtung von Interspezies-Realitäten und Erfahrungsräumen im Sinne des Amerindianischen Perspektivismus durch prekäre Objektkonstellationen und performative Vor- und Begleitspiele erfahrbar zu machen. Auf fragil wirkenden Konstruktionen im Galerieraum arrangiert, thematisierten Sposatis sogenannte „Atem-Stücke“ für Neubauer die Begrenztheit des westlichen Blicks auf die Dinge.

Der Amerindianische Perspektivismus ist wichtiger Referenzpunkt für die Arbeit der aus São Paulo stammenden Künstlerin Camila Sposati. Dabei reiht sich Sposati in jene Riege brasilianischer Künstler*innen ein, die seit dem ersten avantgardistischen Erwachen der frühen 1920er Jahre die Auseinandersetzung mit dem eigenen Indigenen oder migratorischen Erbe, den kolonialen Besetzungen in Brasilien und der westlichen Vorherrschaft in der Kunst zum Kern ihrer Arbeit gemacht haben. Sposati siedelt ihre Recherchen als Künstlerin und Forscherin dort an, wo sich das westliche Denken in den gegensätzlichen Kategorien von Natur und Kultur von Vorstellungen in Brasilien unterscheiden. Mit dem Konzept des Perspektivismus greift sie eine Sicht auf, die die Welt als Ort zahlreicher, miteinander verbundener menschlicher und nichtmenschlicher Wesen versteht. Mein Interesse an ihrer Arbeit mit Atem-Stücken, die Musikinstrumenten ähnlich sind, bezieht sich vor allem auf die Frage, wie die Künstlerin die Begegnung mit diesen Werken an das Publikum zu vermitteln vermag.

Den Auftakt der Stuttgarter Ausstellung macht eine in sich geschlossene Anordnung von neun Atem-Stücken. Dabei handelt es sich um unterschiedliche Tonkörper, die wie organische oder tierische Fragmente aussehen und mit ihren spitzen Mundstücken bedrohlich und durch ihre krummen, dreifüßigen Holzständer gleichzeitig sehr lebendig wirken. Sie evozieren den Eindruck, sie würden sich jederzeit bewegen können. Die Werke gehören zur jüngsten von der Künstlerin realisierten Generation von Musikkörpern und bestehen aus brauner gehärteter Balata, einem in der Wärme gummiartigen Milchsaft, der vom südamerikanischen Balatabaum, dem Manilkara bidentata, gewonnen wird. Anders als Naturkautschuk braucht der Balatabaum eine stete Befeuchtung, um seine Form zu bewahren. Dies ist insofern von Bedeutung, als das Material die Idee des lebenden Körpers spiegelt, der täglicher Sorge bedarf, um nicht kaputtzugehen. Als Besucherin weiche ich den Atem-Stücken aus, denn die dünne Dreibeinigkeit der Körper erscheint mir nicht sonderlich stabil. Überhaupt wird meine Bewegung im Raum durch die Atem-Stücke verändert, da er mir durch ihre Abstände erfahrbarer gemacht wird. Der Raum wirkt, wie auch die Luft in den Atem-Stücken, physisch stärker wahrnehmbar, da ich den Eindruck habe, hier halten verschiedene Akteure – ich und die Objekte – die Luft an.

Im Zentrum des Ausstellungsraums hat Sposati eine mit Stuttgarter Erde bemalte Halbrotunde als Referenz an ihr Werk Earth Anatomical Theatre (2014, Bienal de Bahía) bauen lassen, die Ausgrabung einer Negativform eines Rundtheaters. Auf der Außenwand ist eine handgefertigte Skizze der Künstlerin angebracht, die die Ausstellung als Klangverstärker markiert. Sie nennt das Gebäude mit seiner Umkehrung des Erdinneren ins Erdäußere ein „vor-phonosophisches Instrument“, das zum einen an die Kolonialisierungsgeschichte Brasiliens und die Ausbeutung von erdgebundenen Ressourcen erinnern soll, zum anderen versteht sie die Halbrotunde als eine Erinnerung an Töne, die durch das Earth Anatomical Theater verstärkt werden. Im Dialog mit den Atem-Stücken macht Sposati damit Klang sichtbar – und zwar als stille Frequenz. Sie bezieht sich dabei auf die Idee, dass Stille und Atmung wertvolle Kommunikationswerkzeuge sind. Die Rotunde teilt den Raum auf und schafft einen schützenden Innenraum, in dem sich die fragileren Atem-Stücke aus Keramik oder Ton befinden und die eher wie Blasinstrumente aussehen: mit Stimmbogen, Schalltrichter und einem Mundstück, befestigt auf Metallstangen.

