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DAS IMAGINIERTE MUSEUM Burcu Dogramaci über „One Day We Shall Celebrate Again: RomaMoMA” auf der „documenta fifteen”

Małgorzata Mirga-Tas, „Out of Egypt“, 2021

Małgorzata Mirga-Tas, „Out of Egypt“, 2021

Noch nie präsentierten so viele Künstler*innen ihre Arbeit in Kassel wie auf der diesjährigen Ausgabe der Documenta – und selten wurde die Ausstellung so kontrovers diskutiert. Im starken Kontrast zur medialen Präsenz der Debatte um die „documenta fifteen“ steht der Umfang an Auseinandersetzungen mit den künstlerischen Positionen. Der erste Teil unserer rückschauenden Reihe „Documenta Debrief“ nimmt daher zunächst die Kunst selbst in den Blick. Auf Einladung der Redaktion stellen hier fünf Autor*innen Kollektive vor, deren Beiträge sie als besonders relevant hervorheben möchten. Der Frage, wie Kunst dazu beitragen kann, die institutionelle Landschaft inklusiver zu gestalten, geht Burcu Dogramaci mit Blick auf die Präsentation „One Day We Shall Celebrate Again: RomaMoMA at documenta fifteen“ nach. Ausgehend von detaillierten Werkbesprechungen skizziert die Kunsthistorikerin, wohin ein konsequentes Weiterdenken der Exponate führen könnte. Zugleich verdeutlicht ihre Analyse, dass die Kunstkritik den auf der „documenta fifteen“ vereinten Positionen mit der einfachen Gegenüberstellung von globalem Süden und Norden nicht gerecht werden kann.

Der Name „Documenta“ lässt sich vom lateinischen documentum ableiten, impliziert Bedeutungen des Beurkundens und des Bezeugens. Seit ihrer ersten Ausrichtung 1955 beansprucht also jede Documenta bereits durch ihren Namen, eine Bestandsaufnahme oder Bilanz zu sein, etwa für eine Globalisierung des Kunstsystems oder die medialen Erweiterungen künstlerischer Praxis. In diesem Sinn kann die „documenta fifteen“ gelesen werden als ein Indikator für die Etablierung kollektiver Kunst- und Wissensproduktionen mit Anspruch auf eine gerechtere Ressourcenverteilung. In ihrem etymologisch begründeten Selbstverständnis ist der Blick der Documenta also eher in die Gegenwart und jüngere Vergangenheit gerichtet als in die Zukunft, die wieder im Rückblick von der nächsten Documenta bilanziert wird.

Dennoch liefert eine Ausstellung innerhalb der „documenta fifteen“ explizit einen Zukunftsentwurf. Gemeinsam mit dem European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC) organisierte die Off-Biennale Budapest die Gruppenausstellung „One Day We Shall Celebrate Again: RomaMoMA at documenta fifteen“ im Fridericianum. Die Ausstellung denkt nach über ein mögliches Roma Museum of Contemporary Art und vereint eine Auswahl unterschiedlicher Positionen von Künstler*innen, die die Zugehörigkeit zu den Rom*nja gemeinsamen haben. Im an das Fridericianum angeschlossenen Zwehrenturm zeigt die wohl bekannteste Rom*nja-Künstlerin, Salma Salman, Malerei auf Autoteilen und thematisiert die Tätigkeit ihres Vaters als Altmetallsammler. Mit Małgorzata Mirga-Tas ist im Lichthof des Hauptgebäudes in der ersten Etage eine polnisch-romani Künstlerin präsent, die zeitgleich auf der Biennale in Venedig den polnischen Pavillon mit einer monumentalen All-over-Installation bespielt. In ihren großformatigen textilen Arbeiten werden tradierte kunsthistorische und christliche Ikonografien als bestimmende Motive älterer Kunstgeschichte aus Perspektive der Rom*nja neu erzählt. Sie überlappen sich mit Alltagsmotiven und vermeiden Stereotype, mit denen Rom*nja bis heute konfrontiert werden. Nicht nur Mirga-Tas’ Arbeiten verdeutlichen, dass die Auseinandersetzung mit Kunst von Rom*nja zumindest gegenwärtig nicht ohne das Bewusstsein für die systemischen Bedingungen ihrer gewaltvollen Verdrängung und Diskriminierung in europäischen Gesellschaften erfolgen kann. In Ethel Brooks ausliegendem RomaMoMA Manifesto for documenta fifteen heißt es: „Wir Roma waren Europas interne koloniale Subjekte des Weißseins, des Kapitals, der Landspekulatio, der Ausbeutung und der Beherrschung.“ Dieser Geschichte setzt die Ausstellung ein lautes „Wir“ der Gemeinschaft entgegen, das in die Programmatik der „documenta fifteen“ eingebettet ist.

