Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

WIE WIR LEBEN WOLLEN Von Canan Topçu

In Montur

In Montur

So ziemlich jede*r kennt das mittlerweile: Verwandte, Bekannte oder gar Freund*innen, die einem als aufmerksame und reflektierte Zeitgenoss*innen galten, outen sich plötzlich als Corona-Leugner*innen; oder wollen zumindest nicht wahrhaben, dass das Virus eine existenzbedrohende Gefahr darstellt. Was schließlich auch zugenommen hat, ist die Zahl derer, die im nahen Umfeld an Corona erkranken, teils auch mit schweren Krankheitsverläufen. Was es heißt, mit der Nachricht von der Covid-19-Infektion des eigenen Lebenspartners konfrontiert zu sein, schildert die Publizistin Canan Topçu in ihrem Beitrag. Dabei beschreibt sie auch, dass der Verlust des Glaubens einiger an die geteilte soziale Realität der Gefahr durch das Virus bei ihr Affekte wie Scham, Wut und Schadenfreude auslösen – Affekte also, die in der öffentlichen Diskussion um das Virus weitgehendend unthematisiert bleiben.

Was wäre, wenn...? Monatelang schwirrte mir diese Frage in meinem Kopf herum. Ich widmete ihr aber keine Aufmerksamkeit. Darüber nachzudenken, was wie werden würde, wenn mein Mann an Corona erkrankte, das verdrängte ich – vermutlich auch, um nicht in Hysterie zu verfallen und weiterhin gut funktionieren zu können.

Jetzt, es ist Anfang Januar, hat sich das gedankliche Durchspielen von Szenarien erübrigt. „Was wäre, wenn?“ ist dem „Es ist, wie es ist.“ gewichen. Vor kurzem ist das eingetroffen, was ich mir nicht vorstellen mochte: Mein Mann hat sich infiziert.

„Ich bin positiv.“ Mit dieser Nachricht starteten wir in eine neue Phase unseres gemeinsamen Lebens. Er stand an der Schlafzimmertür und sagt diesen einen Satz. Bild und Ton sind abgespeichert wie eine Szene aus einem Film, die Sequenz läuft als Dauerschleife vor meinem geistigen Auge ab: Er steht an der Schlafzimmertür, schaut mich mit traurigem Blick an, spricht aber mit emotionsloser Stimme.

Seitdem beginnen unsere Tage anders als all die Jahre zuvor: Mein Mann bringt mir keinen Kaffee ans Bett und weckt mich nicht mit „Guten Morgen“. Seit wir das Testergebnis kennen, halten wir Abstand zu einander und sind uns trotzdem ganz nah. Wir sprechen kaum über die Krankheit, nur über das nötigste. Wir wissen viel zu viel über Corona und seine Folgen. Er weiß, dass ich besorgt um ihn bin, und das nicht nur, weil er zu einer Risikogruppe gehört. Ich weiß: Er ist besorgt, weil er seit Ausbruch der Pandemie fast täglich mit den Auswirkungen konfrontiert war. Was Corona anrichtet, kennt er nicht nur aus den Medien. Als Arzt im Krankenhaus, zuständig für Innere Medizin, erlebt er unmittelbar das Leiden und Sterben von Corona-Patient*innen.

Eigentlich wollte ich einen ganz anderen Text für diese Kolumne schreiben. Für gedankliches Experimentieren und fürs Nachdenken ist mein Kopf nicht frei. Assoziieren und Gedankenverknüpfen ist eine Fähigkeit, die manchen gerade in besonders schwierigen Phasen ihres Lebens gut gelingt. Bei mir ist das nicht so. Wenn mein Kopf nicht frei ist, Sorgen die Gedankenschleifen bestimmen, kann ich mich dem freien Denken nicht hingeben.

Die Erkrankung meines Mannes lässt uns beide das Hier und Jetzt anders wahrnehmen, wir bewerten den Alltag und das politische Geschehen hierzulande nun aus der Betroffenen-Perspektive. Ich bin erstaunt darüber, wie gut ich funktioniere, wie gefasst mein Mann mit seiner Erkrankung umgeht. Ist es seine „professionelle Deformation“? Oder ist sein Abgeklärt-Sein eine psychische Reaktion auf den Stress? Eine Art von Paralyse aufgrund der drohenden Gefahr?

Zu Beginn der Pandemie scherzten wir noch darüber, dass immerhin er einen „systemrelevanten Beruf“ habe und somit nicht wir beide von Arbeitslosigkeit betroffen sein würden. Im Laufe der Corona-Monate arrangierten wir uns damit, dass er mehr Dienste übernahm als sonst, da immer wieder Kolleg*innen Corona-bedingt ausfielen, dass um Haus und Hof, um Hund und Hühner ich mich kümmere, weil meine Arbeit durch die Pandemie viel weniger geworden ist.

Wir sind sehr privilegiert, sagen wir uns immer wieder. Wir haben es sehr gut und haben trotz des Wegbrechens meiner Aufträge keine finanziellen Sorgen, wir müssen nicht auf engstem Raum leben; wir haben viel Platz, drinnen und draußen. Wie gut, dass wir einander haben, sagen wir uns jeden Abend vor dem Einschlafen.

