Cookies disclaimer
Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to deliver better content and for statistical purposes. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device. I agree

KEIN SPAZIERGANG Von Helene Hegemann

Susan Sontag, „Duet for Cannibals“, 1969, Filmstill

Susan Sontag, „Duet for Cannibals“, 1969, Filmstill

Zwar hat das Medium Spaziergang Corona-bedingt Konjunktur. Essenseinladungen sind aber auch in der Pandemie keine Seltenheit. Doch über was wird im Lockdown eigentlich (noch) gesprochen? In ihrem Essay zeichnet die Schriftstellerin Helene Hegemann das Bild eines Dinners, bei dem über Clubhouse sinniert wird, über Hugh Hefner und Paul Preciado, und darüber, was Elon Musk täte, hätte er einen Hund. Das Schönste an Corona? „Der Schnelltest.“

Vor einigen Tagen sitze ich bei einem Dinner, das sich an der Grenze zwischen Geschäftsessen und verantwortungsvoller Regelverletzung abspielt, vier Menschen vor vier gegarten Sellerieknollen, das kann sich zurzeit nach Goa-Party anfühlen. Hat sich auch so angefühlt. Schöner Abend. Smalltalk, der vom Weltgeschehen zum Thema Essen abdriftet; zuerst Atomabkommen und R-Wert, dann, übergangslos, ein kurzer Austausch darüber, wie eine Garnele flambiert oder Kreuzkümmel geröstet wird und ob Kaugummi seinen Platz in der ayurvedischen Küche findet, man stellt sich Unmengen kollabierter Lungen vor und redet sofort über Essen. Ich glaube, das ist ein simpler Überlebensinstinkt, deshalb kochen auch alle so begeistert im Lockdown. Nicht aus Langeweile oder weil die Restaurants zu sind. Sondern weil sie mehr Angst vor dem Tod haben als sonst.

Danach folgt ein Gespräch über den Unterschied zwischen Kunst und Pädagogik. Und dann eins darüber, ob Theater systemrelevant sei, ob Kunst im Allgemeinen systemrelevant sei oder nur darüber funktioniere, dass sie eben nicht systemrelevant sei, sondern dysfunktional. „Kunst ist eine dysfunktionale Funktionsbedingung für die Gesellschaft. Aber nicht systemrelevant!“, so fasst R. das zusammen. Er ist jemand, der die digital verstärkten, morgendlichen Muezzin-Gesänge im Ägyptenurlaub gerne mal auf eine Stufe mit der deutschen Müllabfuhr stellt („Schlafen die Leute hier danach einfach wieder ein? So wie wir?“) – nach kurzem Nachdenken fügt er hinzu, dass nur die größte Opposition des Kapitalismus den Kapitalismus erhalten könne, weil der Kapitalismus sonst an seiner eigenen Logik krepieren würde. Und dass das für die Leute, die den Kapitalismus bekämpfen, natürlich total bitter sei, weil sie natürlich eher für den Kapitalismus kämpfen als gegen ihn usw. usf., und im weitesten Sinne habe das natürlich auch mit der Frage nach der Systemrelevanz kultureller Einrichtungen zu tun, er müsse jetzt aber leider kurz aufs Klo.

Als er wiederkommt, unterhalten wir uns über den Philosophen und Queertheoretiker Paul Preciado, demzufolge die Corona-Maßnahmen die nekropolitischen Grenzen an den griechischen Küsten hin zur heimischen Wohnungstür verlagert hätten und dass die neue Grenze zwischen dort und hier die Maske sei und das neue Lampedusa die eigene Haut. Danach geht es kurz um Hugh Hefner, der bereits in den 1980ern in seinem Bett nicht nur Sex hatte und schlief, sondern arbeitete und Fernsehsendungen produzierte und ein Magazin herausgab. Entsprechend könne man Hugh Hefner als Vorreiter für etwas bezeichnen, was im Zuge der Krise vom Staat zu unser aller Pflicht erhoben und von Tom Wolfe vor einigen Jahrzehnten mal als „Gefängnis, so weich wie ein Artischockenherz“ bezeichnet worden sei.

Darüber denken wir lange nach.

Was passiert dann? Ah. Richtig. Jemand stellt die Frage, was das Schönste an Corona ist.

„Der Schnelltest.“

Und dann gäbe es noch etwas anderes, das schön sei an Corona, nämlich dass die Welt das Gegenteil von dem geworden ist, was sie vorher war. Früher herrschte die Ideologie: Wir haben alles im Griff. Und wenn mal irgendwas passiert ist, dann haben wir eben nicht aufgepasst. Aber im Prinzip hatten wir alles im Griff. Und jetzt weiß man wieder, so wie das die Menschen vor Hunderttausenden von Jahren wussten: Wir haben überhaupt nichts im Griff. Wir können irgendetwas bauen, um uns vor wilden Tieren zu schützen. Aber im Griff haben wir gar nichts. Und das ist schön. Weil es die Menschen auf ihre Bedingtheit hinweist. Flächendeckend. Und wie gut man klarkommt, bemisst sich daran, ob man das zugibt oder nicht. Man kann nur dagegen kämpfen, indem man es zugibt. Und das vereinigt die Menschen. Wenn alle sagen, wir wissen nicht Bescheid. Aber wir geben uns Mühe.

