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DEN STRUKTURWANDEL SITUIEREN Julia Eichler und Fabian Ginsberg über das dialogische Potenzial des Publikums

Julia Eichler und Fabian Ginsberg, „Die Kinder im Park 2021“, 2022, Filmstill

Julia Eichler und Fabian Ginsberg, „Die Kinder im Park 2021“, 2022, Filmstill

Die wachsende Präsenz künstlerischer Praktiken, die auf Multiperspektivität, gesellschaftliche Vermittlung und spekulative Reflexionsformen setzen, geht nicht zuletzt auf strukturelle Veränderungen des öffentlichen Raums zurück: Wenn sich der soziale Austausch zunehmend ins Digitale verlagert, wo Algorithmen die binäre Logik polarisierter Diskurse ebenso verstärken wie den insularen Charakter ideologischer Lager, wächst auch die Dringlichkeit, relevante Gegenentwürfe zu erproben. Die künstlerische Arbeit von Julia Eichler und Fabian Ginsberg bedient sich dialogischer Prozesse, um scheinbar unlösbare gesellschaftliche Widersprüche greifbar zu machen. An das Thema unserer aktuellen Ausgabe – „Resortization“ – anknüpfend, geben die beiden per Erlebnisbericht Einblick in ein Verständnis von Öffentlichkeit, wie sie es im Rahmen von Filmen, Ausstellungen, Performances oder Vorträgen als Medium für Reflexion und Kritik nutzbar machen.

In den Gesprächen, die wir dieses Jahr in Delhi mit Theoretiker*innen und Aktivist*innen führten, war immer wieder von einem radikalen gegenwärtigen Wandlungsprozess die Rede. [1] Wenn wir sagten, in unserer Region sehen wir Veränderungen der Öffentlichkeit und wir glauben, dass es Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Veränderungen bei ihnen gebe und wir von beiden lernen könnten, dann wurde das zunächst auf Jürgen Habermas bezogen, und wir mussten uns abgrenzen.

Trotzdem ist Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft von 1962 das für uns brauchbarste unter Habermas’ Büchern – samt der kritischen Reaktionen, die es hervorgerufen hat, allen voran Oskar Negts und Alexander Kluges Publikation Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit von 1972. Das Wort „Öffentlichkeit“ war in der deutschen Sprache schon vor Habermas’ Studie gebräuchlich, während die englische Übersetzung des Titels den Begriff „Public Sphere“ neu prägte. Die Rede von „Öffentlichkeit“ in der internationalen Wissenschaftssprache Englisch hat das Wort zu einem Habermas’schen Begriff gemacht, sodass manche Forscher*innen vermeiden, es weiter zu gebrauchen und stattdessen von Kommunikationsräumen sprechen. „Soziale Integration“ statt „Öffentlichkeit“ nennen die Sache diejenigen, die nicht schon vorwegnehmen wollen, dass das, was sie untersuchen, auf Arten der Kommunikation beruht. Auch die feministische Kritik am Begriff bürgerlicher Öffentlichkeit, die auf seine stillschweigenden Exklusionen hinwies (Nancy Fraser), hat dazu beigetragen, dass Forscher*innen den Begriff heute meiden. In Delhi sahen unsere Kolleg*innen die konstitutive Unterscheidung von Privatem und Öffentlichem als schlicht für sie unzutreffend und unbrauchbar an – sie sehen diesen Gegensatz an eine bestimmte historische und regional begrenzte Epoche gebunden: das bürgerliche Westeuropa.