Camila Sposati, „Dvarza,“ 2011, Videostill

Camila Sposati, „Dvarza,“ 2011, Videostill

Sposati öffnet mit der Rotunde den dahinterliegenden Raum für weitere Setzungen und Kontexte, die nicht unmittelbar mit Brasilien in Zusammenhang stehen. Zeichnungen und Fotografien stellen die Erdenergien unter der Erdoberfläche und Ausgrabungsstätten der in der Bronzezeit angelegten Siedlung Gonur Depe in Turkmenistan dar. Eine Bodenprojektion zeigt den seit Jahrzehnten brennenden und kontrolliert Methan ausströmenden Krater von Derweze, auch genannt das „Tor zur Hölle“. Diese Werke markieren in der Ausstellung verschiedene Zeiten, Räume und physische Zustände, und ich lese sie als Dokumentation von Sposatis eigenen Forschungsbewegungen an Orte, wo die Verstrickungen zwischen Kapitalismus, der Ausbeutung von Arbeiter*innen und Umweltzerstörung sichtbar sind. Das Feld ist hier weit aufgemacht, und Bezüge zum Amerindianischen Perspektivismus scheinen hier nur indirekt mit der Frage nach der Wertigkeit peripherer Ressourcen angedeutet.

Es wäre interessant, zu wissen, ob für die Besucher*innen das radikal erscheinende Konzept des Perspektivismus, in dem jedes Objekt mit Leben versehen ist, mithilfe der Kunst nachvollziehbar wird, auch wenn sie noch nie die vegetative Dichte erfahren und die heiße Feuchtigkeit des Amazonas eingeatmet haben. Nicht zuletzt drängt sich die Frage auf, weil die Künstlerin diese erkenntnistheoretische Grundhaltung in ihrer Begleitbroschüre absteckt und beschreibt. Meiner Ansicht nach ist der Amerindianische Perspektivismus ein auffallend multisensorisches, energetisches und weniger ein visuelles oder theoretisches Phänomen, wenngleich Anthropolog*innen wie Eduardo Viveiros de Castro und andere ihre wissenschaftlichen Ansätze darauf ausgerichtet haben. Sposati evoziert mit ihren Arbeiten die Frage: Können Objekte atmen?

Eduardo Viveiros De Castro, auf den sich die Künstlerin in erster Instanz bezieht, ist spätestens seit dem „Animismus“-Projekt Anfang der 2010er Jahre auch einer deutschen Kunst-Community bekannt. Die Schriften des brasilianischen Forschers zum Perspektivismus untersuchen die Essenz des Selbst innerhalb Indigener Gesellschaften des Amazonasgebiets. [1] Die Urmythen kennen keinen Unterschied zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen. Auf das Werk Sposatis angewendet, spielt es keine Rolle, ob die Künstlerin mit einem Naturmaterial ein Instrument formt, das der täglichen Bewässerung bedarf, oder Tiere füttern würde, beide gelten im Amerindianischen Perspektivismus als beseelte Selbste (selves). [2] Auch Menschen gehören in diese Kategorie. Alle diese Selbste begegnen und verbinden sich untereinander, sind folglich Subjekt und Objekt gleichermaßen, ein Anderes gibt es nicht. Tiere als eine Verkörperung der Natur beispielsweise werden in der amazonischen Kosmologie als Menschen (und in Folge als kulturelle Wesen) in anderer äußerer Form verstanden. [3] Der Mensch gilt im Perspektivismus nicht als übergeordnete, gebildete Instanz, wie er in unserem westlichen populären Verständnis, auch im Sinne der „anthropologischen Differenz“ [4] , verankert ist. „Alles war menschlich, aber alles war nicht eins“, schreiben die Philosophin Deborah Danowski und De Castro in ihrem Buch In welcher Welt leben? [5] Es gibt keine Hierarchie der Wesen, kein oben und kein unten. Und natürlich auch dann nicht, wenn das Objekt allein und still im Raum steht. Danowski und Viveiros de Castro sprechen auch davon, dass die Aufgabe Indigener Praxen wie des Schamanismus darin besteht, „kosmische Diplomatie“ zu betreiben, falls der „Geist“ des Animismus uns Menschen mit Krankheiten oder Jagdunfällen befällt. [6] Wenn er dies tun kann, dann können auch Sposatis Atem-Stücke atmen, wie ihr Titel bereits suggeriert.

