Cookie Warnung
Für statistische Zwecke und um bestmögliche Funktionalität zu bieten, speichert diese Website Cookies auf Ihrem Gerät. Das Speichern von Cookies kann in den Browser-Einstellungen deaktiviert werden. Wenn Sie die Website weiter nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Akzeptieren

REVOLUTIONÄRE INTEGRATIONSARBEIT. EINE DELEGATION DER ZAPATISTISCHEN BEWEGUNG AUS MEXIKO BEREIST EUROPA Von Jens Kastner

Wandbild beim Zweiten Intergalaktischen Treffen, Madrid 1997

Wandbild beim Zweiten Intergalaktischen Treffen, Madrid 1997

Benannt nach einer der zentralen Figuren der Mexikanischen Revolution, Emiliano Zapata, gründete sich 1983 die mexikanische, überwiegend von Indigenen getragene zapatistische Bewegung. In Abkehr vom guerilla- und parteitypischen Avantgardekonzept formulierten die Zapatistas die Ziele ihres transnationalen Kampfes: Land, Brot, Demokratie, Würde, Freiheit, Bildung, Gesundheit, später dann auch und dezidiert Geschlechtergerechtigkeit. Es folgten Intergalaktische Treffen im lakandonischen Urwald, bei denen über basisdemokratische Politikmodelle, linke Perspektiven, bäuerliche Selbstverwaltung, Feminismus, Autonomie in den Städten und vieles andere diskutiert wurde. Der Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner spürt der historischen Entwicklung dieser sozialbewegten und theoretischen Impulsgeberin für diverse antikapitalistische Mobilisierungen nach, die sich nun aufgemacht hat, Europa zu bereisen.

Anfang Mai stach in Mexiko ein Schiff auf dem Weg Richtung Europa in See. Ziemlich genau 500 Jahre nach der Eroberung Tenochtitlans, dem heutigen Mexiko-Stadt, durch die Truppen von Hernán Cortés im Jahre 1521 machte sich das „Geschwader 421“ genannte Boot auf den Weg. Es ist die Vorhut einer Invasion, die diesmal in entgegengesetzter Richtung verlaufen soll – geografisch wie politisch. Der brutalen Kolonisierung wird durch eine symbolische Eroberung mit diskursiven Mitteln begegnet, der kleinen Besatzung des Segelschiffes werden insgesamt rund 160 Delegierte folgen, davon 75 Prozent Frauen: Es geht um die aktuelle Kampagne der zapatistischen Bewegung aus Mexikos südlichstem Bundesstaat Chiapas.

