ZUR SOLIDARITÄT UNTER UNGLEICHEN Von Mahret Ifeoma Kupka
Ich ging kürzlich mit einem Freund spazieren, wie das dieser Corona-Tage so üblich ist. Wir sprachen über dies und das, darüber, was uns fehlt und worauf wir uns freuen usw. Plötzlich sagte er, dass er besonders Gespräche über zeitgenössische Kunst vermissen würde, den anregenden Austausch mit Kolleg*innen. Ich schaute ihn mit meiner FFP2-Maske erstaunt an und sagte, dass er sich doch mit mir austauschen könne und wir das bereits die längste Zeit unseres Spaziergangs getan hatten. Daraufhin entgegnete er: „Nein, wir sprachen über Rassismus, Schwarze Künstler*innen, Dekolonisierung und Afrika. Ich meine die richtige Kunst.“ Und während er das sagte und ich ihn weiter erstaunt anschaute, fiel ihm und auch mir auf, dass etwas sehr Merkwürdiges an dem war, was er da gesagt hatte. „Schwarze Künstler*innen sind also keine richtigen Künstler*innen?“, fragte ich lächelnd, während wir beide wussten, dass darauf mit „doch“ zu antworten, zu einfach wäre. Ich hatte gerade einen wissenschaftlichen Essay publiziert, der sich mit dieser Frage beschäftigte. Ausgehend von dem berühmten Zitat Jean-Michel Basquiats – „I am not a Black artist; I am an artist“ – diskutiere ich darin Möglichkeiten der Annäherung und Solidarität über strukturell bedingte Differenzen hinweg. [1]
Mitte Februar beschrieb Megan O‘Grady in einem Essay in der New York Times die Bedeutung von Kunst in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. [2] Besonders figurative Malerei und Skulptur hatten die Funktion, „directly to the needs and aspirations of Black America“ zu sprechen. Es ging auch darum, mit einem westlichen, weißen Kulturkanon zu brechen, der zu dieser Zeit in der Abstraktion oder der Minimal Art seine unmittelbare Repräsentionalität verlor. [3] Wer Schwarz war und abstrakt arbeitete, hatte es zu dieser Zeit in der eigenen Künstler*innen-Identitäts-Verortung nicht leicht: „For [Jack] Whitten and other Black artists of his generation, abstraction was something of a lonely course, one that set them apart from the Black Arts Movement.“ Schwarze Kunst in den USA der 1960er Jahre war offiziell deutlich politisch und vor allem figurativ. Daraus allerdings einem Beharren auf einer spezifischen Schwarzen Kunst und ihrer Fokussierung auf Figuration die Bedeutung abzusprechen, sie gar als rein „identitätspolitisch“ abzutun, wäre fatal. Es bleibt vielmehr zu untersuchen, ob die neue Aufmerksamkeit, die abstrakte Kunst Schwarzer US-amerikanischer Künstler*innen der 1960er Jahre heute erhält – fast ein halbes Jahrhundert später –, nicht eher im Zusammenhang steht mit der zuvor bewussten Trennung in Schwarz und weiß, durch die systemische Ausschlüsse und Ungleichverteilungen überhaupt erst sichtbar gemacht werden konnten: „The license to free expression that white artists have been granted by birthright — especially white male artists, so often perceived as the vanguard in visual arts — hasn’t been available to Black artists“, schreibt O‘Grady. Das Privileg, einfach Kunst machen zu können, haben Schwarze Künstler*innen und Künstler*innen of Color bis heute nicht vollständig. Allerdings haben die Schwarzen politischen Kunstbewegungen der 1960er Jahre möglicherweise mit ihrer Institutionskritik die Basis geschaffen, auf der heute eine angemessene Theoretisierung stattfinden kann.
Es stimmt, dass ich sehr viel über „Rassismus, Schwarze Künstler*innen, Dekolonisierung und Afrika“ spreche. Diese Themen sind für mich untrennbarer Teil zeitgenössischer Kunstbetrachtungen, deren Integrierung das gesamte System nachhaltig verändert. Die „richtige Kunst“ ist demnach die, in der alle vorhandenen Perspektiven und Erfahrungsräume ihren Platz haben. Es gibt also kein „normal“, zu dem nach einem ausgedehnten Gespräch über Rassismus zurückgekehrt werden kann. Normal ist ein Prozess, und wir sind mittendrin.
