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DAS GEMEINSAME LEBEN Von Heinz Bude

Das gemeinsame Leben ist weder ausschließlich das private noch ausschließlich das öffentliche Leben. Es ist das Leben in Gemeinschaft, das nur durch den Kontakt mit und in der Angewiesenheit auf andere entsteht – seien dies Nachbar*innen, Passant*innen oder Arbeitskolleg*innen, Menschen, denen man zufällig oder mit Absicht begegnet. Manche dieser Kontakte mögen trivial sein, mache unangenehm, doch in Summe sind sie das, was den Alltag auf der Straße, in der wir wohnen, und in dem Viertel, in dem wir einkaufen, und an dem Ort, den wir als Lebensmittelpunkt gewählt haben, entschieden mitbestimmt. Der Soziologe Heinz Bude spürt in seinem Beitrag diesen geteilten und vertrauten Praktiken nach, die im Lockdown verloren zu gehen drohen.

Man sagt, dass das Leben unterm Lockdown zutage fördert, was wir für ein gutes Leben unbedingt brauchen, weil wir es heute so schmerzlich vermissen. Zum Beispiel das Reisen – würden sicher viele sagen. Das Reisen ist Ausdruck der Freiheit, weil man in anderen Räumen mit weiten Horizonten unterwegs ist. Woanders kann man eine andere Person sein oder sich zumindest anders geben und erleben. Die Fernreise, die man sich leistet, verspricht den Luxus des Andersseins als Kompensation für die Mühen des Gleichseins. Man lässt das alltägliche Funktionieren hinter sich, und man summt sich schon im Flugzeug, über den Wolken, in einen außeralltäglichen Zustand, da wird, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.

Aber brauchen wir das Reisen unbedingt? Das Schönste am Wegsein ist doch die Rückkehr ins Dasein. Das Erlebnis des Raumes braucht den Gegensatz zur Erfahrung des Ortes. In den Raum bricht man auf, an den Ort kehrt man zurück. „From space to place“, heißt es, sei die Formel für das Leben nach dem Neoliberalismus. Die globalen Nomaden verlassen die urbanen Module, um in den ganz normalen Städten („ordinary cities“ [1] ) wieder den Zusammenhang von Bauen, Wohnen und Denken zu erfahren.

Neben dem Reisen vermissen viele die Berührung. Man will wieder die Freunde umarmen, über die Hände der Großeltern streichen und der Enkelin einen Kuss geben. Auch unter dem Lockdown gibt es natürlich Nähe und Distanz. Die Kontakte werden nicht unbedingt geringer, sie werden nur feiner reguliert. Die „erweiterte Familie“ mit Kindern, Eltern und Großeltern, die sowieso nicht am gleichen Ort zusammenleben, wird über WhatsApp und Instagram als virtuelles Kommunikationssystem hergestellt, und die „intime Kleinfamilie“ rückt durch Homeoffice und Homeschooling zu Hause noch näher zusammen.

Aber im Vermissen von körperlicher Berührung verbirgt sich der Wunsch nach zwischenmenschlicher Berührung, die nicht durch die soziotechnischen Einstellungen von Nähe und Distanz vorsortiert ist. Es geht um den empfundenen Verlust von Gelegenheiten zur Begegnung, die beweisen, dass wir keine Monaden sind, für die die anderen außerhalb unserer kleinen Lebenswelten nur als Wille und Vorstellung existieren.

Die dritte Verlustanzeige betrifft die soziale Initiativkraft. Die allermeisten, die nicht in der Gastronomie, im Hotelgewerbe, in den Branchen der körpernahen Dienstleistungen und nicht in den Bereichen Kunst, Kultur und Bildung arbeiten, gehen nach wie vor ihren regulären Beschäftigungen in belüfteten oder nicht belüfteten Räumen, mit oder ohne FFP2-Maske, mit kurzen oder langen Anfahrwegen nach. Da läuft der Betrieb in den eingelebten Routinen vor sich hin. Aber alles, was mit Politik und dem Versuch, unsere Lebensverhältnisse nach unserem Willen zu gestalten, zu tun hat, liegt unter dem Lockdown danieder. Niemand scheint hier noch etwas in die Hand zu nehmen. Der Blick ist auf eine Exekutive gerichtet, der die Kontrolle über das Virus entglitten ist und die nur noch die Angst ausstrahlt, dass die Leute auch bloß Ruhe bewahren. Unter der Hand hat sich ein Phlegmatismus beim Umgang mit dem Virus eingeschlichen. Man will’s schon gar nicht mehr so genau wissen: wie hoch die Prozentzahl der Übersterblichkeit ist, wie schnell sich die hoch ansteckenden Mutanten in Großbritannien ausbreiten und wann in Deutschland für alle ein Impfangebot existiert. Beobachter*innen mit tiefenpsychologischem Gespür erscheint die Bevölkerung seltsam abgebrüht und abgestumpft.

