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DAS PRINZIP DER UMVERTEILUNG Christian Berger über Blue Curry zu Gast bei Alice Yard auf der „documenta fifteen“

Blue Curry, „Leisure Aethetics“, 2022

Blue Curry, „Leisure Aethetics“, 2022

Noch nie präsentierten so viele Künstler*innen ihre Arbeit in Kassel wie auf der diesjährigen Ausgabe der Documenta – und selten wurde die Ausstellung so kontrovers diskutiert. Im starken Kontrast zur medialen Präsenz der Debatte um die „documenta fifteen“ steht der Umfang an Auseinandersetzungen mit den künstlerischen Positionen. Der erste Teil unserer rückschauenden Reihe „Documenta Debrief“ nimmt daher zunächst die Kunst selbst in den Blick. Auf Einladung der Redaktion stellen hier fünf Autor*innen Kollektive vor, deren Beiträge sie als besonders relevant hervorheben möchten. Ausgehend von den Werken des Künstlers Blue Curry thematisiert der Kunsthistoriker Christian Berger in seinem Beitrag, wie die Einladungskette einzelner Kollektive nach Kassel und die Ressourcenverteilung vor Ort funktionierte. Als Artist-in-Residence lebte und arbeitete Curry in den Documenta-Ausstellungsräumen des Kollektivs Alice Yard. Am Beispiel dieser Konstellation befragt Berger das Gesamtkonzept der „documenta fifteen“ und hebt neben den viel diskutierten Problemen auch die Potenziale der unkonventionellen Herangehensweisen hervor.

Auf der Vorbesichtigung der „documenta fifteen“, zwei Tage vor Eröffnung: Noch ziert ein leeres Gerüst statt des monumentalen, skandalträchtigen Banners des indonesischen Kollektivs Taring Padi den Friedrichsplatz. Die bereits seit Wochen andauernde Kontroverse um Antisemitismus ist für einen Moment nahezu verstummt, die Stadt erfüllt von überaus positiver Stimmung. Den Besucher*innen eröffnet sich ein Panorama, das an manchen Orten noch Versprechen bleibt und anderswo beinahe museal daherkommt. Etwaige Befürchtungen, einer selbstgenügsamen Feier des Kollektiven als Wert an sich beizuwohnen, erfüllen sich lediglich punktuell; die Angst, es könnte „nichts“ zu sehen geben, erscheint unbegründet – und die Frage, was davon wiederum „Kunst“ sei, letztlich unerheblich.

In diesen Tagen kurz vor der offiziellen Eröffnung der „documenta fifteen“ ergeben sich auch Gelegenheiten zum Gespräch. Weder herrscht Wagenburgmentalität, noch beschränken sich die kollektiven Prozesse auf die unmittelbar Involvierten. So lässt sich etwas über die Logik und das Funktionieren der „documenta fifteen“ erfahren, das sowohl auf die späteren Probleme als auch auf erhaltenswerte Potenziale hinweist.

Der Ausstellungsort WH22 – benannt nach der Adresse, Werner-Hilpert-Straße 22 – birgt in seinem Innenhof den vietnamesischen Garten des Nhà Sàn Collective. Im Gebäude selbst befinden sich im zweiten Obergeschoss die Räume von The Question of Funding, die bereits im Vorfeld der Ausstellung vandalisiert wurden und unter anderem, aber keineswegs hauptsächlich, Teile von Mohammed Al Hawajris nachvollziehbar kontrovers diskutiertem Guernica Gaza-Zyklus enthalten. Problematisch erscheint vor allem die im Titel angelegte Gleichsetzung, ohne die diese Bildmontagen von Klassikern der Kunstgeschichte mit Aufnahmen israelischer Militärgewalt wohl kaum besondere Aufmerksamkeit erfahren hätten.

Eine Etage darunter veranstaltet das von der Karibikinsel Trinidad stammende Kollektiv Alice Yard ein Artist-in-Residency-Programm. Der von der Documenta bereitgestellte und von Ruangrupa an sie weitergegebene Budgetanteil wird genutzt, um Künstler*innen nach Kassel einzuladen, wo sie ein in den Räumen eingerichtetes Appartement bewohnen, ein kleines Tagegeld erhalten und einen weiteren, darüber gelegenen Raum bespielen können.