„Fühlst du dich nicht ausreichend repräsentiert? Sollen wir mehr über die Kunst weißer Cis-Heteromänner sprechen?“, fragte ich meinen Freund süffisant. Dabei kann ich das unbestimmte Unbehagen, das spontan aus ihm sprach, durchaus nachvollziehen. Ein Blick in die Werbung, in die Modemagazine, in die Onlineshops, ja, selbst in aktuelle Kunstausstellungsprogramme zeigt eine bisweilen groteske Übertreibung. Allerspätestens seit der weltweiten Black-Lives-Matter-Proteste im vergangenen Jahr scheint, was zuvor zu viel an weiß war, einem Zuviel an Schwarz gewichen zu sein. Schwarz ist Trend. Von überall her strahlen, winken, posieren, provozieren die zuvor marginalisierten Körper – daran ist nichts falsch. Was mich einerseits freut und entlastet – schön, so viel Inspiration zu bekommen –, lässt mich den Backlash derer fürchten, die nun um den Verlust an Aufmerksamkeit und Deutungshoheit bangen und den vermeintlich „identitären Wahn“ (das heißt alles, was nicht-weiß ist und seit Langem unterdrückte Sichtbarkeit einfordert) als „größte Bedrohung“ sehen, wie beispielsweise Horst Bredekamp am Montag in der FAZ. [4]
Das, was Bredekamp als „identitären Wahn“ bezeichnet, ist Identitätspolitik. Was darunter heute verstanden werden kann, welche Gefahren mit einer derartigen Politik verbunden sind und wie sich diese von dem unterscheidet, was Ende der 1970er Jahre das Combahee River Collective als solche begründete, beschreibt z. B. Asad Haider in Mistaken Identity. [5] Ihm zufolge ist das größte Problem der zeitgenössischen Identitätspolitik, dass sie weniger eine revolutionäre politische Praxis (so wie ursprünglich gedacht!) als eine individualistische Methode ist. Sie basiert auf dem Bedürfnis des Individuums nach gesellschaftlicher Anerkennung und untergräbt damit die Möglichkeit kollektiver Selbstorganisation und gesellschaftstransformierender Kämpfe. Das passt ein bisschen zu dem, was Bredekamp sehr viel reißerischer in der FAZ schreibt: „Die Floskeln der Selbstbestimmung sind Zwangsmittel eines totalitären Zugriffs auf Sprache, Geschichte und Zukunft.“ Oder: „Am Ende einer identitären Politik [steht] nicht etwa eine aufgeklärte multikulturelle Realität […], sondern die Reinheit einer so sauberen wie menschenverachtenden Orientierung.“ Ich frage mich, ob Bredekamp hier vielleicht eher von der rechtsextremen identitären Bewegung spricht (zumindest mit der „Verwechslung“ spielt). An anderer Stelle heißt es: „Das Unsägliche des Identitären liegt in der Gnadenlosigkeit, in der die Ethnien und ihre Kulturen voneinander getrennt werden.“ [6] Tatsächlich greift Bredekamp merkwürdigerweise Praktiken an, die deutlich auf das Gegenteil abzielen und sogar explizit radikal kollaborative Solidarität fordern, deren Teil auch Weiße sein sollen, nur eben nicht länger ausschließlich.
Im April erscheint die deutsche Übersetzung einiger einflussreicher Schriften der afroamerikanischen Aktivistin Audre Lorde. [7] Sie initiierte in ihrer Zeit als Gastprofessorin an der Freien Universität im Berlin der 1980er Jahre die Gründung der Schwarzen deutschen Bewegung. Übersetzt wurden die Texte von einem Team: Marion Kraft, afrodeutsche Autorin und Übersetzerin sowie Zeitzeugin, gemeinsam mit Eva Bonné (weiß), Amerikanistin und Übersetzerin von unter anderen Sara Gran, Richard Flanagan, Amy Sackville und Michael Cunningham. Das Nachwort stammt von der Politikwissenschaftlerin und Postkolonialismus-Expertin Nikita Dhawan (PoC). Die drei konnten ihre jeweiligen Expertisen vor den Hintergründen ihrer Erfahrungswelten einbringen. Eine Übersetzung ist nie allein wörtlich, sondern bedarf auch einer sprachsensiblen Übertragung in den entsprechenden kulturellen Kontext.
