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DAS ARCHIV ALS INTERVENTION Marie Rosenkranz über das New Yorker Interference Archive

The Interference Archive, 2022

The Interference Archive, 2022

In ihrem Beitrag zu unserer Kolumne „Current Attractions“, die weiterhin unter dem aktuellen Heftthema „Art History Update“ steht, lotet die Soziologin Marie Rosenkranz angesichts der aktuellen Präsenz von politischem Aktivismus im Kunstfeld das Verhältnis von visuellen Protestzeugnissen zur Kunstgeschichte neu aus. Im Fokus ihrer Betrachtungen steht das Interference Archive in Brooklyn, welches sie in einer Tradition von gegenkultureller Aufbewahrungspraktiken verortet. Diese erweitern, wie Rosenkranz hervorhebt, nicht nur den Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte, sondern auch die Zugänge zu ihren Quellen.

Ob die visuelle Kultur und performativen Aktionen sozialer Bewegungen als Kunst gesehen werden, kann deren Protagonist*innen mit Recht egal sein. Selbst wenn man mit Judith Butler die ästhetischen Dimensionen von Protest betont, erscheint deren Anerkennung im Kunstfeld als Kunst doch als nachrangig gegenüber den angestrebten politischen Effekten. [1] So dürfte es etwa bei den performativen die-ins der New Yorker ACT UP-Bewegung der 1980er Jahre, bei denen Teilnehmende plötzlich auf der Straße kollabierten, um die verzögerte Aidspolitik der Reagan-Regierung zu kritisieren, nicht darum gegangen sein, mit diesen Aktionen einige Jahre später Gegenstand der Kunstgeschichtsschreibung zu werden.

Trotzdem hat sich der Status derartiger Praktiken im Feld der Kunst in der vergangenen Dekade radikal gewandelt. Kunstaktivist*innen gehören seit einigen Jahren zu den einflussreichsten Stimmen des Kunstbetriebs, gemeinsam mit sozialen Bewegungen wie Black Lives Matter und #metoo. [2] Und die Ansätze der Institutionskritik der 1960er und 1970er Jahre werden in unterschiedlichster Form – vor allem durch postkoloniale Initiativen wie decolonize this place oder strikemoma – neu interpretiert. Wie jedoch steht es um deren langfristige Sichtbarkeit? Wie nachhaltig ist das Vordringen aktivistischer Positionen in die zentralen Arenen der Kunst? Und wer sind die Akteur*innen und langfristigen Vorbereiter*innen eines solchen Paradigmenwechsels?

Als „Phantomarchiv“ [3] hat der Aktivist und Autor Gregory Sholette kürzlich denjenigen diffusen, sich ständig aktualisierenden Korpus visueller Kultur beschrieben, der aus sozialen Bewegungen hervorgeht und mit dem diese Bedeutung erzeugen – und der gleichzeitig im Kunstfeld marginal bleibt. Dass die Frage, was als Kunst gilt und was nicht, ein Politikum ist, zeigt ein Besuch im Interference Archive (deutsch: Störarchiv), das 2011 ungefähr zeitgleich mit dem Beginn der Occupy Wall Street-Bewegung durch die Künstler*innen und Aktivist*innen Kevin Caplicki, Molly Fair, Dara Greenwald und Josh MacPhee in New York gegründet wurde. [4] Ins Leben riefen diese das Projekt, nachdem sie für ein Ausstellungsvorhaben zahlreiche Archive von großen New Yorker Kunstinstitutionen besucht hatten, um deren Bestand an visueller Protestkultur zu durchsuchen. Da sie wenig fanden, gründeten sie ein alternatives Archiv. Die internationale Sammlung des Interference Archive, das in einem unscheinbaren Ladenlokal in Brooklyn beheimatet ist und ausschließlich ehrenamtlich betrieben wird, umfasst Poster, Zines, Schallplatten, Bücher und Banner, vorwiegend aus den 1960er Jahren bis heute, die meist als Spenden in den Bestand gelangten. Mit regelmäßigen Veranstaltungen und Ausstellungen machen die Organisator*innen auf die stetig wachsende Sammlung aufmerksam.

