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DIFFERENZIEREN STATT SPALTEN VON MARC RÖLLI

Heft 119 von Texte zur Kunst behandelt das Thema „Anti-Antisemitismus“ – und positioniert sich nicht nur gegen Antisemit*innen, sondern auch aufseiten der Kritiker*innen des BDS. Einige Mitglieder des Texte zur Kunst-Beirats befürchteten in ihrer Stellungnahme, dass diese Ausgabe vor allem mit der Schlagseite des Anti-BDS die Rezeption spalten würde: „in diejenigen, die gegen Antisemitismus, und diejenigen, die für eine Dekolonisierung eintreten“. [1] An diesem Punkt setzt mein Statement an. Ich halte es für keinen Zufall, dass die Bruchlinie des Heftes genau an dieser Stelle verläuft. Lange Zeit war es beinahe selbstverständlich, sich weder als Antisemit*in noch als Rassist*in wahrzunehmen – jedenfalls dürfte dies für die meisten Leser*innen von Texte zur Kunst gegolten haben. Heute ist dies vielleicht insofern anders, als sich die kritischen Positionen, wie sich an der gespaltenen Rezeption des Heftes „Anti-Antisemitismus“ ablesen lässt, unversöhnlicher gegenüberstehen.

Ich möchte vorschlagen, einen Schritt zurückzutreten und die Polarisierung als ein Problem zu analysieren. Denn ihre politische Funktion ist wenig hilfreich, wenn sie zum Beispiel im Kontext des Rechtspopulismus und auch in Teilen seiner Kritik betrachtet wird. Polarisierung bedeutet hier, entweder gegen Globalisierung, Kapital und liberale Eliten aufzutreten oder aber gegen ‚regressive‘ Kräfte, die in der Nation, in Traditionen oder kulturellen Identitäten ihr Heil suchen oder eher vorgeben zu suchen. In beiden Fällen wähnt man sich auf der richtigen Seite – doch es fehlt an Reflexion auf die eigene Verstrickung in die ökonomischen, neoliberalen Strukturen. Eine solche Reflexion müsste natürlich auch der Bedeutung des Kunstmarkts in der professionellen Textproduktion zur Kunst gelten.

Vor diesem Hintergrund möchte ich die Frage stellen, wo – theoriegeschichtlich betrachtet – eine aussagekräftige Differenz zwischen den Kritiken des Antisemitismus und des Kolonialismus besteht. Handelt es sich nicht in beiden Fällen, bei den Kolonisierten wie bei den Jüd*innen, um „Verdammte dieser Erde“ (Frantz Fanon), die spezifischen Machtverhältnissen unterworfen waren (und in anderer Form noch sind)? Wenn es hier eine Differenz gibt, dann müsste sie in den Theorien auffindbar sein, die das unterschiedlich ‚abgewertete‘ Anderssein thematisieren. Insofern als das Heft „Anti-Antisemitismus“ auf dieses Problem aufmerksam gemacht hat, kann es aus meiner Sicht als (wenn auch etwas einseitiger) Auftakt einer bislang nicht geführten Debatte betrachtet werden. Es ist folglich gut, dass dieses Problem aufgetaucht ist – und mit ihm Fragen, die nach Antworten verlangen. Ich plädiere dafür, den Moment der Verstörung zu ertragen – Wie können wir noch Antisemitismuskritiker*innen sein angesichts der weitreichenden Kritik an Israels Siedlungspolitiken? Müssen wir uns zu BDS positionieren, weil wir die Dekolonisierung des Denkens in den Kulturinstitutionen und Akademien (und in der Politik) stärken wollen? – und dem Problem mehr Kontur zu verleihen.

