ALLES NEUE IST EINE KRITIK DES BESTEHENDEN Diedrich Diederichsen über „Open Creation and Its Enemies“ von Ellef Prestsæter
Was erzählt man einer heute auf das 20. Jahrhundert schauenden, aber erst an dessen Ende oder im 21. geborenen Generation über Asger Jorn? Vielleicht, dass ihn schon in den 1950ern all das Unbenannte, Geahnte und nicht Gewusste interessierte, was dann ein halbes Dutzend Jahrzehnte lang alle interessierte, nachdem es einen Namen bekommen hatte? Das Populäre, der Abfall bürgerlicher Kultur, der Trash und der schlechte Geschmack, die queeren Perspektivwechsel von Camp, das Othering und De-Othering der Ethnologie, Artistic Research, das Recht des Imaginären über das Diskursive, das Wissen der Ausgeschlossenen, aber zugleich das poetische Potenzial gerade der exakten Wissenschaft auf dem neuesten Stand. All diese Namen, Konzepte und damit verbundenen Gebrauchsanweisungen, Gruppenausstellungen, normativen Ordnungen und Manuale gab es noch nicht, als Asger Jorn sich für ihre Vorläufer interessierte. Aber war das Wissen, dass es sich bei diesen und einigen anderen Komplexen um Desiderate handelte, deren Verfehlung oder Ignoranz eine absolute Grenze der Moderne markierte, möglicherweise von höherem utopischem Rang als all die späteren Versuche, diese Leerstellen nach und nach mit sich darum kümmernder Kunst und Begriffsarbeit zu füllen? Als es später eine auch sogenannte Pop Art gab, verglich Jorn sie mit dem von ihm und Guy Debord entwickelten Buch Fin de Copenhague (1957): Dies sei eine Kritik der bestehenden Öffentlichkeit, jene nicht. Doch alles Neue sei eine Kritik der bestehenden Ordnung.
Oder anders gesagt: Nachdem eine nicht zuletzt marxistisch inspirierte Revolution des täglichen Lebens, die 68er Revolte, an ein Ende gekommen war und die diese besonders avanciert antreibenden Gruppen, wie die Situationistische Internationale, die Black Panther Party oder die Yippies, sich auflösten oder zurückzogen, stürzten sich deren Veteran*innen auf genau die oben aufgezählten Modelle, Formate und Perspektiven. Nun sind die aber ein Ersatz, ein Trost, vielleicht auch ein Neuanfang und nicht mehr die blinden Flecken des früheren Aufstands, als die sie bei Jorn erschienen, bevor die neue Linke sich formieren konnte. Jorns Beitrag war denn auch, das große Übersehene des Marxismus mit diesem zusammenzuführen. Er wählte dafür den Namen Vulgärmarxismus – ein Schimpfwort für subtile, diskussionsfreudige Marxkenner*innen. Statt eines abgestumpften und unterkomplexen Marxismus wollte er durch das Präfix „Vulgär“ einen, der die unabhängige gesellschaftliche Kraft des Künstlerischen anerkennt, statt diese auf ein Symptom oder Repräsentation zu reduzieren. Für sein Buch über Wert und Ökonomie parodierte er das Cover einer Marx-Ausgabe. Einen eigenen Marxismus mit eigener Moral hatte er sich vielleicht auch für die Situationistische Internationale gewünscht, deren Gründungsmitglied er 1957 war und die er 1962 verließ, nachdem Guy Debord und seine Fraktion fast alle bildenden Künstler*innen ausgeschlossen hatten – ohne persönlich mit Debord zu brechen. Er empfahl ihm sogar, wie wir dem hier rezensierten Katalog entnehmen, die recht aggressiv ausgeschlossene Jacqueline de Jong als Kollaborateurin für ein Projekt. Einige der Briefe an Debord sind hier erstveröffentlicht.
Der Katalog richtet sich an ein Publikum, das weder in den Malerstar der 1950er investiert hat noch in den vielseitig interessierten, schreibenden, aktivistischen und forschenden Künstler, der in den 1980ern, etwa zehn Jahre nach seinem Tod 1973, wiederentdeckt wurde, [1] noch in die situationistische Alternative zur autoritär-poetischen Persönlichkeit Guy Debords. Die vielen kurzen Beiträge, Ausschnitte, Materialpräsentationen erfreuen zwar auch das Herz des alten Fans, sie richten sich aber erkennbar an eine neue Leser*innenschaft. Ellef Prestsæter, Herausgeber und Autor der meisten Beiträge, arbeitet am Institute for Computational Vandalism, das dem Museum Jorn in Silkeborg angegliedert ist und sich als aktuelle Fortsetzung des von Jorn gegründeten Institute for Comparative Vandalism unter digitalen Bedingungen versteht. Der Katalog zu einer Ausstellung am IVAM in Valencià mischt einzelne Erörterungen des Herausgebers mit historischen Beiträgen wichtigster, aber nicht immer als solche längst bekannter Weggefährten des Künstlers (z. B. Lawrence Alloway, Michèle Bernstein, Öyvind Fahlström, Gaston Bachelard) sowie mit diversen – meist einschlägigen – Texten von Jorn selbst.
