Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

RESTITUTION 2.0 Mahret Ifeoma Kupka über The Nest Collective auf der „documenta fifteen“

The Nest Collective, „Return to Sender – Delivery Details“, 2022

The Nest Collective, „Return to Sender – Delivery Details“, 2022

Noch nie präsentierten so viele Künstler*innen ihre Arbeit in Kassel wie auf der diesjährigen Ausgabe der Documenta – und selten wurde die Ausstellung so kontrovers diskutiert. Im starken Kontrast zur medialen Präsenz der Debatte um die „documenta fifteen“ steht der Umfang an Auseinandersetzungen mit den künstlerischen Positionen. Der erste Teil unserer rückschauenden Reihe „Documenta Debrief“ nimmt daher zunächst die Kunst selbst in den Blick. Auf Einladung der Redaktion stellen hier fünf Autor*innen Kollektive vor, deren Beiträge sie als besonders relevant hervorheben möchten. Hier analysiert die Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin Mahret Ifeoma Kupka den Beitrag von The Nest Collective und betrachtet seine Schlagkraft im kolonialhistorischen Kontext des Ausstellungsortes: Mit der Installation Return to Sender – Delivery Detail bringt die kenianischen Gruppe den Schrott der kapitalistischen Konsumwelt mitten ins barocke Ensemble der Karlsaue und thematisiert damit eine systemische Schieflage: Während Rücksendungen ein integraler Bestandteil der kapitalistischen Konsumwelt sind, gilt für den von Europa verkauften Müll kein Recht auf retour.

Zu Beginn des deutsch-ghanaischen Films Borga (2021) verbrennen zwei Jungen auf einer riesigen Müllkippe in Accra Elektroschrott, um verwertbares Metall zu gewinnen. Die dabei entstehenden Gase sind gesundheitsschädigend – und das gewonnene Metall bringt nicht genug Dollars ein, um davon eine Familie zu ernähren. Dennoch tun es viele. Der Schrott stammt aus Europa. Alternative Einnahmequellen gibt es kaum. Der Begriff „Borga“ ist Twi und bedeutet übersetzt: reicher Onkel aus dem Ausland. Einer der beiden Jungen im Film, Kojo, wird später so ein Borga, zumindest werden das alle aus seiner Familie und Community glauben. Er begibt sich auf die gefährliche, monatelange Reise nach Deutschland, also entgegen der Transportroute des Mülls, und landet im Rheinhafen von Mannheim, wo er illegal Arbeit findet – beim Abtransport ausgedienter Elektrogeräte nach Ghana. Die Geschichte Kojos ist Fiktion, allerdings ergeht es vielen in der Realität genau so. Wie er sind sie keine wirklichen Borga. Einen großen Teil ihres kargen Lohns schicken sie nach Hause zu ihren Familien, sie selbst können sich vom Rest kaum ernähren. Darüber schweigen sie allerdings. Sie bleiben die Borga, und ihre Familien und Freunde sind vielleicht froh, dass ihre Söhne, Brüder, Cousins, Geliebten es vermeintlich zu etwas gebracht haben, im fernen Europa. Vielleicht begründet das Schweigen Scham, vielleicht den Wunsch, die Familien in der Heimat nicht zu enttäuschen, nicht in Sorge zu versetzen. Sicher ist es die Last eines ungerechten, ausbeuterischen Systems, das immer die Schultern derer beschwert, die ohnehin schon am meisten unter ihm leiden. Es geht schließlich allein ums Überleben. Und vielleicht geht das in Europa ein bisschen besser. Wer weiß das schon so genau?

Das Wort Borga leitet sich im Übrigen ab von Hamburg. Und in diesem Film wird einmal mehr deutlich, dass alles zusammenhängt. Dass es der Müll ist, der in Europa entsteht und einen verhängnisvollen Kreislauf befeuert. Müll, entstanden aus unzähligen unnützen Dingen – Elektrogadgets, billigen Pailletten-Tops –, über deren Verbleib nach der Entsorgung in Europa kaum jemand wirklich nachdenkt. Der Recyclingcontainer mag das lauernde schlechte Gewissen etwas beruhigen; der Recyclingkreis ist allerdings riesig. Er schließt sich nicht in der schicken neuen Upcycling-Kollektion aus Altkleidern und den Sneakern aus Plastikstrohhalmen aus dem Meer, sondern dort, wo die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge vor der Festung Europa stehen, die ein bisschen mehr vom Leben wollen, als an jenem Müll zu ersticken, der sich im europäischen Recyclingsystem nicht mehr rentiert, den selbst die Ärmsten in Europa nicht mehr wollen und dem in Afrika nun der allerletzte Restnutzen herausgepresst werden soll. Es ist kompliziert, verwirrend und weitreichend.