Vorbereitungen zum „Marsch der Würde“, San Cristóbal de las Casas, Mexiko 2001

Vorbereitungen zum „Marsch der Würde“, San Cristóbal de las Casas, Mexiko 2001

Benannt nach Emiliano Zapata (1879–1919), einem Sozialrevolutionär zu Zeiten der Mexikanischen Revolution (1910–1920), hatte die zapatistische Bewegung am 1. Januar 1994 ihren zunächst bewaffneten Aufstand begonnen – an dem Tag, an dem das Freihandelsabkommen zwischen Kanada, den USA und Mexiko (NAFTA) in Kraft trat. Die Zapatistas kontrollieren heute rund 1.000 Gemeinden in Chiapas, in denen sie basisdemokratische politische Strukturen und alternative Ökonomien sowie eigene Bildungs- und Gesundheitssysteme aufgebaut haben. Sie gehören in der Regel einer jener indigenen Bevölkerungsgruppen an, die den Maya zugerechnet werden. Trotz ihrer lokalen Verankerung war die gegen den Neoliberalismus, Rassismus und die Armut der Indigenen gerichtete Erhebung schnell zum Referenzpunkt der globalisierungskritischen Bewegungen Ende des 20. Jahrhunderts geworden. Dafür hatte die um die Guerilla EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional, Zapatistisches Heer zur Nationalen Befreiung) organisierte Bewegung mit mehr oder weniger spektakulären Aktionen immer wieder selbst gesorgt. Als 1996 das „Erste Intergalaktische Treffen gegen den Neoliberalismus und für die Menschlichkeit“ stattfand, trafen sich rund 5.000 Sozialbewegte und Intellektuelle im lakandonischen Urwald in Chiapas. Eine „Internationale der Hoffnung“ wurde beschworen, die später die globalisierungskritischen Proteste von Seattle, Prag und Genua beflügelte. [1] Auch die Effekte auf die linke Theorieproduktion waren – verglichen mit den Auswirkungen, die soziale Bewegungen hier gemeinhin zeitigen – enorm: Der Politikwissenschaftler John Holloway sprach beispielsweise von einer antistaatlichen Artikulation eines „Kampfes der Würde“ [2] , die sich im Zapatismus neu formierte, der dekolonialistische Literaturwissenschaftler Walter D. Mignolo interpretierte die Kombination indigener Weltsichten und undogmatisch linker Konzepte als „theoretische Revolution“, [3] und die marxistisch-feministische Theoretikerin Frigga Haug sah durch den Zapatismus nichts weniger als die „Frage nach einer guten Gesellschaft“ [4] neu aufgeworfen. Auch Pop und Kunstfeld blieben nicht unberührt: Schon 1994 widmeten Die Goldenen Zitronen der EZLN einen Song auf ihrem Album Das bißchen Totschlag, Bands wie Rage Against The Machine und Manu Chao folgten mit zapatistisch inspirierten Liedzeilen und Solidaritätsstatements. In Allan Sekulas auf der Documenta 11 (2002) gezeigten Arbeit Seemannsgarn/Fish Story, die der Globalisierung am Beispiel der internationalen Frachtschifffahrt nachgeht, werden die Zapatistas als Zeug*innen und Ankläger*innen der globalisierten Rohstoffausbeutung zitiert. [5] Die Beispiele ließen sich fortführen.

Als im Jahr 2001 in Mexiko ein verwässertes Gesetz zur indigenen Autonomie verabschiedet werden sollte, tourte die Kommandantur der EZLN mit einer Buskarawane, begleitet von rund 2.000 Menschenrechtsbeobachter*innen und Aktivist*innen aus Europa und Lateinamerika, durchs ganze Land. Auch die Umstrukturierung der zapatistisch kontrollierten Gemeinden im Jahr 2003 erlangte noch einiges an internationaler Aufmerksamkeit. Durch die Reform wurde etwa auch der Frauenanteil in politischen Gremien deutlich erhöht. Genderpolitische Akzente hatten die Zapatistas schon mit dem „Revolutionären Frauengesetz“ von 1993 gesetzt, die mit verschiedenen internationalen Frauentreffen unterstrichen wurden. Zum Jahreswechsel 2007/2008 fand in Chiapas ein internationales Frauentreffen mit rund 3.000 Teilnehmerinnen unter dem Slogan „Das Recht glücklich zu sein“ [6] statt. Dass die antipatriarchalen Ansprüche sehr ernst genommen werden, zeigt sich auch in der Frauenquote der nun nach Europa reisenden Delegation.