Weder die Idee, einen Ort für Gemeinschaften zu schaffen, deren Geschichten in den großen Archiven nicht oder falsch erzählt werden, noch das Bewahren von Protestkultur ist gänzlich neu: 1972 entstand in New York zum Beispiel das Lesbian Herstory Archive [5] , um – so die Initiator*innen – der prekären Aufzeichnung der lesbischen Bewegung etwas entgegenzusetzen, und das 1989 in Los Angeles gegründete Center for the Study of Political Graphics [6] bewahrt und verbreitet Plakate, die die Organisator*innen aus sozialen Bewegungen beziehen. Was ein Besuch im Interference Archive jedoch besonders deutlich macht, ist, dass die Aufbewahrung visueller Protestkultur direkt der Unterrepräsentation marginalisierter Gruppen in der Kunstgeschichte entgegenwirkt. Zum Beispiel wird durch das Archiv auch ein großer Bestand der indigenen Zeitung Akwesasne Notes zugänglich, die man vergeblich suchen dürfte in Archiven, die unter einem engeren Kunstbegriff sammeln. So wird das Interventionsarchiv selbst zur Intervention, die nicht nur als Teil eines konkreten Kampfes um Anerkennung und Teilhabe an öffentlichen Infrastrukturen zu verstehen ist, sondern auch als Distanzierungsgeste vom westlichen autonomen Kunstverständnis.

Nicht nur die Frage, was, sondern auch wie archiviert wird, ist eine politische. Zum Gründungsgedanken des Interference Archive gehörte es daher auch, mit der Vorstellung zu brechen, dass ein Archiv vor allem ein exklusiver Aufbewahrungsort sei, dessen Hauptziel die Erhaltung einzigartiger und fragiler Objekte ist. So sind die Artefakte fast ausschließlich in Freihandmagazinen organisiert, auch auf die Gefahr hin, von den Nutzer*innen beschädigt zu werden. „The chocolate“, so Josh MacPhee, „is worth it in our calculus.“ Ihm und Jen Hoyer zufolge leistet der physische Zugang zu den Materialien mehr im Dienst der Bewahrung von Kultur als die Bewahrung der Objekte selbst: „Das Material, das wir archivieren, wurde mit der Absicht produziert, dass es verbreitet, gesehen und verwendet wird.“ [7] Und damit es nicht nur versierte Archivgänger*innen sehen, werden Materialien mit einem Lastenfahrrad zu Veranstaltungen in unterschiedliche Stadtteile New Yorks gebracht.

Dass es dennoch der Pflege und des Schutzes der Artefakte bedarf, ist auch den Macher*innen klar. Doch es ist weniger die mögliche Abnutzung der Objekte, die das Projekt bedroht, als es die immer weiter ansteigenden Mietpreise New Yorks sind. Nicht durch Zufall ist das Archiv deshalb selbst als aktivistischer Akteur mit den housing struggles der Stadt verwoben. Und die Frage, was als Kunst gilt und gesammelt, konserviert und ausgestellt wird – und was nicht –, bleibt angesichts der postkolonialen Transformationen des Kunstfelds virulenter denn je.

Marie Rosenkranz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin und Sprecherin des Arbeitskreises Soziologie der Künste in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Image credit: Courtesy of the Interference Archive

ANMERKUNGEN

[1]Judith Butler, Notes Toward a Performative Theory of Assembly, Cambridge, Mass. 2015.
[2]„Power 100. The Annual Ranking of the Most Influential People in Art“, in: ArtReview, 2020.
[3]Gregory Sholette, The Art of Activism and the Activism of Art, London 2022), S. 7.
[4]https://interferencearchive.org.
[5]https://lesbianherstoryarchives.org.
[6]Weblink.
[7]Jennifer Hoyer/Josh MacPhee, „Interference. La costruzione di una contro‐istituzione negli Stati uniti d’America“, in: Zapruder, 47, 2018, S. 9–25, . Übersetzt durch Verfasserin.