„Open Creation and Its Enemies“, der Titeltrack, ist ein solch einschlägiger Text, an dem deutlich wird, wie Jorns Einfälle (Creations) funktionieren. Obwohl als Anspielung auf Karl Poppers bekanntes Manifest einer Philosophie des Westens im Kalten Krieg, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, erkennbar, hält sich Jorn aber überhaupt nicht an seine selbstgewählte Vorgabe. Er übernimmt einfach den einprägsamen Gedankenohrwurm von Poppers Titel und entwickelt eine Theorie der Kreativität, die diese gerade nicht als einen Raum des historisch ungebundenen, freien Willens, sondern als eine Situation, eine Konstellation aus Fronten und Verbindungen versteht, die eben anders als spätere Ideen von Relationalität nicht leer bleiben darf. Nicht jede Verbindung, nicht jede Konstellation als Variante einer vorangegangenen stellt einen Fortschritt dar, aber die Offenheit als Prämisse darf sich – ernst genommen – nicht hinter einer einmal getroffenen Entscheidung verschanzen. Momente kompletter Unübersichtlichkeit muss man aushalten. Die richtige Entscheidung kann nicht richtig sein, wenn sie nicht auch hätte falsch sein können.
Dieser radikale Fallibilismus des Experiments kennt nämlich im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft des Liberalismus keine Erfolgskriterien (z. B. Profit), unterwandert aber durchaus die Möglichkeit, Kunst zu beurteilen oder in Wert zu setzen, denn sie könnte ja besser sein als das vorliegende Ergebnis oder sich als schlecht herausstellen, wenn sie an die frische Luft geriete. Der Herausgeber streift kurz einen Dissens zwischen T. J. Clark und Benjamin H. D. Buchloh zur Frage, inwieweit Jorn ein großer Maler gewesen sei, um zu zeigen, dass dessen Vorstellung von Erfolg eben an die „Situation“ geknüpft war: daran, den experimentellen Raum offenzuhalten. Das konnte aber, das wusste auch Jorn, nicht allein attraktiv sein, wenn man sich auf Kunst beschränkte. Statt diese aber hinter sich zu lassen oder das Malen zu verbieten, galt es vielmehr, die in der Kunstpraxis gewonnene Haltung auf Wissenschaft, Forschung, Lehre, Archive, Politik, Ethnologie, Aktionen – vor allem aber auf theoretische Texte auszudehnen.
Jorn schrieb gerne Essays, die er mit mathematischen, naturwissenschaftlichen, soziologischen hot topics schmückte und diese für seine Zwecke nutzte, etwa das Erfinden neologistisch betitelter Konzepte wie das der Triolektik; eine Erweiterung der Dialektik, die unter anderem durch die Entwicklung eines Fußballspiels samt Skizze des Feldes für drei Mannschaften ausprobiert wurde. Das klingt frivoler, als es war, zum Beispiel mit der Topologie – also der Mathematik der Verformung, Umstülpung etc. – hat er sich ausgiebig beschäftigt und nach Anwendungen gesucht: sowohl auf dem Mikrolevel von Kunstproduktion wie auf dem Makrolevel gesellschaftlicher Umstülpungen, nun umbenannt und für den Situationismus umgetauft in Sitologie. Neben Naturwissenschaften waren Kinder, Betrunkene, Banalitäten und Maschinen seine wichtigsten kunstfremden Inspirationen. Aber wie sprunghaft und schnell begeistert seine Ideen und Interventionen sich neben der achtsamen Kunstprosa unserer Zeit auch ausnehmen: Sie verfolgen ernste Ziele. Die Ausweitung der Kunstzone ist nicht mit Gewalt, aber auch nicht mit Didaktik herzustellen, sondern nur durch das ruhelose Suchen nach noch unverunsicherten Selbstverständlichkeiten der Kultur, denen man mit radikal einfachen oder einfach nur radikalen Akten begegnen konnte. Doch zu jeder Phase, in der Jorn etwa die schnelle praktische Intelligenz des Betrunkenen lobte, der die ewige Flamme ausgepinkelt hat, gehörte eine gewissenhaft ausgearbeitete Phase der eigenen künstlerischen Arbeit. Besonders wichtig aber waren Freund*innen.
Diesen Verbindungen widmet sich der Katalog ausgiebig, aber auch misslungenen Beziehungen und einer frühen feministischen Kritik an seinem ins Ahistorische kippenden ewigen Avantgardismus. Und das Buch präferiert die vielen, nicht unmittelbar zu großen Ölbildern führenden Episoden: von der Ikonologie des Rades zur Kunstgeschichte der Schleifen, Knoten und Ornamente, von Filmexperimenten zum Kampf gegen die USA, die Jorn wegen ihres Antikommunismus boykottierte und deren Ehrungen er verweigerte, zum Büchermachen und der Apologie des Neuen als der immer berechtigten Kritik des Bestehenden. Diese Mischung aus Archivpräsentation, zeitgenössischer Debatte, klug zusammengestelltem Resümee früherer Auseinandersetzungen ist so pragmatisch wie elegant. Sie verdankt sich auch einem innovativen Museum, dem IVAM in Valencià. Dessen auch für diese Ausstellung und ihren Katalog verantwortliche Direktorin Nuria Enguita wurde, während ich dies geschrieben habe, von der neuerdings an der Regionalregierung der autonomen Region Valencià beteiligten rechtsextremen Vox-Partei aus dem Amt gemobbt. Wehret den Anfängen! Nein, es sind ja leider schon keine Anfänge mehr.
Open Creation and Its Enemies: Asger Jorn in Situation, Ausst.-Kat., hg. von Ellef Prestsæter, Institut Valencià d’Art Modern – Centre Julio Gonzalez, Valencià, 2023, 284 Seiten.
Diedrich Diederichsen hat gerade die Essaysammlung Das 21. Jahrhundert bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht.
Images credit: 1. + 3. Courtesy of IVAM, Valencia; 2. CC BY-SA 4.0
Anmerkung
[1] | Etwa durch Arbeiten wie Roberto Ohrt, Phantom Avantgarde: Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg 1988, oder Greil Marcus, Lipstick Traces: A Secret History of the Twentieth Century, New York 1989. |