Hier zeigt sich, was uns wirklich abhandengekommen ist: das Gefühl fürs gemeinsame Leben. Das gemeinsame Leben ist weder ausschließlich das private Leben, das sich zwischen den eigenen vier Wänden abspielt, noch ausschließlich das öffentliche Leben, das für alle sichtbar ist und deshalb institutionellen Regelungen unterliegt. Es liegt dazwischen und macht den Alltag auf der Straße, in der wir wohnen, und im Viertel, in dem wir einkaufen, und in der Stadt, die wir als Lebensmittelpunkt benennen, aus. Es beruht auf einer geteilten und vertrauen Lebensweise, wie sie sich in zufälligen Begegnungen beim Bäcker oder im Biomarkt oder bei organisierten Gelegenheiten im Fitnessclub oder in der Kirche oder bei der Arbeit im Büro oder in der Fabrik zeigt. Es handelt sich, genau betrachtet, um Praktiken des reziproken Grüßens, der wohlwollenden Kenntnisnahme, der angemessenen Zurückhaltung, der unausgesprochenen Verpflichtung und der gezügelten Distinktionen. Es ist die leichte Theatralität der von Erving Goffman so wunderbar beschriebenen Interaktionsrituale, die eine gemeinsame Welt zur Erscheinung bringen. [2]

Marcel Hénaff sieht darin eine Art von Solidarität, die einfach damit zusammenhängt, am selben Ort zu wohnen. [3] Er zitiert Jane Jacobs, die Altmeisterin der Stadtsoziologie mit der Bemerkung, dass die meisten dieser Kontakte trivial seien, aber in ihrer Summe alles andere als trivial erscheinen. [4] Sie bilden nämlich den Boden des gemeinsamen Lebens, dessen wir uns jeden Tag, wenn wir nur vor die Tür gehen, vergewissern. Die Nachbar*innen erkennen einander und verfolgen mit flüchtigen Blicken, wie sich mit der Zeit ihr Aussehen verändert, und man gewinnt das untergründige Gefühl, gemeinsam zu altern.

Mit den Nachbar*innen verbindet einen weder die unkündbare Verwandtschaft noch eine gewählte Freundschaft. Dennoch sind sie einem nahe, weil sie nebenan oder auf der anderen Seite wohnen. Man teilt den Ort und damit die Zeit und die Fäden einer unscheinbaren Aufmerksamkeit und uneingestandenen Verbundenheit.

Dieses gemeinsame Leben ist durch die Pandemie gefährdet. Das ist womöglich der Grund für die vielen wahnsinnsartigen Ausraster und den schleichenden Phlegmatismus beim Abstandhalten, Händewaschen und Masketragen. Man sieht den Sinn schon ein, aber das geforderte Verhalten hat keinen richtigen Sitz im Leben. Wir vereinzeln sehenden Auges, weil das gemeinsame Leben schwindet.

Die Intelligenz unserer kollektiven Existenz kommt aus dem gemeinsamen Leben, das leider nicht durch Übereinkünfte hergestellt und sicher nicht durch Verträge gesichert werden kann. Es ist das Leben vor Ort, wo man sich grüßt, wo man ein paar Worte wechselt, wo man sich in die Haare kriegt, wo man einander im Notfall beisteht und wo man, ohne groß darüber nachzudenken, unglaublich großzügig ist. Das passiert alles wie von selbst. Es ist dieses anonyme Allgemeine, vor dessen Hintergrund überhaupt erst begreifbar wird, dass es so etwas wie verallgemeinerbare Interessen gibt, über die wir uns irgendwie verständigen müssen, wenn wir nicht nur wissen wollen, wie es in Zeiten der Pandemie weitergeht, sondern mehr noch, wie wir in postpandemischen Zeiten leben wollen.

Heinz Bude lehrt Soziologie in Kassel und lebt in Berlin. Im Oktober 2020 ist er zum Gründungsdirektor des documenta-instituts berufen worden. Zuletzt ist von ihm der zusammen mit Bettina Munk und Karin Wieland kollaborativ geschriebene Roman AUFPRALL erschienen.

Aus rechtlichen Gründen können die Bilder, die diesen Text zum Zeitpunkt seiner Publikation begleiteten, nicht mehr gezeigt werden.

Anmerkungen

[1]Jennifer Robinson, Ordinary Cities. Between Modernity and Development, London/New York 2005.
[2]Vgl. Etwa Erving Goffman, Interaktionsrituale, Frankfurt/M. 1994 (englisch zuerst 1961).
[3]Marcel Hénaff, Die Stadt im Werden, Hamburg 2019 (französisch zuerst 2008).
[4]Jane Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Berlin et al. 1963 (englisch zuerst 1961), S. 47.