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KIM GORDON, LAURE MURAT, VERA PALME Seen & Read – von Isabelle Graw

Nachdem TEXTE ZUR KUNST seit einer Weile regelmäßig Isabelle Graws „Recommendations“ über Social Media und den Newsletter teilt, haben diese pointierten Kurzkritiken unserer Herausgeberin nun ein beständiges Zuhause auf unserer Website bekommen. Ab jetzt erscheinen sie hier in der neuen Rubrik „Seen & Read“, wo Graw im zweiwöchigen Rhythmus eine kleine Auswahl kürzlich rezipierter Kulturobjekte aus den Bereichen Kunst, Mode, Musik sowie Literatur vorstellt und persönliche Einblicke in das gibt, was sie gerade umtreibt. Diesmal: Vera Palmes Ausstellung „Immer realistischere Malerei“ in der Berliner Dependance der Galerie Buchholz, das Musikvideo zu Kim Gordons neuer Single „Bye Bye“ sowie das 2023 erschiene Buch „Proust, roman familial“ der Historikerin Laure Murat.

Kim Gordon, Bye Bye

Kim Gordon, „BYE BYE“, 2024, Videostill

Kim Gordon, „BYE BYE“, 2024, Videostill

Dieses Musikvideo, für das Clara Balzary Regie führte, wurde kürzlich im Vorgriff auf Kim Gordons im März erscheinende neue Platte „The Collective“ released. Es kreist um Themen wie Abschied und Loslassen. In ästhetischer Hinsicht erinnert es an die frühen Filme von Spike Lee, zumal Gordon wie Lee eine 1980er Jahre-Schrift für Titelsequenz und Abspann des Videos nutzt. Es folgt ein Melodram en miniature: Gordons Tochter Coco Gordon Moore spielt als Stellvertreterin ihrer Mutter die Rolle der jungen Delinquentin, die von zu Hause ausbricht, klaut und am Ende doch ihre Mom anruft. Meine Lieblingsszene kommt zum Schluss, wenn Kim Gordon ihre Tochter mit dem Auto abholt, sie dann jedoch aussteigen und gehen lässt: Der Bruch mit der eigenen Herkunft erweist sich als etwas, was man – älter geworden – auch der eigenen Tochter zugestehen muss. Neben dem Video haben mir an Bye Bye besonders die Lyrics in Form einer gesungenen Packliste gefallen – „Contact solution, mascara, lip mask, eye mask“. Musikalisch ist dieses Stück von einem durchgängigen Drone-Sound à la Sonic Youth gekennzeichnet, samt über den Beats liegenden Distortion-Effekten.

Kim Gordon, Bye Bye, 2024, Official Music Video

Laure Murat, Proust, roman familial

Pierre-Georges Jeanniot, „Une chanson de Gibert dans le salon de madame Madeleine Lemaire“, 1891

Pierre-Georges Jeanniot, „Une chanson de Gibert dans le salon de madame Madeleine Lemaire“, 1891

Nicht nur für Proustianer ist dieses mitreißend geschriebene Buch ein Geschenk. Prousts A la recherche du temps perdu wird hier erstmals als schonungslose Kritik an der französischen Aristokratie gelesen. Laure Murat sucht bei Proust nach Hinweisen, die ihr das eigene Herkunftsmilieu, mit dem sie brach, verständlicher machen. Murat stammt aus einer Familie des französischen Hochadels, einige ihrer Vorfahren verkehrten in den bei Proust beschriebenen Salons. Durch Proust wird ihr klar, dass Aristokrat*innen einen Kult der Form betreiben, in dem sie z.B. übertrieben höfliche Umgangsformen und extrem formvollendetes Sprechen großschreiben. Angesichts ihres faktischen Machtverlusts versuchen sie dadurch, ihre Sonderstellung zu bewahren. Dass diese Formen letztlich leer bleiben und dass sich hinter ihnen oft Rücksichtslosigkeit und Brutalität verbergen, realisiert Murat ebenfalls mithilfe von Proust. Wie er frequentierte sie dieses Milieu als Außenseiterin, nachdem sie ihrer Mutter ihre Homosexualität eröffnet hatte. Auch dass sie daraufhin aus ihrer Familie verstoßen wurde, wird ihr mit Proust verständlicher, der Homosexualität in der Recherche als etwas beschrieb, das in der Welt der Adligen nur vorkommen darf, wenn es unausgesprochen bleibt.

Laure Murat, Proust, roman familial, Éditions Robert Laffont, 2023

„Vera Palme: Immer realistischere Malerei“

„Vera Palme: Immer realistischere Malerei,“ Galerie Buchholz, Berlin, 2024, Ausstellungsansicht / installation view

„Vera Palme: Immer realistischere Malerei,“ Galerie Buchholz, Berlin, 2024, Ausstellungsansicht / installation view

Diese Ausstellung von Vera Palme hat mich auf Anhieb fasziniert – und zwar nicht nur aufgrund der gekonnt zurückgenommenen Hängung der Bilder. Auch deren krustige Oberflächen à la Jean Fautrier mit eigentümlich „käsiger“ Farbgebung lassen mich nicht los. Zudem zieht sich das „Bild-im-Bild“-Motiv leitmotivisch durch diese Gemälde: Sie weisen angedeutete Rahmen in sich auf, so als würden sie von ihrem Inhalt selbst Distanz nehmen. Einige Bilder wurden zudem mit einem seitlich bemalten oder mit Mustern überzogenen Rahmen versehen, was eine Spannung zwischen Innen und Außen erzeugt. Ein Beispiel hierfür ist A next life, dessen grafisch gemusterter Rahmen einen starken Kontrast zum Motiv bildet. Letzteres weist mittig eine portraithafte, fleischfarben-braune Formation auf, die jedoch in matschigem Hellbraun versinkt. Was eine*n hier unmittelbar physisch anspricht, wird zugleich verdeckt und auf Abstand gehalten. Neben Bildern mit krustigen, malerischen Schlieren, die mit Fautriers Têtes d´Otages kommunizieren, finden sich auch Bilder wie Freewheeling (big cheese), deren Oberfläche eine Art 3-D-Pointillismus aufweist. Laut eines Galeriemitarbeiters bezieht sich Palme mit ihren „Käsebildern“ auf ein Stillleben der von mir sehr geschätzten flämischen Malerin Clara Peeters. Titel wie Seasickness, Motion Sickness oder „Simulation Sickness“ suggerieren, dass Verschwommenheit und abjekte Farbgebung dieser Gemälde Programm sind und aus einer Wahrnehmung resultieren, die – vielleicht krisenbedingt – aus dem Gleichgewicht geraten ist.

„Vera Palme: Immer realistischere Malerei“, Galerie Buchholz, Berlin, 25. Januar bis 2. März 2024

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021) und Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022).

Image credit: 1. Photo Rob Kulisek, 2. Courtesy of Clara Balzary; 3. Public domain; 4. Courtesy of Galerie Buchholz