Wandbild im Caracol Morelia, 2004

Wandbild im Caracol Morelia, 2004

Ab Mitte der 2000er Jahre wurde es ruhiger um den Zapatismus. An den Zielen änderte sich jedoch wenig. Sie gehen weit über die Forderung nach Anerkennung indigener Autonomie hinaus, die antipatriarchale, kapitalismuskritische und ökologische Agenda wurde in den letzten Jahren sogar ausgeweitet. In Chiapas selbst wurde der Einflussbereich noch einmal territorial erweitert und politisch vertieft. Zeitgleich gewann der sogenannte Progressismus in Lateinamerika an Einfluss, die linken Regierungsprojekte in Venezuela, Brasilien, Bolivien, Ecuador u. a. liefen dem Zapatismus in Sachen transnationaler Ausstrahlungskraft ein wenig den Rang ab. Zwar gibt es nach wie vor prozapatistische Netzwerke an vielen Orten der Welt, und auch der Kaffee aus den zapatistischen Gemeinden wird nach wie vor in ganz Europa vertrieben. Aber als sozialbewegte und theoretische Impulsgeberin für antikapitalistische Mobilisierungen ist die zapatistische Bewegung doch in den Hintergrund getreten. Neben den progressistischen Projekten und sonstigen konjunkturellen Aufmerksamkeitsschwankungen ist dafür auch verantwortlich, dass Erfolg und Scheitern linker Politik im metropolitanen europäischen Kontext anders gedacht werden als im Rahmen einer Jahrhunderte währenden Widerstandstradition. Der ecuadorianisch-mexikanische Philosoph Bolívar Echeverría (1941–2010) hat das in einer kürzlich im Argument Verlag erschienenen Sammlung seiner Texte ganz schön auf den Punkt gebracht. „Beharren, ohne aufzuhören zu improvisieren; unbeirrbar sein, aber auch wandelbar; der eigenen Stärke trauen, aber auch dem Zufall: All das sind Tugenden zapatistischer Politik, die nicht leicht in eine politische Kultur wie die europäische zu integrieren sind.“ [7] Möglicherweise lässt sich die mit dem „Geschwader 421“ begonnene Kampagne in diesem Sinne als Integrationsarbeit begreifen. „Unsere Delegierten tragen ein großes Herz mit sich“, schrieb der Sprecher und politisch-militärisch Verantwortliche der Bewegung, Subcomandante Moisés, zu Beginn der Reise. „Nicht nur, um diejenigen zu umarmen, die auf dem europäischen Kontinent rebellieren und Widerstand leisten, sondern auch, um von ihren Geschichten, Geografien, Kalendern […] zu lernen.“ [8] Im Sommer will die Delegation 30 Länder Europas bereisen, wann genau sie im deutschsprachigen Raum zu erwarten ist, steht zurzeit (Ende Mai 2021) noch nicht fest.

Mehr Informationen:

Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker, schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften über Kunst- und Kulturtheorien, soziale Bewegungen und zeitgenössische Kunst. Er unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien. www.jenspetzkastner.de

Image credit: Jens Kastner

Anmerkungen

[1]Vgl. REDaktion (Hg.), Chiapas und die Internationale der Hoffnung, Köln 1997.
[2]John Holloway, „Das Konzept der Macht und die Zapatistas“, in: Ders., Die zwei Zeiten der Revolution. Würde, Macht und die Politik der Zapatistas, Wien 2006, S. 39–55, hier: 51.
[3]Walter D. Mignolo, „The Zapatista‘s Theoretical Revolution. It‘s Historical, Ethical, and Political Consequences“, in: Ders., The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options, Durham/London 2011, S. 213–251.
[4]Frigga Haug, „Angekommen in der Kapitalgesellschaft“, in: REDaktion (Hg.), Chiapas, S. 188–190, hier: S. 189.
[5]Allan Sekula, Seemannsgarn, Düsseldorf 2002, S. 165ff.
[6]Vgl. Zwischenzeit e.V. (Hg.), Das Recht glücklich zu sein. Der Kampf der Zapatistischen Frauen in Chiapas/ Mexiko, Münster 2009.
[7]Bolívar Echeverría, „Chiapas und die unvollendete Eroberung. Gespräch mit Carlos Antonio Aguierre Rojas“, in: Ders., Für eine alternative Moderne. Studien zu Krise, Kultur und Mestizaje, Hamburg 2021, S. 27–44, hier: S. 43.
[8]Zit. nach Luz Kerkeling, „Weckruf über Europa hinaus. Delegation der zapatistischen Befreiungsarmee will Alte Welt bewegen“, in: neues deutschland, 04.05.2021, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1151606.zapatistische-befreiungsarmee-weckruf-ueber-europa-hinaus.html.