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MIT DER „DOCUMENTA FIFTEEN“ LERNEN Beatrice von Bismarck über unausgeschöpfte Potentiale und kuratorische Gastfreundschaft

Asian Art Archive im Fridericianum, 2022, Installationsansicht

Asian Art Archive im Fridericianum, 2022, Installationsansicht

Im vorletzten Beitrag unserer Reihe „Documenta Debrief“ eröffnet Beatrice von Bismarck Perspektiven auf die „documenta fifteen“, an die sich im Zuge eines produktiven Lernprozesses anknüpfen ließe. Dazu kehrt die Kunstwissenschaftlerin Aspekte hervor, die für ruangrupas kuratorischen Ansatz wesentlich sind. Stets in enger Verbindung mit gesellschaftlichen Zusammenhängen agierend, begreift das Kollektiv seine Arbeit als einen kontinuierlichen Prozess und betont dabei nicht zuletzt die Bedeutung von Relationalität und Situativität. An ruangrupas Konzept anknüpfend macht sich von Bismarck für ein kuratorisches Gastfreundschafts-Dispositiv stark, das auf die vielschichtigen, dynamischen Beziehungsgeflechte aufbaut, die im Rahmen der „documenta fifteen“ entstanden. Auch wenn die Rezeption sie bislang nicht ausreichend in den Blick nahm, könnte von ihren Potentialen zumindest zukünftig profitiert werden.

In der diskursiven Gemengelage, durch die wesentliche Spezifika der „documenta fifteen“ von der Antisemitismus-Debatte überwölbt wurden, sind die kuratorischen Merkmale der Ausstellung und ihre Potenziale – nicht zuletzt gerade für diese Debatte – unsichtbar geworden. Dabei hat die „documenta fifteen“ eine Reihe von Parametern, die bislang den kuratorischen Diskurs bestimmten – ästhetische, politische, soziale und ökonomische –, relativiert, infrage gestellt und neu ausgerichtet. Zudem hat sie in ihrer transkulturellen integrativen Struktur mit besonderem Nachdruck blinde Flecke augenscheinlich werden lassen, wenn es um die Bedingtheit kuratorischer Situationen geht. Denn mit den sichtbarkeitspolitischen Dimensionen der „documenta fifteen“ wurden auch die Prämissen kuratorischer Gastfreundschaft auf die Probe gestellt.

Die zahlreichen Verschiebungen von Konventionen im Feld des Kuratorischen fungierten dabei als Voraussetzung der Krise, mit der sich das kuratorische Versammeln im Öffentlichen hier in ganz grundsätzlicher Weise konfrontiert sah, zugleich aber auch als Ausdruck der langjährigen an den ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen im globalen kuratorischen Feld geäußerten Kritik. ruangrupa haben mit ihrer Einladung an Kollektive, die maßgeblich aus dem globalen Süden kommen und in unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Kontexte ausgreifende, kooperative Arbeitsstrukturen und -prozesse praktizieren, eine Akzentsetzung vorgenommen, die künstlerische Praxis aus ihrer gesellschaftlichen Bezugnahme heraus begreift. Professionelle Ausdifferenzierungen, wie diejenige zwischen den Rollen und Positionen von Künstler*innen, Kurator*innen oder Wissenschaftler*innen, verloren darin ihre Relevanz ebenso wie die jeweils an solche Positionen geknüpften Privilegien und Statuszuschreibungen. In ihrer Struktur verweigerte sich die Ausstellung zudem gegenüber eindeutigen Autor*innenschaftszuordnungen an einzelne Individuen oder fest definierte Gruppen und favorisierte fortlaufende, sich verändernde und sich erst in den Umgangsweisen manifestierende Prozesse. Sie brachte Arbeitsweisen zum Tragen, die quer zu den Bereichen von Kunst, Theater, Aktivismus und Protest, Archivarischem, Lehre, Forschung und Sozialarbeit verliefen und die diese in offenen Praxisverläufen mal loser und mal enger untereinander verknüpften. Zu den besonderen Merkmalen, die die „documenta fifteen“ durch diese Struktur hervorbrachte, gehören daher sicherlich die Anstöße, die Logik der ökonomischen oder symbolischen Kapitalisierbarkeit von künstlerischen oder kuratorischen Positionen und ihrer Produktion in und durch Großausstellungen zu irritieren, wenn nicht zu unterlaufen. Alternativ wurde mit Formaten wie der lumbung Press eine Herangehensweise operativ, die sich flexibel und situativ an den ökonomischen, ästhetischen und sozialen Bedürfnissen der Kollektive und Gemeinschaften ausrichtete, um über je unterschiedliche Ausgestaltung von Produktion, Distribution und Vermarktung von Druckerzeugnissen zu entscheiden.

