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DAS JAHR, IN DEM ICH FAST NIRGENDWO WAR Von Cristina Nord

Hotelzimmer in Beijing

Hotelzimmer in Beijing

Die Corona-Pandemie ist in eine neue Phase eingetreten: Parallel zur Verlängerung der weltweiten Lockdowns steigt auch die Durchimpfungsrate, zugleich bleibt die 7-Tage-Inzidenz vielerorts konstant hoch. Dabei zeigt sich auch, dass die Effekte der Pandemie und der zu ihrer Eindämmung verhängten Maßnahmen derart eingreifend sind, dass sie die Gesellschaft vermutlich noch länger begleiten werden. Unter dem Titel „This Is Tomorrow“ werden wir an dieser Stelle ab sofort immer mittwochs Texte unterschiedlicher Autor*innen veröffentlichen, die Überlegungen über die unmittelbaren wie langfristigen Folgen der Pandemie auf Gesellschaft und Kultur anstellen werden. Den Anfang dieser neuen Kolumne macht Cristina Nord, Leiterin des Berlinale Forum: Vor Corona war sie ständig auf Reisen und genoss die eigentümliche Mischung aus Plan und Kontingenz, die das Reisen in seinen gelungenen Momenten mit sich bringt. Heute dagegen: virtuelle Stippvisiten in Hongkong, Toronto oder Seoul. Eine Ahnung von dem, was fehlt, wenn man zu Hause festsitzt.

Im April ist mein Reisepass abgelaufen. Einen neuen habe ich vor etwa einem Jahr beantragt und im Frühjahr auf dem Bürgeramt in der Berliner Yorckstraße abzuholen versucht. Damals las ich die Vorschriften nicht aufmerksam genug und ließ den alten Pass zu Hause liegen, sodass der Angestellte am Schalter mir den neuen nicht aushändigte. Er hätte dazu den alten ungültig machen müssen.

Seit diesem Amtsbesuch sind einige Monate vergangen, und ich habe in dieser Zeit keinen weiteren Versuch unternommen, an meinen neuen Pass zu kommen. 2019 wäre das unvorstellbar gewesen. Heute ist es mir egal, ähnlich egal wie der Besitz einer Vielflieger*innenkarte. Die verschaffte mir einst Vorteile, die die Strapazen des Reisens milderten. Als kürzlich, unverdient und unerwartet, eine neue im Briefkasten lag, war das wie das plötzliche Aufblitzen eines Möglichkeitsraums aus einer fernen Vergangenheit. Vor Corona hatte ich zur Welt ein ähnlich gefräßiges Verhältnis wie ein Actionfilm, der in dichter Folge Locations rund um den Globus ,frühstückt‘, weil er seine production values ausstellen möchte. Ich fuhr zu Projektbesprechungen nach Warschau, Kairo oder Bordeaux, zu Antrittsbesuchen nach Madrid, Lissabon oder Paris, zu Filmfestivals nach Salvador da Bahia oder Busan, zum Scouting nach Montreal, New York oder Peking. Nach knapp einem Jahr Pandemie dagegen kommt es mir vor, als wäre ich in einem Film von Chantal Akerman gefangen, in „La chambre“ oder „Saute ma ville“ oder „Jeanne Dielman 23 Quai du Commerce 1080 Bruxelles“. Mit dem Unterschied, dass ich in meiner Wohnung nicht der Gelegenheitsprostitution nachgehe und die Küche nicht zur Explosion bringe.

Ich weiß, es gibt in diesen Monaten drängendere Sorgen als den Wunsch, wieder zu reisen, und ich weiß natürlich auch, welche Konsequenzen das viele Reisen hat. Es verschleißt Ressourcen, trägt zum Klimawandel bei … Ganz abgesehen davon, dass es ziemlich nerven kann, nach einem langen, mit Projektbesprechungen oder dem Sichten mittelguter Filme angefüllten Tag in ein Hotelzimmer zu kommen, das dem Bundesreisekostengesetz Genüge tut. In seiner touristischen Form verstellt das Reisen die Begegnung mit Unbekanntem eher, als dass es sie ermöglicht. Man findet in der Ferne das, was man erwartet, und kann Differenz nur als Folklore statt als Alltag, Logik und potenziell veränderbare Struktur wahrnehmen. Die Reaktion darauf – sich dünkelhaft nicht für eine Tourist*in, sondern für eine*n Reisende*n zu halten – macht die Sache nicht besser. Zumal die Reisenden aus anderen Zeiten, man denke etwa an Alexander von Humboldt, Pierre Savorgnan de Brazza oder Henry Morton Stanley, oft genug Teil kolonialer Unternehmungen waren. Diejenigen, die auf sie folgten, mochten das eigene Tun zwar reflektieren und dabei großartige Bücher oder Filme produzieren (die Arbeiten von Hubert Fichte, Maya Deren, Michel Leiris, Jean Rouch oder Annemarie Schwarzenbach möchte ich nicht missen), ihre Vorrechte aber gaben sie deshalb nicht auf.