In zahlreichen post- und dekolonialen Theorien wird die philosophische Anbindung kontrovers diskutiert. Seit ihren Anfängen standen die Marxbezüge oder aber – mit der Entwicklung der schärferen Vernunft- und Modernekritik zum Beispiel bei Michel Foucault – die sogenannte poststrukturalistische Bewegung im Vordergrund. In letzter Zeit hingegen mehren sich die Stimmen, die die kritische Theorie unter Eurozentrismusverdacht stellen [2], und auch die Anbindung an Jacques Derrida oder Foucault ist zunehmend umstritten. [3] Wie Amy Allen, die sich um eine Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie bemüht, sagt, „hat sich eine Kluft aufgetan zwischen dem kritisch-theoretischen Ansatz der Frankfurter Schule und einer im Zeichen postkolonialer Theorie stehenden kritischen Theorie“. [4] Ein den unterschiedlichen postkolonialen Ansätzen gemeinsamer Fokus könnte nach Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak, aber auch nach Walter D. Mignolo und Achille Mbembe in der rassistisch konstruierten ,Andersheit der Kolonisierten‘ (im Sinne einer imperialistischen Subjektkonstitution) ausgemacht werden. In der europäischen Philosophie wurde eine kritische Idee von der Exteriorität der*s Anderen jedoch erst im Rahmen ihrer Antisemitismuskritik entwickelt – mit der Figur des Jüdischen. In der Dialektik der Aufklärung haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno „Elemente des Antisemitismus“ festgehalten. [5] Und bei Emmanuel Levinas, Jean-François Lyotard und Derrida wurden Überlegungen angestellt, wie anders ‚jüdische Andere‘ zu denken sind. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von – etwas pauschal formuliert – kritischer Theorie und Poststrukturalismus sind allerdings meines Wissens hinsichtlich ihrer Behandlung des Antisemitismus nie klar herausgearbeitet worden. Dasselbe gilt auch für den Umgang dieser Theorien mit der Frage, inwiefern die antisemitische Andersheit mit der rassistischen korrespondiert. Lyotard etwa schreibt in einem Text über „die Juden“: „Man darf den Antisemitismus des Abendlands nicht mit dessen Xenophobie verwechseln.“ [6] Viel mehr hat er dazu aber nicht zu sagen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie der aus der Antisemitismuskritik resultierende Begriff „der*s Anderen“ mit dem im Theoriefeld des Postkolonialismus entwickelten „Othering“ zusammenhängt? Es liegt vielleicht auf der Hand, dass die identitätspolitisch ausgerichtete „Orientalisierung“ der*s Anderen (nach Said) nicht übersetzbar ist in ein Anderes, das die Identitätsbeziehung untergräbt (nach Levinas). Hier würde ich kritisch nachfragen – und zwar in beide Richtungen: Wäre es nicht möglich, dass das differenzphilosophische Lob des Anderen selbst exotisierende Wirkungen entfaltet? Und setzt das Konzept des Othering nicht ein Differenzgeschehen (und sei es auch nur eines der „Mikrophysik der Macht“) voraus, das seine strategischen Qualitäten als Teil einer kolonialen Praxis erst generiert? Wie lässt sich verhindern, dass sich die koloniale Praxis des ‚Fremd-Machens‘ im Festhalten und Zur-Schau-Stellen eines Andersseins reproduziert?

Es erscheint mir notwendig, hier weiterzudenken. Spivak macht dazu einen Vorschlag, indem sie zwischen „homogenen“ und „heterogenen Anderen“ unterscheidet: Während die Konstruktion der*s homogenen Anderen auf den kolonialen Aspekt der europäischen Identität verweist, die sich mit der Abgrenzung gegen Anderes als privilegierte Instanz konstituiert, nimmt der Begriff der*s heterogenen Anderen auf die ‚wahren Subalternen‘ Bezug. Ihre Überlegung beruft sich explizit auf Derrida und seinen „‚Ruf‘ nach dem ,ganz anderen‘ (tout-autre, im Gegensatz zu einem sich selbst verfestigenden Anderen).“ [7] Auch dies ein Fingerzeig, dass es ohne diese ‚Differenz im Anderen‘ kein Motiv der Dekolonisierung geben könnte: Die nach Saids Ausdruck „Orientalisierte“ ist keine Orientale, aber auch keine Europäerin: Sie ist damit anders als die Andere, zu der sie gemacht wurde.

Nicht nur für die kritischen Antisemitismustheorien stellt sich die Frage nach der spezifischen Konzeption von Andersheit, seit Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht stellt sie sich auch für den Feminismus und seit Fanon für die Dekolonisierung. Mit einer Klärung dieser Fragen verbindet sich eine Klärung der Verhältnisse zwischen einer Philosophie, die ihren Umgang mit dem Anderen primär ihrer Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus verdankt – und einer post- oder dekolonialen Denkweise, die ihr Selbstverständnis aus der Rekonstruktion des ‚Othering‘, der ‚Subalternen‘ oder der „Négritude“ (nach Aimé Césaire und Mbembe) gewinnt. Eine Debatte über die Hintergründe der verschiedenen Konzepte von Andersheit könnte dabei helfen, die Frontstellung der angeblichen Kontrahent*innen (Gegner*innen des Antisemitismus vs. Befürworter*innen der Dekolonisierung) aufzulösen. Schließlich ist die Front unhaltbar für alle, die sich gleichermaßen von Rassismen und Antisemitismen distanzieren wollen. In ihrem 1981 erschienenen Buch Ain’t I a Woman hatte bell hooks bereits sehr deutlich herausgearbeitet, dass patriarchalische, kapitalistische und rassistische Strukturen nicht isoliert voneinander erfolgreich bekämpft werden können. [8] Ihr folgend, wäre es naheliegend, ein intersektionales Moment auch im Zwischenbereich der Kolonialismus- und Antisemitismuskritik ausfindig zu machen – wie zum Beispiel in der Begriffsgeschichte der*s Anderen. Zu bedenken wäre aber auch, dass seit Marx’ Aufsatz Zur Judenfrage (1843) eine lange Tradition existiert, die die Kapitalismuskritik mit antisemitischen Zügen ausstattet. Dagegen hatten sich Horkheimer und Adorno gewendet. Und dennoch bleibt es ein ständiges und ärgerliches Thema, die Kritik an ökonomischen Ausbeutungsstrukturen von antisemitischen Vorurteilen frei zu halten.