Während der ersten zwei Ausstellungswochen ist dort der von den Bahamas stammende und in London tätige Künstler Blue Curry zu Gast. Curry, der zuletzt auch bei „Life Between Islands: Caribbean-British Art 1950s – Now“ in der Tate Britain vertreten war und aktuell in Ausstellungen in New York City und in Nassau (Bahamas) präsentiert wird, zeigt dort zu dieser Zeit Arbeiten aus seiner Serie Leisure Aesthetics. [1] Gleich einem minimalistischen Raster in vier quadratischen Feldern angeordnet, arrangiert er dort mit Perlen geschmückte Kunsthaarzöpfe, rote Spielwürfel auf strahlend weißem Strandsand, Golfbälle auf Palmblättern aus Plastik sowie große Meeresschnecken-Gehäuse, in denen LED-Lampen stroboskopartig blinken. In Blue Currys unerwarteter Zusammenstellung treten diese Objekte in ihrer Absonderlichkeit hervor. Statt auf (Kunst-)Rasen ruhen die Golfbälle auf ebenso artifiziell grünen künstlichen Palmblättern, während die Würfel direkt aus dem Casino an den Strand gekullert sein könnten – Blue Currys Heimat, die Bahamas, sind auch ein Glücksspielparadies. Die zitathafte Einarbeitung solch klischeehafter Ikonografie thematisiert den touristischen Blick auf die Karibik als fabrizierte Projektionsfläche, als kommodifizierte Exotik. Alles wird zur Ware, gerade auch die Natur: Neben Sonne und Meer stehen Palmen und Sandstrand leitmotivisch für den kapitalistischen Urlaubstraum. Meeressand ist zudem ein gesuchter Rohstoff. Er wird in großen Mengen vom Meeresgrund abgesaugt, worauf die Strände abrutschen und ihrerseits aus der Tiefe aufgefüllt werden müssen. Und die Riesen-Flügelschnecke (engl. conch), aus deren Häusern es in der Installation blitzt und blinkt, ist wegen ihrer Beliebtheit als Souvenir und als Delikatesse stark überfischt. Ein Gespräch mit Blue Curry und Sean Leonard, Mitbegründer und eines der vier heutigen Mitglieder von Alice Yard, vermittelt Einblicke in die Arbeit des Kollektivs und das Vorhaben, ihre Prinzipien nach Kassel zu überführen. Ruangrupa betrachten sie dabei als Ermöglicher, aber nicht als Vorbild ihrer eigenen Praxis. Mit dem Prinzip des „Yard“ im Sinne eines gemeinschaftlich genutzten Innenhofs baut das 2006 gegründete Kollektiv auf einem ähnlich spezifischen Konzept auf wie die indonesischen Kolleg*innen mit der vielzitierten Reisscheune „lumbung“. [2] Durch ihr Programm demonstrieren Alice Yard, benannt nach Sean Leonards Urgroßmutter Alice, in deren ehemaligem Haus und Hinterhof die Gruppe ihren ersten Wirkungsort hatte, das von Ruangrupa in Gang gesetzte Prinzip der Umverteilung. Die Aufteilung des Budgets auf die eingeladenen Gruppen setzt sich dadurch fort, dass die Eingeladenen diese Mittel wiederum weiter verteilen – und zwar an Akteur*innen, die weder einem zentralen Auswahlprozess unterliegen noch notwendigerweise mit den Kurator*innen in Kontakt kommen. Die New York Times schreibt hier vorab treffend von einem „rechtschaffenen Schneeballsystem“. [3] Der Anspruch auf eigene oder einheitliche kuratorische Handschrift wird zurückgestellt, indem den Eingeladenen eine von diesen selbst zu gestaltende Bühne geboten wird. Erste Pressereaktionen fallen geradezu euphorisch aus: Sie preisen die Chancen vielstimmigen Erzählens und betonen zu Recht, wie stark sich diese Documenta von anderen Großausstellungen abhebt – durch die weitestgehende Abwesenheit großer Namen, aber auch wegen der Entscheidung, politische und ökonomische Weltprobleme nicht anklagend aus der Opferperspektive einzubringen, sondern selbstbewusst Lösungsperspektiven aufzuzeigen. [4]