Kraft äußerte sich im Deutschlandfunk [8] auch zur Kontroverse um die Übersetzung ins Niederländische von Amanda Gormans Gedicht zur Inauguration Joe Bidens. Die Aktivistin Janice Deul hatte auf Machtstrukturen und Marginalisierungen im Literaturbetrieb verwiesen und den damit verbundenen Automatismus, dass zuerst nach weißen Expert*innen gesucht und gar nicht daran gedacht wird, dass es auch andere Übersetzer*innen geben könnte, die vielleicht aufgrund ihrer Expertise besser geeignet sein könnten. Daraufhin trat die beauftragte Übersetzerin (Marieke Lucas Rijneveld) zurück und machte Platz für ein Übersetzer*innen-Team. Die belgisch-kongolesische Musikerin Marie-Pierra Kakoma wird das Gedicht ins Französische übersetzen. Für die deutsche Übersetzung wurden Kübra Gümüşay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling beauftragt. [9] Es gibt weitere gelungene Beispiele für Kollaboration auf Augenhöhe (!), die das empathische Einfühlen in die Erfahrungswelten anderer überhaupt erst ermöglicht. Dass das dringend notwendig ist, zeigen nicht zuletzt solche peinlichen Entgleisungen wie im Feuilleton (nicht nur) der FAZ.
„Was wünschen Sie sich für die Zukunft?“, wurde ich kürzlich auf einem Panel gefragt. Ich bin realistisch. Jahrhundertelang gewachsene Strukturen lassen sich nicht spontan überwinden. Rückblickend hat sich sehr viel verändert; verinnerlichte, rassistische Strukturen wirken aber weiterhin in unseren Köpfen, bestimmen unser Handeln. „Ich wünsche mir, dass die Leute zumindest kurz zusammenzucken, innehalten und nicht länger wie selbstverständlich Rassismen reproduzieren“, antworte ich. Eine Gesellschaft, in der alle gleichberechtig und gleichwertig miteinander verschieden sein können, braucht alle Informationen über ihre Mitglieder, und diese bekommen wir, wenn wir uns gegenseitig davon erzählen und einander aufrichtig zuhören – in Neugier darauf, wie diese Gesellschaft (und ihre Kunst) aussehen werden.
Dr. Mahret Ifeoma Kupka ist Kunstwissenschaftlerin, Kuratorin und freie Autorin. In ihren Ausstellungen, Vorträgen, Texten und interdisziplinären Projekten befasst sie sich mit den Themen Rassismus, Erinnerungskultur, Repräsentation und der Dekolonisierung von Kunst- und Kulturpraxis in Europa und auf dem afrikanischen Kontinent.
Image credit: Mahret Ifeoma Kupka
Anmerkungen
[1] | Mahret Ifeoma Kupka, „I am not a Black Artist; I am an artist – Kunst und Identität“, in: Hypthesen. Kunst und Krise, 12.02.2021, https://kxk.hypotheses.org/442; gesehen am 09.03.2021. |
[2] | Megan O‘Grady, „Once Overlooked, Black Abstract Painters Are Finally Given Their Due“, in: The New York Times Style Magazine, 12.02.2021, https://www.nytimes.com/2021/02/12/t-magazine/black-abstract-painters.html; gesehen am 09.03.2021. |
[3] | Bei der Schreibweise von „Schwarz“ mit großem S und „weiß“ klein und kursiv orientiere ich mich am Glossar für diskriminierungssensible Sprache von amnesty international: https://www.amnesty.de/2017/3/1/glossar-fuer-diskriminierungssensible-sprache. |
[4] | Horst Bredekamp, „Warum der identitäre Wahn unsere größte Bedrohung ist“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.03.2021, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/postkolonialismus-schaedigt-antikoloniale-vernunft-17232018.html; gesehen am 09.03.2021. |
[5] | Asad Haider, Mistaken Identity. Race and Class in the Age of Trump, London 2018. |
[6] | Vgl. Anm. 3. |
[7] | Audre Lorde, Sister Outsider, München 2021. |
[8] | „Streit um Amanda-Gorman-Übersetzung. ‚Es geht nicht um Hautfarbe, sondern um Erfahrungswelten‘. Marion Kraft im Gespräch mit Timo Grampes“, in: Deutschlandfunk Kompressor, 02.03.2021, https://www.deutschlandfunkkultur.de/streit-um-amanda-gorman-uebersetzung-es-geht-nicht-um.2156.de.html?dram:article_id=493425; gesehen am 09.03.2021. |
[9] | Sarah Hucal, „Armanda Gormans niederländische Übersetzerin tritt vom Job zurück“, in: DW, 03.03.2021 https://www.dw.com/de/amanda-gorman-übersetzerin/a-56760193; gesehen am 09.03.2021. |