Hotelzimmer in Toronto

Hotelzimmer in Toronto

Auch heute ist Mobilität ein Privileg, das Menschen mit bestimmten Einkommensverhältnissen, Staatsangehörigkeiten und heller Hautfarbe genießen, während dies anderen verwehrt bleibt. Der englische Autor Johny Pitts illustriert das in seinem 2019 erschienenen Travelogue Afropean: Notes from Black Europe mit einer Anekdote: Nachdem er an der Gare du Midi in Brüssel angekommen ist, knüpft er Bekanntschaft mit zwei weißen Backpackern. Er setzt sich zu ihnen und sucht in seinem Laptop nach einer Unterkunft für die Nacht. Es dauert nicht lange, und zwei Polizisten nähern sich, möchten seinen Pass sehen und eine Erklärung hören, was ihn nach Belgien verschlägt. „For a moment I felt that I was one of the young international jet-setters, chatting about the future and what books we were reading and politics, then suddenly I was brought back down to earth, different, a black threat to their white safety.“ [1]

Warum mir das Reisen dennoch fehlt wie kaum etwas Anderes in diesen von der Pandemie geprägten Monaten? Um die Frage zu beantworten, möchte ich noch einen Augenblick bei Afropean bleiben. Pitts, Sohn eines afroamerikanischen Musikers und einer weißen Britin, aufgewachsen in der Arbeiter*innenstadt Sheffield, fährt nach Lissabon, Paris, Brüssel, Berlin, Moskau und zu anderen Orten Europas, an denen afrodeszendente Menschen Fuß gefasst haben. Er streift durch die Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois oder die Lissaboner arrival city Cova da Moura, besucht James Baldwins Haus in Saint-Paul-de-Vence im Süden Frankreichs, erinnert an Langston Hughes’ Reise nach Moskau in den 1930er Jahren und an Puschkins afrikanischen Urgroßvater. Er beobachtet, führt von langer Hand vorbereitete Interviews, trifft zufällig auf Menschen, die ihm ihre Lebensgeschichten oder wilde Theorien erzählen und im nächsten Augenblick akkurate Analysen ihrer Lage vorbringen. Er lässt sich ein, setzt sich aus und erweitert damit seinen Blick auf die Welt. Was sich dabei nach und nach abzeichnet, ist die Erkenntnis, dass Schwarze Kultur seit Langem einen festen Platz in Europa hat, dabei viele unterschiedliche Ausprägungen annimmt und Europa sich selbst besser verstehen könnte, öffnete es sich für dieses Wissen.

Das vermittelt eine Ahnung von dem, was fehlt, wenn man zu Hause festsitzt. Mir fehlt es, mich von etwas herausfordern zu lassen, was ich noch nicht kenne. Mir fehlt die Mischung aus Plan und Kontingenz, die zum Reisen gehört. Mir fehlen die Begegnungen mit Menschen, die ich noch nicht kenne. Mir fehlt die Möglichkeit, meinen Körper in einem anderen Kontext zu erleben und so die spezifische Materialität dieses Kontextes zu erfahren. Mir fehlt es, die Wahrnehmung feinzustellen und die Widersprüche, die dabei nolens volens sichtbar werden, anzuerkennen, statt sie einem totalisierenden Denken unterzuordnen. Vielleicht ist das einer der schmerzhaftesten Aspekte der Pandemie: die Reduzierung auf das Eigene – das eigene Land, die eigene Stadt, das eigene Viertel, die eigene Wohnung, die eigene Familie – und die damit einhergehende Homogenisierung.