Foundation Festival sur le Niger, „Yaya Coulibaly, The Wall of Puppets“, 2022, Installationsansicht

Foundation Festival sur le Niger, „Yaya Coulibaly, The Wall of Puppets“, 2022, Installationsansicht

Während kuratorische Relationalität und Situativität in dieser Weise verändernd für die Ausgestaltung der ökonomischen Strukturen eingesetzt wurden, blieb das Potenzial von zwei weiteren kuratorischen Besonderheiten der „documenta fifteen“ in ihrer gestalterischen Wirkungsmacht unausgeschöpft: die transpositorische Bedeutungsstiftung und die Agentialität dynamischer Relationen. [1] So zeichnete die Ausstellung zum einen aus, dass sie Praktiken des Öffentlich-Werdens betonte – des Präsentierens, Aufführens, des demonstrativen Vorzeigens, des Hörbar- und Sichtbar-Werden-Lassens, des veranschaulichenden Nachfahrens und Vorzeichnens. Sie unterstrich damit Akte des Transfers ins Öffentliche, die als Transpositionen nicht nur zwischen unterschiedlichen Aktivitäts- und Wissensgebieten, sondern auch zwischen historischen und gegenwärtigen Zeiten, Regionen und Kulturen erkennbar blieben. Diese transpositorischen Akte – verstanden als spezifische Positionierungen, als Ergebnis von Bewegung [2] – betreffen alle an der kuratorischen Situation Beteiligte – die menschlichen (Künstler*innen, Kurator*innen, Besucher*innen etwa, die Aufbauteams, Rezensent*innen oder Beiratsmitglieder) ebenso wie die nichtmenschlichen (künstlerische Arbeiten, Display-Gegenstände, Architekturen, verwendete natürliche Materialien, aber auch Diskurse und Protokolle). Sie führen zu Bedeutungsveränderungen, wie sie mit De- und Re-Kontextualisierung einhergehen und unabdingbare Konsequenz des kuratorischen Öffentlich-Werdens sind. Inbegriffen sind Appropriation, Unterwerfung und Neutralisierung, Auswirkungen also, die die kuratorischen Akte der Verknüpfung menschlicher und nichtmenschlicher Beteiligter untereinander im politischen Sinne jenseits einer positiv konnotierten Kollektivität und Gemeinsamkeit zur Folge haben können. Außerdem rücken in diesem Kontext die Momente ungeschützter Exponiertheit in den Vordergrund. Dass diese offensichtlich immer auch konfliktbehafteten bedeutungsverändernden Transpositionsakte – von denen Rosi Braidotti als „reworking the interrelations of different differences“ spricht [3] – weder in ihren Erkenntnis schaffenden Effekten noch in denen, die auf Unterordnung und Funktionalisierung dringen, differenziert und explizit adressiert, problematisiert und vermittelt wurden, gehört zu den Unzulänglichkeiten der „documenta fifteen“ und des um sie geführten Diskurses.