Der freiwillige Kontrollverzicht erscheint an diesem Punkt als begrüßenswerte Alternative zur Fetischisierung kuratorischer Autor*innenschaft – als Möglichkeit, nicht nur den Inhalt und den Look einer Großausstellung zu modifizieren, sondern tatsächlich die Strukturen selbst zu verändern; und zwar dadurch, dass die mit der künstlerischen Leitung betrauten Personen selbst ein Stück weit in den Hintergrund treten, eher moderieren als Vorgaben machen.

Sicherlich ist es im Nachhinein plausibel, hierin eine Wurzel der späteren Kontroversen zu sehen. Regelrecht ausgeschlossen erscheint es unter diesen Bedingungen, dass die Mitglieder von Ruangrupa über sämtliche Exponate Bescheid wussten. Dennoch wäre es ein Verlust, dieses Potenzial zu opfern und stattdessen jenem Ruf nach der Rückkehr einer einzelnen Kuratorin oder eines einzelnen Kurators als mastermind nachzugeben, [5] wie er im Kontext der medialen Debatte wenig überraschend nicht lange auf sich warten ließ.

Christian Berger ist Kunstwissenschaftler und unterrichtet an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er beschäftigt sich vor allem mit konzeptualistischen Praktiken der 1960er und 1970er Jahre sowie mit Materialität und künstlerischer Produktionsästhetik und ist unter anderem Herausgeber des Sammelbands Conceptualism and Materiality: Matters of Art and Politics (2019).

Die „documenta fifteen“ als Gesamtkonzept steht im Zentrum des zweiten Teils dieser Reihe, der im November 2022 online veröffentlicht wird. Die Beiträge ergänzen sich zu einer multiperspektivischen, metaanalytischen Betrachtung, die sich unter anderem auf die kuratorische Praxis und die Berichtserstattung fokussiert.

Image credit: Courtesy of documenta fifteen, photo: Nicholas Wefers

Anmerkungen

[1]In Nassau als Einzelausstellung in der Tern Gallery (15.9. bis 22.10.2022), in New York als Teil der Ausstellung „Tropical Is Political: Caribbean Art Under The Visitor Economy Regime“ in der Americas Society (7.9. bis 17.12.2022).
[2]Jürgen von Rutenberg, „Im Flow: Sieben Tage auf Trinidad mit der Künstlergruppe ALICE YARD, kurz vor ihrem großen Auftritt bei der Documenta“, in: Zeit Magazin, 25, 15.6.2022, S. 14–29.
[3]Samanth Subramanian, „A Radical Collective Takes Over One of the World’s Biggest Art Shows“, in: New York Times, 9.6.2022.
[4]Siehe etwa Jörg Häntzschel, „Dein Schatz“, in: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 18.6.2022; Kia Vahland, „Die Kunst des Zusammenhalts“, in: Süddeutsche Zeitung, Meinung, 17.6.2022. In ihrer etwas kritischeren Besprechung vom selben Tag erwähnt Catrin Lorch bereits „Spuren von Antisemitismus“ und nennt als Beleg den Guernica Gaza-Zyklus, der aber „[e]rst bei genauerem Hinsehen“ auffiele – ein Eindruck, den ich teile und auch im Hinblick auf die Proportionalität der späteren Medienberichterstattung für bedenkenswert erachte. (Catrin Lorch, „Kunst oder Aktivismus?“, in: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 17.6.2022).
[5]Siehe exemplarisch Catrin Lorch/Jörg Häntzschel, „Schwarze Stunden“, in: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 21.6.2022: „Dabei kann eine Ausstellung nur gelingen, wenn die einzelnen Werke einem Kurator bekannt sind, der sie in eine sinnvolle, funktionierende Beziehung zueinander setzt.“