Hotelzimmer in Rio

Hotelzimmer in Rio

Filme und Bücher bieten zwar abstrakte Horizonterweiterungen, und seit dem Frühjahr zählen virtuelle Stippvisiten in Hongkong, Toronto oder Seoul zu meiner Arbeit. Doch das Körperliche bleibt dabei auf der Strecke. Sobald ich dort bin, reagiere ich auf Salvador da Bahia anders als zu Hause, wenn ich mich der Stadt mit Hubert Fichtes Explosion oder Thomas Meineckes Lookalikes nähere. Beim Lesen verpasse ich die Hitze, die Luftfeuchtigkeit und deren Effekte auf meinen Körper, den Geschmack der in Palmöl zubereiteten Speisen, die von den Trommeln ausgelösten Schwingungen in der Luft, wenn ich eine Candomblé-Zeremonie besuche, und auch die für mein Temperaturempfinden gewöhnungsbedürftige Gleichsetzung von Klimaanlagenleistung und Luxus in der Shoppingmall, wo ich ins Kino gehe. Wenn ich mir die Filme Hong Sang-soos ansehe, wünsche ich mir, an einem der darin so häufig vorkommenden Gelage unter Freund*innen teilzunehmen. Sobald ich leibhaftig in Südkorea unterwegs bin und zu viel Soju trinke, ist das Ergebnis ein fürchterlicher Kater. Ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, die die Mundmuskulatur hat, wenn sie auf Koreanisch „danke“ sagen möchte, oder vom Zorn, wenn ich in der U-Bahn von Busan die Orientierung verliere, weil meine Augen die wenigen Hinweisschilder in lateinischer Schrift nicht finden. Oder von der Peinlichkeit, wenn ich mir bei Tisch selbst ein Getränk einschenke, statt darauf zu warten, dass es mein Gegenüber tut.

Dann gibt es die besonderen Momente, die ich dem Dienstreisetagesplan abtrotze: ein Sonntagvormittag in Warschau im späten Februar, es ist kalt und neblig, ich bin die einzige Besucherin des Jüdischen Friedhofs, und während ich an den Gräbern entlanggehe, sammeln sich Krähen über mir, erst nur wenige, dann immer mehr, sie fliegen genau dorthin, wohin ich gehe, ganz gleich, welche Richtung ich einschlage; sie jagen mir Angst ein. Eine halbe Stunde auf dem Dach des Mailänder Doms, das Schwindelgefühl auf der abschüssigen Fläche und der prächtige Sonnenuntergang. Eine Stunde Joggen am New Yorker East River mit Blick auf Brooklyn. Oder das Abendessen, oft ein heikler Moment: Meistens nämlich beschleicht mich das Gefühl, für die anderen ein Alien zu sein, wenn ich abends allein in ein Restaurant gehe. Es ist eine Erinnerung daran, wie viel Energie es verlangt, als Frau öffentlichen Raum zu beanspruchen, als gäbe es keinen Sexismus.

Hotelzimmer in Warschau

Hotelzimmer in Warschau

Mit den Jahren ist eine Art Logbuch der Empfindungen und Wahrnehmungen entstanden, viele davon oberflächlich oder touristisch, manche unheimlich, manche bewusstseinserweiternd. 2020 sind nur wenige neue Seiten dazugekommen. So von einer Jurytätigkeit für das Filmfestival IndieLisboa, wegen der ich im Spätsommer nach Lissabon fuhr. Vor einem Ausflug an den Strand habe ich eine mir bis dato unbekannte Meeresfrucht gegessen, Entenmuscheln, toll! Ich habe eine Ahnung davon erhalten, was es bedeutet, unter Polizeischutz zu stehen, weil Mamadou Ba, Mitglied unserer Jury und antirassistischer Aktivist, Todesdrohungen erhalten hatte und ihn deshalb Polizisten in Zivil begleiteten. Und ich habe beobachten können, wie die Menschen in Lissabon Corona in ihren Alltag integrieren. Eine Geste hat sich mir besonders eingeprägt: die Lässigkeit, mit der sie die hellblauen Einwegmasken am Handgelenk, am Oberarm oder am Ellbogen tragen, bevor sie sie in Geschäften oder in der U-Bahn aufsetzen.

Je lückenloser sie die Maßnahmen akzeptierten, desto bizarrer erschien mir, was zur gleichen Zeit in Berlin passierte: der Aufmarsch der Leugner*innen, die Verwechslung von Freiheit und Rücksichtslosigkeit; die Unfähigkeit, eine neue Situation mit all ihren Unwägbarkeiten auszuhalten. Die Jury-Kolleg*innen berichteten, dass es solche Demonstrationen auch in Lissabon gebe, mit 200 Teilnehmer*innen und in abgelegenen Gegenden der Stadt.

Cristina Nord leitet seit 2019 das Berlinale Forum, eine unabhängige Sektion der Berlinale. Zuvor hat sie für das Goethe-Institut in Brüssel gearbeitet, wo sie für die Kulturprogramme in der Region Südwesteuropa zuständig war.

Image credit: Cristina Nord

Anmerkung

[1]Johny Pitts, Afropean: Notes from Black Europe, London 2019, S. 89.