Zum anderen war die „documenta fifteen“ geprägt von der Vielschichtigkeit unterschiedlicher, sich verändernder, multidirektionaler und sich durchkreuzender Beziehungen sämtlicher Mitwirkender untereinander. Während dynamische Relationalität zu den Grundbedingungen des Kuratorischen zählt, hat sie durch die Vielzahl menschlicher und nichtmenschlicher Teilnehmender und deren bereits angesprochenen offensichtlich nicht ausdifferenzierten funktionalen oder professionellen Zuordnung mit der „documenta fifteen“ einen besonderen Grad an Komplexität gewonnen. Die menschlichen und nichtmenschlichen Mitwirkenden traten in einem Zeitraum, der vor der eigentlichen Laufzeit der Ausstellung anzusetzen ist und die aktuelle Nachlese miteinschließt, in ephemere, sich kontinuierlich in ihrer Bedeutung und Bewertung modifizierende Beziehungen untereinander. Mit der bislang höchsten Zahl an Mitwirkenden einer Documenta, die die Kollektive und ihre Teilnehmer*innen, sämtliche der verschiedenen in die Vorbereitung, den kuratorischen Prozess und die Präsentation der „documenta fifteen“ Eingebundenen einschließt, waren deren materielle und diskursive Beiträge und Medien, die sozialen, architektonischen, urbanen und institutionellen Gegebenheiten des Ortes, die institutionellen Instanzen und Mitglieder des internationalen Beirats, der documenta-GmbH und der Gesellschafter der Documenta (die Stadt Kassel und das Land Hessen), die künstlerische Leitung und die öffentlichen Medien in das Beziehungsgeflecht verwoben. Diese Beziehungsdichte verschränkte sich mit der gerade für transkulturelle Ausstellungen wesentlichen Berücksichtigung der vormaligen Beziehungen, aus denen sich die Mitwirkenden für ihre Teilnahme an der „documenta fifteen“ herausgelöst haben. In einer Erweiterung von Arjun Appadurais Definition des „social life“ [4] der menschlichen und nichtmenschlichen Teilnehmer*innen haften ihnen die Wertigkeiten und Funktionen, die sie im Rahmen früherer Umgangsweisen erhalten haben, weiterhin an und entwickeln in jedem neuen kuratorischen Zusammenhang eigenständige agentiale Wirkung. Insofern treffen in Ausstellungen nicht nur die aktuellen Gebrauchsweisen und Bedeutungen der Menschen und Dinge aufeinander, sondern ihre vormaligen sind mit vergleichbarer Macht ausgestattet, um an der Gestaltung der Beziehungen mitzuwirken. Eine gegenseitige Vermittlung des „sozialen Lebens“ der Teilnehmenden untereinander bereits in den Vorbereitungsphasen der „documenta fifteen“ hätte die Präsenz antisemitischer Motive ebenso vermeiden können, wie sie die temporären und teilweise widerstreitenden Bedeutungsebenen und Funktionen der Teilnehmenden in ihren Kontexten zum Teil der kuratorischen Situation hätte werden lassen können.

Gudskul im Fridericianum, 2022, Installationsansicht

Gudskul im Fridericianum, 2022, Installationsansicht

Dass die Konsequenzen des Aufeinandertreffens von in unterschiedlichen Kontexten geprägten Bedeutungen für die Debatte um die „documenta fifteen“ auf mehreren Ebenen weit davon entfernt war, sinnstiftend fruchtbar gemacht zu werden, verweist darauf, dass die Potenziale des kuratorischen Gastfreundschafts-Dispositivs weitgehend ungenutzt blieben, und dies, obwohl es sich bei dem Verhältnis von Gast*Gästin zu Gastgebenden im Rahmen von Gastfreundschaft um einen Leitgedanken von ruangrupa für die Ausstellung handelte. [5] In dem Zusammenhang soll nicht etwa einer affirmativen Gleichsetzung von Gastfreundschaft mit Großzügigkeit das Wort geredet, sondern im Gegenteil die machtdurchzogene, ambivalente Grundstruktur des Kuratorischen in seinen Aushandlungsmöglichkeiten in den Blick gerückt werden. Geht man davon aus, dass jede kuratorische Situation eine der Gastfreundschaft ist, insofern sie Einladungen, Willkommenheißen, aber auch gegenseitiges Fremdsein von Gastgebenden und Gäst*innen impliziert, ist damit zugleich auch angesprochen, dass über Ein- und Ausschluss, über die Verteilung von Ressourcen (Raum, Zeit, Finanzen, Aufmerksamkeit) ebenso wie über die Möglichkeiten entschieden wird, Bedingungen, Gesetze oder Protokolle des Aufenthaltsortes entweder aufstellen zu können oder aber sich ihnen unterzuordnen. Als eine Schwellensituation ist die kuratorische Situation im Sinne eines Gastraums Ort des Aufeinandertreffens von Menschen und Dingen, die unterschiedlichen Kontexten entstammen und von unterschiedlichen Bedingungen des Zusammenkommens ausgehen. Über diese Bedingungen des Zusammenkommens gilt es, sich auszutauschen und zu verständigen; sind sie doch überwiegend implizit angelegt und unausgesprochen: Aus welcher Position heraus erfolgt die Verteilung der Ressourcen, wer kann sie annehmen oder ablehnen, wem kommen sie zugute oder schaden sie, welche Gewinne stehen für die jeweils an der kuratorischen Gastfreundschaft Mitwirkenden in Aussicht und in welcher Währung werden sie ausgezahlt? Sichtbarkeit – genauer: eine andere Sichtbarkeit – ist das Gut, das im kuratorischen Gastfreundschafts-Dispositiv auf dem Spiel steht. In diesem Ringen um eine andere Sichtbarkeit, in das im Fall der „documenta fifteen“ auch alle der an den diskursiven Kontroversen Mitwirkenden einbezogen waren, ist entscheidend, dass die für Gastfreundschaft wesentliche Unverfügbarkeit der Gäst*innen darin keine Beachtung fand, resultierend aus der temporären Gegebenheit der Gäst*innen, die nur vorübergehend anwesend sind und sein dürfen. Das Zeitweilige, Flüchtige, Vorübergehende, das den Charakter von Gastlichkeit ausmacht, kennzeichnet die Gäst*innen als räumlich und zeitlich unfixierbar. [6] Die Annahme, dass sich diese stets den Regeln der Gastgebenden zu unterwerfen haben, ja, dass die Rollen von Gäst*innen und Gastgebern unverrückbar feststünden, hat die „documenta fifteen“ mit den Arbeitsweisen der Kollektive untereinander und im Verhältnis zu künstlerischer Leitung, documenta GmbH und den Gesellschaftern unterlaufen. Stattdessen weisen die auf der „documenta fifteen“ vertretenen Praktiken die Möglichkeit eines gegenseitigen Sich-zu-Gast-Werdens auf, mit dem Aufgaben, Positionen, Rahmungen und Profile ebenso relational, dynamisch und mit wechselnden Zuordnungen definiert werden können wie Werte, Wissens- und Praxisformen. In diese temporäre Zuweisung eingeschlossen ist die Übernahme von Verantwortung, wie sie wiederholt eingefordert wurde, wenn sie nicht die Bestätigung und Fortsetzung der Regularien bedeuten soll, sondern mit Derrida immer auch den „dissidenten und erfinderischen Bruch mit der Tradition, der Autorität, der Orthodoxie, der Regel oder der Doktrin“ meint. [7] Diese Praktiken auch für die Documenta-Situation als Ganze in Anspruch zu nehmen, hätte mit dem sich gegenseitig Zu-Gast-Werden bedeutet, auch die verschiedenen Rollen, nicht nur die von ruangrupa oder der Kollektive, sondern auch des Beirats, der Stadt Kassel oder der documenta GmbH, in Aufgabe und Status als nachdrücklich temporär aufzufassen. Die „erfinderische“ Revision jener Bedingungen im kuratorischen Feld, die hinter der gastfreundschaftlichen Ethik scheinbar unsichtbar werden, ist darin ebenso angelegt wie Formen wechselseitigen, differenzierten und transformativen Übersetzens in einer Schwellensituation. Perspektiven, die fruchtbar zu machen für ein weiteres Lernen mit der „documenta fifteen“ jetzt ansteht.