Aus meiner Sicht macht es die Problemlage der anfangs geschilderten Polarisierung erforderlich, das strikte Denken in Identitäten zu vermeiden, das heißt ein Denken in harten kulturellen Blöcken oder auch in der Form einer harten Opposition von Kulturalismus und Universalismus. Es ist gefährlich, selbst die Menschenrechte ausschließlich an die europäische Aufklärungsgeschichte zu binden – und sie damit als quasi ‚westliches Kulturgut‘ zu reklamieren. Feste kulturelle oder politische Identitäten konsolidieren sich überall dort, wo pluralistische Konzepte für die Beschreibung sozialer Prozesse fehlen. Auch deshalb ist es eine (in identitären Kreisen ausgebrütete) perfide Strategie, wenn der Ausdruck „Ethnopluralismus“ verwendet wird, um kulturelle Unterschiede (in einem quasi rassistischen Sinne) festzuklopfen. Auf diese Weise besteht die Gefahr, dass die Theoriepotenziale sowohl der Ethnologie als auch des (nicht nur liberalen, sondern radikalen) Pluralismus außer Kraft gesetzt werden. Es würde meines Erachtens weiterführen, wie es Saba-Nur Cheema formuliert, die friedlichen „Dialogprojekte zwischen Palästinenser*innen und Israelis“ zu fördern, wenngleich eingedenk der in Machtkomplexen oftmals asymmetrischen Relationen beteiligter Gruppen. [9]

Vielleicht erscheint manchen Leser*innen das vorliegende Statement als wenig positioniert und womöglich sogar als einseitig versöhnlich, ohne mehr zu leisten, als einen elitären und etwas zu selbstbewussten Theoriediskurs weiterzuführen. Ich wollte nicht mehr tun als die Diagnose der gespaltenen Rezeption ernst zu nehmen und als ein Problem vor theoriegeschichtlichem Hintergrund darzustellen. Dabei zeigte sich, dass im kritischen Denken der*s Anderen ungelöste Fragen stecken, die das aufgeladene Spannungsfeld zwischen europäischen Kritiktraditionen und kolonialismuskritischen Theorieansätzen vielleicht ein wenig erklären helfen. Eine solche ungelöste Frage ist die nach der dekolonisierenden Kraft, die dem philosophischen Begriff der*s Anderen innewohnt – der (wenigstens in wichtigen Punkten) im Rahmen der Antisemitismuskritik entwickelt wurde.

Marc Rölli ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Anfang 2021 wird sein Buch Anthropologie dekolonisieren im Campus-Verlag erscheinen, das die bereits 2011 vorgelegte Kritik der anthropologischen Vernunft (Berlin: Matthes & Seitz) weiterführt.

Anmerkungen

[1]https://www.textezurkunst.de/articles/zur-debatte-um-texte-zur-kunst-heft-119/ (gesehen am 29.09.2020).
[2]Vgl. dazu ausführlich Amy Allen, Das Ende des Fortschritts. Zur Dekolonisierung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie, [2016], übers. von F. Lachmann, Frankfurt/M. 2019.
[3]Vgl. nur Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, [2006], übers. von J. Kastner/T. Waibel, Wien 2012. Gayatri C. Spivaks Kritik an Foucault und Deleuze – mit Blick auf ihr Gespräch über „die Intellektuellen und die Macht“ – ist vielleicht ein besonders hervorstechendes Beispiel der Distanzierung: siehe Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. von A. Joskowicz/S. Nowotny, Wien 2008, S. 19–41.
[4]Allen, Das Ende des Fortschritts, S. 22. Eine scharfe Kritik der kritischen Theorietradition als Erbin der europäischen Aufklärung findet sich in Boaventura de Sousa Santos, Epistemologien des Südens. Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, übers. von F. Schüring, Münster 2018.
[5]Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, [1944], Frankfurt/M. 1988, S. 177–217.
[6]Jean-François Lyotard, „,Die Juden‘“, in: Ders., Heidegger und die Juden, übers. von C.-C. Härle, Wien 1988, S. 11–62, hier: S. 35. Bei Horkheimer und Adorno heißt es: „… die N**** [Red.] will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden …“ Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 177. In eine ähnliche Richtung denkt auch Delphine Horvilleur, wenn sie hervorhebt, dass der antisemitische Hass anders als der rassistische auf ein (nicht klar lokalisierbares und integritätsbedrohliches) „Zuviel“ abzielt. Vgl. Texte zur Kunst, Heft 119, 2020, „Anti-Antisemitismus,“ S. 79.
[7]Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 72, 60.
[8]Vgl. bell hooks, Ain’t I a Woman. Black Women and Feminism, London 1982.
[9]Saba-Nur Cheema, „Kritik und Kritik an der Kritik. Warum die BDS-Debatte in eine Sackgasse führt“, in: Texte zur Kunst, Heft 119, 2020, Anti-Antisemitismus, S. 47–51, hier: S. 49.