„Camila Sposati: Atem-Stücke,“ ifa-Galerie Stuttgart, 2023, Ausstellungsansicht

„Camila Sposati: Atem-Stücke,“ ifa-Galerie Stuttgart, 2023, Ausstellungsansicht

Wir müssen beim Durchschreiten der Werke Sposatis nicht unbedingt an die „Geister“, die aus menschlichen, animalischen, vegetarischen und anderen Anteilen bestehen, [7] denken; in diesem konzeptuellen Setting unterscheidet sich Sposatis (und Viveiros de Castros) Ansatz auch von anderen künstlerischen Praxen, die sich mit der Dezentrierung des Menschen und der Neubewertung von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen in ein Welt- und universelles (weitgehend weißes) Gefüge – man denke an den Posthumanismus und den Neuen Materialismus bei Jane Bennett, Karen Barad oder Rosi Bradotti – beschäftigen. Die belebten Selbste, im Amerindianischen Lebensbereich als mündliche Tradition der speziesübergreifenden Kommunikation und oftmals auch als Grundlage heilender Tätigkeit angesehen, wenn es um Pflanzen geht, sind konzeptuell mit den Tonobjekten und auch mit den Objekten in der Ausstellung und im Außenbereich in Verbindung gesetzt. Um die Bedeutung der mündlichen Erfahrung mit diesen Objekten zu betonen und als Brücke zu den Besucher*innen der Ausstellung hat die Künstlerin ausstellungsbegleitende performative Konzerte mit dem Theater Rampe organisiert, in denen die Atem-Stücke zum Klingen gebracht werden – durch das Publikum oder Mitarbeitende der IFA-Galerie. Als Teil der Ausstellungsvorbereitungen entstanden mit dem Stuttgarter Bureau Baubotanik im Rahmen des mehrjährigen Installations- und Theaterprojekts Theater of the Long Now auf einer Brachfläche weitere Instrumente, für die mit Sonden drei Löcher in den Boden gebohrt und mit Mundstücken abgeschlossen wurden (Digging for Samples in the Theatre of the Long Now). Auf diese Weise schuf Sposati einen weiteren Resonanzraum ins Erdinnere, mit dem sie in die Erde blasen und für die Erde spielen konnte. In Videos sind diese Außenprojekte nachzuhören.

In multidimensionaler Perspektive hat die Künstlerin folglich die Instrumente der Ausstellung in ein Netz von sich ergänzenden Fragestellungen an das Publikum eingewoben und zu einem Abbild ihrer „radikalen Recherche“ (Sposati) gemacht. Fragen nach grenzüberschreitender Forschung, der Auflösung westlich-anthropozentrischer Standpunkte und dem Wert verkörperter Erfahrung und multisensorischer Wahrnehmung, die die Künstlerin stellt, kann die Ausstellung nur im Sinne einer Poetik des Realen andeuten. Ihre performativen Elemente sind wichtiger Bestandteil für das Publikum, um über das Sichtbare in einen Erfahrungsraum zu gelangen. Sposatis Kernkonzepte, die sich um Koexistenz, speziesübergreifender Kommunikation bis hin zur Aufhebung der Naturgesetze von Raum und Zeit drehen, sind zwar subtil in ihr Werke eingelassen, sie wirklich zu erfahren, dessen bedarf es der konkreten Belebung.

„Camila Sposati: Atem-Stücke“, IFA-Galerie Stuttgart, 13. Mai bis 20. August 2023, und IFA-Galerie Berlin, 3. November 2023 bis 4. Februar 2024.

Susanne Neubauer, Dr. phil., ist Kuratorin und Kunsthistorikerin mit den Forschungsschwerpunkten Paul Thek, Dokumentationsstrategien für ephemere Kunst und brasilianische Kunst im Kontext globaler Verflechtungen. Sie ist zudem Sammlungskuratorin des Werks von Reinhard Voigt.

Image Credit: 1.+ 3. Fotos Juergen Bubeck 2. © Camila Sposati

Anmerkungen

[1]Eduardo Viveiros de Castro, „Exchanging Perspectives: The Transformation of Objects into Subjects in Amerindian Ontologies“, in: Common Knowledge, 10, 3, S. 463–484; deutsch in: „Perspektiventausch. Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien“, in: Irene Albers/Ansel Franke, Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2012, S. 73–93.
[2]Eduardo Kohn, How Forests Think. Toward an Anthropology beyond the Human, Berkeley: University of California Press, 2013, S. 16, 73.
[3]Es gibt weitere Nachfolger von Lévi-Strauss nebst Viveiros de Castro: Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Frankfurt 2013; Ders., La nature domestique: symbolism et praxis dans l’écologie des Achuar, Paris 1986; Nurit Bird-David, „Animism Revisited. Personhood, Environment, and Relational Epistemology“, in: Current Anthropology, 40, Supplement, Februar 1999, S. 67–91.
[4]Markus Wild, Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin/New York 2006.
[5]Deborah Danowski/Eduardo Viveiros de Castro, In welcher Welt leben?, Berlin 2019, S. 86.
[6]Ebd. S. 87.
[7]„Geister“ auch von Danowski/Viveiros de Castro mit Anführungszeichen geschrieben. Ebda., S. 168, FN 42.