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WAS HEISST „ANTI“? VON CHRISTOPH MENKE

Das Septemberheft „Anti-Antisemitismus“ von Texte zur Kunst enthält eine Vielzahl von Behauptungen und Beurteilungen, die im höchsten Maß strittig sind und scharfen Widerspruch hervorrufen. Na und? Wenn Urteile strittig sind, streitet man über sie. Das kann heftig werden, und es ist nicht zu erwarten, dass man übereinstimmt. Aber wenn es gut geht, klären sich die Fronten.

So einfach ist es hier aber nicht: Das Heft und die bisherigen Reaktionen darauf zeigen, dass es nicht nur um einzelne Urteile dafür oder dagegen geht, sondern dass die Möglichkeit des – intellektuellen, theoretischen, moralischen, politischen usw. – Streits als solche infrage steht. Das gilt offensichtlich besonders für bestimmte Gegenstände. Wenn es nämlich um koloniale Vergangenheit, geschlechtergerechtes Sprechen und Rassismus geht, geht es auch darum, ob und worüber überhaupt gestritten werden kann und wogegen und wie man auf andere Weise – ausgrenzend, absagend, delegitimierend, boykottierend – reagieren muss. Diese Frage – „Worüber kann man streiten und was muss man boykottieren?“ – läuft immer mit. Das Heft „Anti-Antisemitismus“ betrifft diese Frage im Zentrum. Aber wird sie in dem Heft gestellt und behandelt? Diesseits oder jenseits aller inhaltlichen Urteile, die in diesem Heft strittig sind, hat es ein methodologisches Problem. Das heißt: ein Problem des Zugangs und des Vorgehens. Es liegt darin, dass unklar bleibt, was „Anti-Antisemitismus“ heißt. Was heißt „Anti“?

„Anti“ heißt gegen. Der Titel des Hefts proklamiert eine Gegnerschaft, eine Haltung gegen (den Antisemitismus). Wenn man sich gegen etwas wendet, muss es auch eine andere Haltung geben, die von anderen eingenommen wird. Und schon damit fängt das Problem an. Denn gegenüber dem Antisemitismus kann man nicht diese oder jene Haltung einnehmen. Zum Antisemitismus gibt es nur eine Haltung. Es gibt Anti-Antisemitismus, aber es gibt keinen Pro-Antisemitismus. Anti-Antisemitismus ist eine Haltung ohne Gegenposition, ein Anti ohne Pro.

Aber gibt es nicht Antisemit*innen? Gibt es nicht solche, die offensiv eine antisemitische Position einnehmen? Natürlich gibt es die, aber um die es geht in diesem Heft gar nicht. Es ist keine Abrechnung mit Chamberlain, Gobineau, Treitschke und ihren geschichtlichen Erben und Wiedergängern. Keine der Positionen, gegen die sich das „Anti“ dieses Hefts richtet, ist pro-antisemitisch, so wie jene es waren oder sind. Und das behaupten die Beiträge des Hefts auch nicht. Sie behaupten nicht, dass Badiou, Barghouti, Butler, Mbembe etc. pro-antisemitisch sind. Das wäre schlicht absurd. Aber wenn die im Heft diskutierten Positionen nicht pro-antisemitisch sind: Wogegen richtet sich dann der Anti-Antisemitismus des Titels? Und wie praktizieren und definieren die Beiträge ihr Dagegensein? Das wird, je länger man in dem Heft liest, immer unklarer. Und diese Unklarheit ist nicht harmlos; man kann sich nicht darauf berufen, dass es ja nicht um „Wissenschaft“ gehe (sondern um Haltung?). Denn diese Unklarheit frisst nicht nur die Erkenntnis an, sondern betrifft das Heft in seiner ethischen und politischen Substanz.

Wenn die Positionen, gegen die sich das Heft wendet, nicht pro-antisemitisch sind, dann muss anti-antisemitisch zu sein etwas anderes meinen und fordern, als – endlich! – entschlossen und mutig der antisemitischen Propaganda, Hetze und Gewalt entgegenzutreten. Die Resolution des Bundestags gegen BDS hat sich in dieser Pose gefallen, ohne sich die Frage zu stellen, die dem hätte vorausgehen sollen: woher der Bundestag denn weiß, dass diejenigen, die Institutionen und Personen in Israel im Namen des Antirassismus boykottieren wollen, in Wahrheit Antisemit*innen sind. Genau dieser Frage gehen hingegen mehrere Beiträge in dem Heft nach. Sie definieren ihr Dagegensein daher anders: Es richtet sich gar nicht primär oder vor allem gegen den Antisemitismus – das ist ja eh klar –, sondern gegen seine Verdeckung, Verleugnung, Verbergung und Verdrängung. Anti-antisemitisch zu sein heißt für sie daher nicht schon, sich gegen den Antisemitismus zu stellen, sondern ihn aufzuspüren, zu erkennen, ihn dingfest, explizit, namhaft usw. zu machen. Es geht also um Aufdeckung, Detektivarbeit, Spurenlesen – um eine kritische Hermeneutik, die ausgräbt, was unter der Oberfläche liegt.