Für uns bleiben der Begriff und die Studie, die wir nicht ganz miteinander identifizieren wollen, dennoch fruchtbar. Einerseits spielt es eine beschränkte Rolle, ob der Idealzustand einer Öffentlichkeit, von dem sich ein Strukturwandel abheben könnte, wirklich historisch nachweisbar ist, solange wir brauchbare Beschreibungen dessen erhalten, was sich verändert. [2] Andererseits ist für uns ein zentrales Merkmal des Begriffs von Öffentlichkeit weniger die Unterscheidung zum Privaten als vielmehr eine bestimmte Form der Selbstorganisation. Selbstorganisierende Prozesse stellen die Möglichkeit einer vielstimmigen Verhandlung samt der Reflexion derselben und ihrer Standards her; sie bringen ein sich selbst beobachtendes, potenziell sogar kritisches Publikum hervor. Die Einzelne kann sich als Unterschiedliche und Entsprechende in der Form des Publikums reflektieren und reflektiert zugleich das Publikum als Form. Diese Form kann eine soziale Bewegung sein, eine Performance oder eine nächtliche Party im Park. In diesem Sinne sprechen wir von Öffentlichkeit, die es immer im Plural gibt oder gar nicht. Voraussetzung für diesen Prozess ist aber eben das Wissen über die jeweilige materiell-semiotische Struktur. Fehlt es oder ist es zu mangelhaft, wie in den systematischen Beobachtungsasymmetrien der uns als „das Internet“ bekannten Benutzeroberflächen, dann tritt die Beobachtende nicht in den emergenten Prozess der Formierung eines reflexiven Publikums, zu dem sie sich verhält, sondern in die algorithmischen Schleifen einer zunehmenden Weltausschnittsverengung, die statistisches Wissen produziert, das weder ihr selbst noch den mit ihr Agierenden zugänglich ist. [3] Das entspricht dem Gegenteil von Selbstregulation: dem Top-Down-Design. Mit vielen Gesprächspartner*innen in Delhi waren wir uns einig, dass es zur Beschreibung der komplexen Effekte dieser Veränderung noch an präzisen Begriffen, Formeln und Bildern mangelt. [4] Die drohende Gefahr besteht darin, dass ein gesellschaftlicher Antagonismus gekapert wird. Dann könnte kollektive Selbstorganisation – im Konflikt und in multiperspektivischem Universalismus – sich in eine neue Form totalitärer Steuerung verwandeln. Diese Gefahr erfordert neue Begriffe und Konzepte. Von Leuten, die es nicht gewohnt sind, den Geltungsbereich ihrer Aussagen regional und historisch zu spezifizieren, sind diese nicht zu erwarten, während die genaue Beschreibung von glücklich gewählten Modellbereichen weiterhelfen kann. [5]

Die amerikanische Kommunistin Jodi Dean greift wiederum einen Begriff aus Strukturwandel der Öffentlichkeit auf, wenn sie die Tendenz der sich abzeichnenden Verhältnisse als „neofeudalistisch“ beschreibt. [6] Übrigens wollte sie wissen, was daran „Kunst“ sei, wenn wir mit Leuten reden. Das tue sie ja auch. Wir antworteten umständlich mit einer Geschichte, die uns ein Freund erzählt hatte: Er war Preisträger und ausstellender Künstler in einem Resort in Mexiko, wo Oligarchen und Superstars Ferien machen. Zu seinen Aufgaben gehörte ein kleiner Workshop mit einheimischen Kindern, die im Resort – wie in einer Kolonie – leben und dort zur Schule gehen, um das spätere Personal dieses riesigen, abgeschotteten Gebiets der Superreichen zu bilden. Für den Stipendiaten sangen sie: „We are the World …“, und er malte ein bisschen mit ihnen. Der Zynismus dieser Situation war ihm völlig klar. Später wurde die Ausstellung mit seinen Bildern eröffnet und ihm ein Preis verliehen. Das ist Kunst; so funktioniert „Kunst“. Unserer amerikanischen Genossin sagten wir: „Es kann aber auch Kunst sein, die Funktionen, Medien und Strukturen dieser Kunst, die Reales produziert, zu formulieren. Das wäre Realismus.“

Julia Eichler und Fabian Ginsberg sind Künstler*innen und leben in Berlin. Julia Eichler kuratierte im Januar 2022 die Ausstellung „Die Reflexion des Publikums“ bei Nagel Draxler, Berlin. Fabian Ginsberg gibt das Buch Strategien der Aufstandsbekämpfung: Kunst (AKV Berlin) heraus. Beide machen gemeinsam Filme.

Image credit: Courtesy of the artist

Anmerkungen

[1]Vgl. Ravi Sundaram, „The Fringe as Media Infrastructure“, in: Media and the Constitution of the Political: South Asia and Beyond, hg. von Ravi Vasudevan, Politics and Society in India and the Global South, New Delhi: Sage-Spectrum Verlag, 2021.
[2]Vgl. E. P. Thompson, Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung, Frankfurt/M. 1980.
[3]Vgl. Fabian Ginsberg, Quallenkopf. Der Tausch von Verwandlung, Hamburg 2015.
[4]Vgl. Pothik Ghosh, Insurgent Metaphors, Delhi 2010.
[5]Vgl. z. B. Rana Dasgupta, Capital: The Eruption of Delhi, London 2015.
[6]Vgl. Jodi Dean, Blog Theory. Feedback and Capture in the Circuits of Drive, Cambridge 2010, und Jodi Dean, Democracy and Other Neoliberal Fantasies. Communicative Capitalism and Left Politics, Durham/London 2009.