Beatrice von Bismarck lehrt Kunstgeschichte, Bildwissenschaften und Kulturen des Kuratorischen an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) Leipzig. Davor war sie 1989 bis 1993 am Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main als Kuratorin der Abteilung 20. Jahrhundert und anschließend von 1993 bis 1999 Mit-Gründerin und -Leiterin des Kunstraums der Universität Lüneburg (Leuphana). Sie war Initiatorin des M.A.-Programms „Kulturen des Kuratorischen“ an der HGB und mitverantwortlich für die von Berlin nach Mumbai und Phnom Penh reisende TRANScuratorial Academy (2017/18). Kürzlich erschienen der von ihr herausgegebene Band Archives on Show. Revoicing, Shapeshifting, Displacing – A Curatorial Glossary (Archive Books, 2022) und die Monografie The Curatorial Condition (Sternberg Press, 2022).

Image credit: 1.photo Frank Sperling; 2. photo Maja Wirkus; 3. photo Nicolas Wefers; all courtesy of documenta fifteen

Anmerkungen

[1]Zu den Bedingungen im Kuratorischen siehe ausführlicher Beatrice von Bismarck, Das Kuratorische, Leipzig 2021.
[2]Michael Schwab, „Introduction“, in: Ders. (Hg.), Transpositions. Aesthetic-Epistemic Operators in Artistic Research, Leuven University Press, 2018, S. 7–21, hier: S. 7.
[3]Rosi Braidotti, „Transposing Life“, in: Philomena Essed/Gabriele Schwab (Hg.), Clones, Fakes and Posthuman: Cultures of Replication, Amsterdam/ New York 2012, S. 61–78, hier: S. 74.
[4]Arjun Appadurai, „Introduction: commodities and the politics of value“, in: Ders. (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 3–63.
[5]ruangrupa/Artistic Team, Documenta fifteen Handbook, Berlin 2022, S. 12.
[6]Zur Unfixierbarkeit des Gastes vgl. Evi Fountoulakis/Boris Previsic, „Gesetz, Politik und Erzählung der Gastlichkeit. Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur, Bielefeld 2011, S. 7–27, hier: S. 12.
[7]Jacques Derrida, „Den Tod geben“, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt/M.: 1994, S. 331–445, hier: S. 356.