Wie aber funktioniert diese kritische Hermeneutik der Antisemitismus-Enthüllung? Das bleibt hier an vielen Stellen im Dunklen. Wie etwa verfährt der Nachweis, dass, wer Israel boykottieren will, damit in Wahrheit antisemitisch ist? Liegt das an den dahinterliegenden Motiven? Aber wie weiß ich von denen? Liegt es an der Ähnlichkeit dieses Boykotts mit dem Boykott jüdischer Geschäfte und Einrichtungen in Nazideutschland? Aber gleicht ein Boykott dem anderen (wie war das mit Südafrika?)? Liegt es daran, dass bestimmte Anhänger*innen der Boykottpolitik von BDS nicht strukturell zwischen Rassismus und Antisemitismus unterscheiden? Aber weshalb sollte das bereits in sich selbst antisemitisch sein? Liegt es an der Nähe des kritisierten Israelboykotts zu anderen Positionen, die auch so etwas sagen und bei denen der Antisemitismus offensichtlich(er) ist? Aber kann man durch Berührung schuldig werden? Liegt es an den Folgen des geforderten Boykotts, weil er also dem Antisemitismus Vorschub leisten kann? Aber wem sind diese Folgen zuzurechnen? Vieles davon bleibt hier unbeantwortet.

Das hat vor allem einen strukturellen Grund; immer wieder kommen sich im Heft die beiden Bedeutungen von „Anti“(-Antisemitismus) in die Quere: die Bekämpfung als Bekämpfung einer unmoralischen Position und seine Aufdeckung als Aufdeckung eines verborgenen Motivs. Oder ist schon die Idee einer kritischen Hermeneutik, die auf die Aufdeckung von verborgenem Antisemitismus zielt, ein widersprüchliches Vorhaben? Zwar sind die Haltungen der Hermeneutik und der Kritik in sich selbst durch Machtansprüche und -strategien definiert; das ist in den letzten Jahrzehnten rauf und runter diskutiert worden. Aber bei aller Übermächtigung, die diesen Haltungen eingeschrieben ist, richten sie sich auf ihren Gegenstand immer noch so, dass sie nicht nur über ihn, sondern mit ihm reden. In letzter Instanz zielen Hermeneutik und Kritik auf die Zustimmung des anderen. Ohne diesen Anspruch hängen sie in der Luft.

Aber wenn das so ist, kann es gar keine kritische Hermeneutik geben, die die Position des anderen als, in Wahrheit, antisemitisch aufweist. Denn der Antisemitismus ist das Böse in Gedanken und Gefühlen – so wie die Folter das Böse im Tun ist. „Das Böse“ heißt nicht: das einzige Böse. Antisemitismus ist das Böse in Gedanken und Gefühlen, genauso wie der Rassismus das ist. Und „das Böse“ heißt hier auch nicht: das Böseste (was immer das sein soll), sondern es heißt: das unbedingt Böse. Denn es gibt keine Bedingung, unter der Antisemitismus und Rassismus und Folter nicht böse wären (während unter bestimmten Bedingungen Hass und Verachtung, auch die Tötung und Verletzung eines anderen nicht böse wären). Also reicht es aus, zu sagen: Das ist antisemitisch, um es bereits allein damit unbedingt zu verurteilen.

Das ist das Problem: Man kann nicht anti-antisemitisch in beiden Bedeutungen zugleich sein. Entweder man betreibt kritisch aufdeckende Hermeneutik – dann bleibt man in einem diskursiven Raum mit der anderen Position. Oder man identifiziert eine Position als antisemitisch – dann bekämpft man sie als unbedingt böse. Die Schwäche – wenn man so will: der Grundwiderspruch des „Anti-Antisemitismus“ – ist, dass er die Debatte zugleich eröffnen will und beenden muss. Und das ist schlecht für beide Seiten; der Kampf wird schwach und halb zurückgenommen (es war ja nur als Kritik gemeint!), die kritische Hermeneutik wird ungenau und vorurteilsbeladen (es geht ja nicht um Erkenntnis, sondern um Bekämpfung!).

Es gibt immer wieder Überlegungen in dem Heft (ich habe sie vor allem in dem Gespräch mit Delphine Horvilleur und in dem Artikel von Noit Banai und Sabeth Buchmann gelesen), die einen Ausweg aus diesem Dilemma weisen können. Denn sie praktizieren eine Untersuchungsweise des Antisemitismus, die anders funktioniert. Jene verstehen ihn nicht als eine Überzeugung, ein Gefühl, eine Haltung, eine Programmatik, die man Personen als mehr oder weniger bewusste Einstellung zurechnen kann, sondern sie untersuchen, wie der Antisemitismus Diskurse, Darstellungen, Bilder, Institutionen usw. bestimmt; wie er in diesen Feldern auf- und abtaucht, sich verzweigt, mit anderen Komplexen verbindet, neue Namen annimmt. Kurz: Sie definieren ihn als eine Konstellation und können dadurch seine Antriebskräfte, seine Strukturen, seine Persistenz, ja, Ubiquität vielleicht viel besser erfassen, als wenn man sie in dem verborgenen und sich verbergenden Inneren von Akteur*innen aufspüren will. So erkennt man viel mehr. Allerdings bekämpft man damit nicht schon zugleich den Antisemitismus. Gerade indem diese Beiträge zeigen, wie man den Antisemitismus besser, ja, allein erkennt, stellen sie die Frage scharf, die die kritischen Hermeneutiker*innen sich nie stellen müssen, weil sie immer schon beides zugleich zu leisten beanspruchen: in welchem Verhältnis Erkennen und Bekämpfen zueinander stehen.

Christoph Menke ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.