Zugleich bietet die Präsentation einen Impuls zur grundsätzlichen Hinterfragung der bürgerlichen Institution des Kunstmuseums, das sich derzeit in einer umfassenden Selbstevaluation befindet, etwa mit Blick auf Klima, Energieverbrauch und seine zukünftigen Besucher*innen. Welche Kunst ein sich diversifizierendes städtisches Publikum anspricht, ob dieselben Genres und Gattungen zukünftig noch als kanonisch gelten können, ist fraglich. Wie wird und wurde gesammelt und geordnet? Warum fehlt Kunst bestimmter ethnischer Gruppen als selbstverständlicher Teil von Kunstsammlungen? Wie viele Visualisierungen von Rom*nja aus der Hand westlicher Künstler*innen lassen sich in den Museumsbeständen finden, wie kann ihnen begegnet werden? Das Museum Ludwig in Köln hat vor wenigen Jahren auf diese Herausforderung reagiert und sich kritisch mit der sexualisierenden Perspektive moderner Künstler*innen, etwa des Brücke-Künstlers Otto Mueller und seines Gemäldes Zwei Zigeunerinnen mit Katze [1] (1926/27), befasst. Gegenübergestellt wurde das expressionistische Bild dem Dokumentarfilm Zigeuner sein (1970, 47 Minuten) von Peter und Zsóka Nestler. Die Filmemacher*innen lassen darin Überlebende des nationalsozialistischen Völkermords an Sin¬ti*zze und Rom*nja und deren Angehörige sprechen.

Die Verfolgung und Ermordung der Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialismus bilden den Hintergrund für eine weitere zentrale Position innerhalb von „RomaMoMA“: Die österreichisch-romani Künstlerin Ceija Stojka, geboren 1933, überlebte als eines von wenigen Familienmitgliedern die Internierung in Konzentrationslagern. In den frühen 1980er Jahren veröffentlichte Stojka ihre Erinnerungen an den „Porrajmos“, so die Bezeichnung für den Holocaust an den Rom*nja. Ihre Zeichnungen widmen sich den eigenen Erlebnissen in Auschwitz und verweisen auf Rassismus und Diskriminierung in der Gegenwart. Stojkas Arbeiten lenken den Blick auf eine Erfahrung, die bislang keinen Platz in der Geschichte der Kunst hatte. Die Werke verhalten sich sowohl zu Kunst und Künstler*innen der Moderne, die Entrechtung durch das NS-System, Verfolgung, Verhaftung, Emigration thematisieren, wie etwa Werke von Charlotte Salomon oder Felix Nussbaum. Sie könnten aber auch selbstbewusst Raum einnehmen neben Arbeiten von Luc Tuymans und Dani Gal, die sich aus der Gegenwart heraus mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen auseinandersetzen. „RomaMoMA“ schafft es also allein durch die Präsenz auf einem internationalen Kunstereignis wie der „documenta fifteen“, grundsätzliche Fragen zu provozieren, die keine einfachen Antworten zulassen: Wie kann eine ausgrenzende und auf Konsens ausgerichtete deutsche/europäische museale Sammlungspolitik der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte aus der Gegenwart heraus korrigiert werden? Ist es sinnvoll, ein eigenes Roma-Museum zu gründen, oder müssten nicht die existierenden Museen mit staatlichen oder kommunalen Mitteln auch Vergangenes ergänzen, neu justieren, um damit der Gegenwart eine andere Geschichte zu geben? Grundsätzlich ist an „RomaMoMA“ die Frage gebunden, ob ein ausschließlich auf Rom*nja-Kunst kapriziertes Museum nicht wiederum neue Exklusionen schafft, da dort Werke gezeigt werden würden, die eigentlich selbstverständlich einen Platz in einem Kunstmuseum für alle haben sollten. Damit könnte ein Weg beschritten werden, der allzu häufig eine Einbahnstraße ist. So wird Gegenwartskunst oder -fotografie aus Nigeria oder Sri Lanka in Deutschland noch immer viel häufiger in einem ethnologischen Museum ausgestellt als in einem Kunstmuseum. Ein digitales Museum für Kunst, Theater, Tanz, Film und Musik der Sinti*zze und Rom*nja existiert indes seit einigen Jahren unter https://www.romarchive.eu/de/ online; die Abteilung Bildende Kunst im Onlinearchiv wird von Tímea Junghaus kuratiert, die Małgorzata Mirga-Tas übrigens im polnischen Pavillon in Venedig als wichtige Referenzfigur für ihre Arbeit porträtierte. Somit ist klar: Der Weg zu einer Präsenz von Rom*nja-Kunst kann nur über Netzwerke und die Zusammenarbeit in Konstellationen erfolgen – einer produktiven Kompliz*innenschaft der Vielen.

Burcu Dogramaci ist Kunsthistorikerin und lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Die „documenta fifteen“ als Gesamtkonzept steht im Zentrum des zweiten Teils dieser Reihe, der im November 2022 online veröffentlicht wird. Die Beiträge ergänzen sich zu einer multiperspektivischen, metaanalytischen Betrachtung, die sich unter anderem auf die kuratorische Praxis und die Berichtserstattung fokussiert.

Image credit: Courtesy of documenta fifteen, photo: Frank Sperling

Anmerkung

[1]Diese rassistische Fremdbezeichnung ist mit der historischen wie aktuellen Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja verbunden. Dennoch geben wir die orginalen Titel wieder, da sie Teil der Werke selbst sind.