The Nest Collective aus Kenia schuf für die „documenta fifteen“ eine Art Störung dieses Kreislaufs. Return to Sender – Delivery Details (2022) heißt die Installation in der Kasseler Karlsaue, auf der Wiese vor der Orangerie. Sie besteht aus einem großen, aus mehreren Elementen zusammengesetzten begehbaren Kubus und einer Anordnung kleinerer, einzelner Kuben davor, säuberlich aufgestellt, den Eindruck des Ausgespucktseins allerdings nicht entbehrend. Je näher Besucher*innen der Installation in der barocken Gartenanlage kommen, desto detailreicher werden die Kuben. Elektroschrott und Altkleider nach Farbe und Form sortiert, in Würfel gepresst, genau so, wie sie aus Europa verschickt werden. Und jetzt stehen sie in Kassel, als seien sie schnurstracks aus dem Container wieder retour gegangen: Weg mit dem Müll, zurück zu denen, die ihn verursacht haben! Im Inneren des großen textilen Kubus läuft ein Film. Mitglieder des Kollektivs erklären in Interviewsequenzen die ökologische und ökonomische Komplexität des europäisch-afrikanischen Altkleiderhandels. Sie erläutern, wie lokale Entwicklungen, zum Beispiel die einer heimischen Textilindustrie, im Keim erstickt werden oder dass das ständige Arbeiten und Leben mit dem Müll anderer den Menschen jede Würde nimmt.

Return to Sender gewinnt an zusätzlicher Komplexität, wenn man berücksichtigt, dass die Installation gegenüber dem Ort steht, wo 1897 eine der zahlreichen deutschen Kolonialausstellungen stattfand. Das wurde auf der Documenta nicht kommuniziert. Doch eine kleine Recherche zu Kassels kolonialer Vergangenheit liefert Tatsachen: Neben ethnografischen Sammlungen und Exportartikeln zeigte die damalige Ausstellung in den Räumen der Orangerie auch koloniale Rohstoffe sowie deren wirtschaftliche Verarbeitung, darunter Kaffee, Schokolade, Rohtabak und Zigarren, Zucker, Elefantenzähne und Elfenbeinfabrikate. Rohstoffe fließen bis heute von Afrika aus in die Welt. Zurück kommt Müll. Und jetzt steht ein verschwindend kleiner Teil davon in Kassel. Eine Art Restitution 2.0 und eine ästhetische Störung, für die es keine einfache Lösung gibt.

Im Film Borga findet Kojo schließlich seinen eigenen Weg. Er macht Fehler, lernt aus ihnen, immer mit dem Ziel, die ihm begegnenden Missstände zu überwinden. Gut für ihn. Doch die Antwort kann nicht darin bestehen, für globale Probleme individuelle Auswege zu finden, zu reagieren, zu überleben. The Nest Collective fordern zum Erkennen eigener Involviertheit in globale Prozesse auf, zur Übernahme von Verantwortung. Die Besucher*innen treten ein in den Altkleiderschlund. Die Nähe zum historischen Ort verstärkt Gefühle der Beklemmung und kratzt an deutschen und europäischen Selbstverständnissen. Von jeder Documenta bleiben einzelne Werke in Kassel. Wieso nicht Return to Sender und damit der Rückkauf europäischen Mülls?

Der Installationsort gegenüber der Orangerie eröffnete ein dauerhaftes Spannungsfeld zwischen kolonialer Vergangenheit und vermeintlich postkolonialer Gegenwart zur Imagination einer noch unbekannten Zukunft von Gemeinschaft und Gleichberechtigung. Das ist Kunst und das kann nicht weg.

Mahret Ifeoma Kupka ist Kunstwissenschaftlerin, Kuratorin und freie Autorin. In ihren Ausstellungen, Vorträgen, Texten und interdisziplinären Projekten befasst sie sich mit den Themen Rassismus, Erinnerungskultur, Repräsentation und der Dekolonisierung von Kunst- und Kulturpraxis in Europa und auf dem afrikanischen Kontinent.

Die „documenta fifteen“ als Gesamtkonzept steht im Zentrum des zweiten Teils dieser Reihe, der im November 2022 online veröffentlicht wird. Die Beiträge ergänzen sich zu einer multiperspektivischen, metaanalytischen Betrachtung, die sich unter anderem auf die kuratorische Praxis und die Berichtserstattung fokussiert.

Image credit: Courtesy of documenta fifteen, photo: Nils Klinger