Bei Gesprächen mit anderen bleiben wir sachlich und ruhig. Wenn jemand Beschlüsse der Regierung kritisiert, hören wir ruhig zu und stellen meist nur diese beiden Fragen: „Wie würdet ihr denn als Politiker*in in dieser Situation handeln? Glaubt ihr wirklich, dass Merkel und all die anderen Politiker*innen wider besseren Wissens so entscheiden?“

Als sich bei einem gemeinsamen Abendessen Freund*innen von uns als Impfgegner*innen und Verschwörungsgläubige entpuppen und uns erklären wollen, was es mit diesem Virus auf sich habe und wer wirklich dahinter stecke, sind wir ratlos. Sollten wir aufstehen und gehen? Die Gastgeber*innen brüskieren? Freunde dem Virus opfern? Wir sind uns nicht einig. Eines der wenigen Male erlebe ich meinen Mann als ungnädig. Seine Haltung ist eindeutig: Mit Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, will er nicht an einem Tisch sitzen. Ich hingegen setze anfangs noch auf die besseren Argumente, schicke allen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis Links zu Studien, Artikeln und Medienanalysen rund um Verschwörungsmythen.

Nicht nur in meinen Seminaren doziere ich über massenmediale Mechanismen, über Soziale Netzwerke, über Qualitätsjournalismus und darüber, wie man manipulative Beiträge im Netz erkennen kann. Immer mehr werden das Internet und die Sozialen Medien von Feinden der Demokratie gekapert. Ohne das Internet wären all die „Bekloppten“ nicht auf der Straße, denke ich.

Die Nachrichten und Bilder von den Demonstrationen der Corona-Leugner*innen lassen uns verzweifelt zurück. Dieser Virus ist eine Herausforderung an Vernunft, Besonnenheit und Solidarität! Dieser Virus setzt offenbar Verstand außer Kraft und versetzt die Welt in einen Ausnahmezustand. Für mich ist dieser Ausnahmezustand ein erträglicher – ich kann mich gut arrangieren mit all den Einschränkungen, beklage mich nicht darüber, dass Museen, Theater und Kinos geschlossen sind, dass wir nicht mehr auswärts essen können oder reisen können, dass keine Treffen mehr möglich sind mit Freundinnen in Cafés und Kneipen. Ich horte kein Klopapier, keine Nudeln und auch kein Mehl und keine Hefe. Wenn wir alle besonnen bleiben und uns vernünftig verhalten, dann werden wir den Kampf gegen das Virus gewinnen, so denke ich. Dass Leute sich darüber beschweren, keinen Urlaub machen zu können, kommentiere ich nur in meinem Kopf: Was für Luxusprobleme!

Dankbarkeit und Demut: Diese Gefühle begleiten mich seit dem Ausbruch der Pandemie. Dankbar bin ich für mein Leben in diesem Land und fühle mich hilflos, weil Corona so viele Menschen hier und anderswo in Not und aus dem Lot gebracht hat. Ich sehe die Bilder aus den Flüchtlingslagern und kann nicht begreifen, das wir, die wir in Deutschland verhältnismäßig im Wohlstand leben, all dieses Elend geschehen lassen. Viel stärker als zuvor verspüre ich aber noch andere Gefühle: Wut und Schadenfreude. Keine schönen Gefühle, keine, die ich haben möchte und über die ich mich eigentlich auch nicht öffentlich äußern möchte.

Wütend bin ich über all die, die sich als Nabel der Welt sehen und persönliche Einschränkungen nicht hinnehmen wollen, um die Ausbreitung des Virus’ zu verhindern. Ich bin wütend auf die, die verantwortlich sind für die Fluchtursachen. Ich bin wütend auf all die Corona-Leugner*innen und auf all die, die aus Ignoranz die Vorsichtsmaßnahmen missachten; und auf die, die sie als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit ansehen.

Dass meine Nachbarn, wie ich aus der Türkei stammend, inmitten der Pandemie für ihren Sohn eine „türkische Hochzeit“ ausrichten, macht mich fassungslos! Als ich sehe, dass keiner der dutzenden Menschen, die sich zum Abholen des Bräutigams vor dem Haus versammelt haben, eine Maske trägt, möchte ich am liebsten die Polizei rufen. Was für ignorante Leute, denke ich und verwünsche sie. Sollen sie doch alle an Corona erkranken! Kaum, dass ich sie verwünscht habe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Denn ich bin muslimisch sozialisiert; Verwünschen ist Sünde. Zudem schäme ich mich für meinen Impuls, in Blockwart-Manier die Polizei rufen zu wollen.

Jetzt, wo ich das vergangene Jahr Revue passieren lasse und von unserem Leben mit Corona schreibe, stelle ich fest: Die Grenzen meiner Toleranz sind seit dem Ausbruch der Pandemie enger und ich bin ungnädiger geworden. Das erschreckt mich. Vieles muss neu gedacht werden, denke ich. Dieser Virus sollte der Anfang sein für ein anderes Leben, ein anderes Miteinander und ein anderes Wirtschaftssystem. Weniger Konsum wäre gut, dafür mehr nachhaltiges und solidarisches Handeln. Freiheit – das muss auch anders definiert werden.

Für irgendwas muss und soll doch die Pandemie gut sein, geht es mir immer wieder durch den Kopf. Für meinen Mann und mich ist es so: Wir spüren in der existentiellen Situation einmal mehr, wie sehr uns die gegenseitige Zuneigung stärkt und durchhalten lässt. Wir alle sollten den Ausnahmezustand dafür nutzen, unser bisheriges Leben auf den Prüfstand zu stellen. „Was macht ein gutes Leben aus?“ Das ist nunmehr eine Frage, die ich mir ernsthaft stelle. Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Aber ich bin der Antwort auf die Spur gekommen.

Canan Topçu ist Publizistin, Moderatorin und Dozentin.

Image credit: Canan Topçu