„Ich bin jetzt bei Clubhouse.“

„Was ist das?“

„Eine App. Die noch nicht ganz fertiggebaut ist. Die Betaversion einer App, in der Leute miteinander reden und anderen Leuten, die miteinander reden, zuhören können; das ganze Prinzip besteht darin, dass sich Menschen bis tief in die Nacht miteinander unterhalten und nicht mehr darüber nachdenken, wer ihnen da überhaupt zuhört, weil sie unter sich zu sein glauben. Nichts wird aufgezeichnet. Das geht alles nur live. Deshalb breitet sich da so eine spezielle Form assoziativen Gewabers aus, das in Talkshows heute undenkbar wäre. Ich sehe da Leute, die von morgens bis abends auf Clubhouse in irgendwelchen Räumen abhängen und sich unterhalten. Es gibt zum Beispiel einen Raum, der heißt, ja, wirklich – ,Ein glas wein am abend‘. Und da sind dann so 17 Leute. Die Stimmen von 17 Leuten. Die um 22.15 Uhr wirklich noch ein Glas Wein zusammen trinken und miteinander reden. Und dann wird man auf Clubhouse eben Mitglied in Clubs. Und ich bin jetzt Mitglied in Clubs von irgendwelchen Spacetechnologen und hör mir morgens um halb sieben immer an, was deren Vorstellung vom Weltall ist. Irgendwelche Hardcore-Techies im Silicon Valley, die sich unterhalten, als säßen sie in ihrer eigenen Küche. Was sie ja auch tun. Und für die die Erde ganz ernsthaft gestern gewesen ist. Die sind schon auf dem Mars. Wirklich. Die sind verschwunden.“

„Die sind im Digitalen verschwunden?“

„Nein. Das ist ganz konkret. Im Weltall sind die verschwunden.“

„Ach so.“

„Das sind Leute wie Dominic Cummings, Leute, die wahnsinnig viel Geld haben, irgendwelche Start-ups finanzieren und Thinktanks und für die die Erde nur noch ein klitzekleiner, planierter Knubbel ist, etwas, das mal war, aber nicht mehr ist. Junge, genialische Menschen sitzen da und behaupten, dass wir hier jetzt grade zwar noch sind, aber eigentlich wirklich auch nur grade noch. Und die, die hierbleiben werden, auf der Erde, die haben es irgendwie nicht gerafft oder geschafft oder sonst was. Die junge Elite unterhält sich auf Clubhouse nicht über den derzeitigen Zustand der Welt, nicht über Corona, sondern darüber, wie man Sperrmüll im Weltall einsammelt. Und wie die Verkehrsordnung zwischen den Planeten aussehen wird. Das ist alles total konkret.“

„Und das ist Clubhouse?“

„Ja. Das ist Clubhouse. Ich war die 35. Followerin von Elon Musk auf Clubhouse. Da sind viele interessante Leute unterwegs.“

„Leute mit Technologiewahn?“

„Nein, die haben nicht nur einen Technologiewahn, die haben einen Größenwahn. Aber das Erschreckende ist, dass dieser Größenwahn tatsächlich ein realistisches Potenzial hat. Weil sie nicht nur den Wahn haben, sondern auch das Geld. Und weil sie superintelligent sind. Und weil sie an Projekten arbeiten, die eine Auswirkung auf Milliarden von Menschen haben werden. Ich beurteile das nicht. Es ist eher skurril. Man merkt, wo die Leute so angekommen sind. Während man selbst mit einem verhaltensgestörten, schwer traumatisierten Rettungshund im Bett vor irgendwelchen Onlineshops rumsitzt, einem Hund, der sich bei der geringsten Irritation in die eigene Hüfte beißt und manchmal durch den Wohnungsflur taumelt, weil er Horden von Killerinsekten halluziniert und denen in Todesangst auszuweichen versucht. Ein wirklich lieber, aber durchgeknallter Hund. Und heute morgen habe ich mir wieder diese Techies angehört und gedacht, mein Gott, wie wahnsinnig abgehoben und entfernt von allem diese Leute sind. Und hab mir dabei Plömi angesehen, den Hund, und gedacht, das ist eben auch so toll, wenn man so ein merkwürdiges Tier hat, das viele Leute einfach nur als nicht der Mühe wert umschreiben würden, und du lässt dich aber ein auf so ein Tier. Und was das für dich innerlich bedeutet. Man wächst da ja auch dran. An so einem Plömi. Und dann habe ich mir vorgestellt, wie Elon Musk sich um Plömi kümmern würde. Oder eher, was Elon Musk tun würde, wenn er mit einem vergleichbar, sagen wir, schwierigen Tier konfrontiert und aus irgendwelchen Gründen zur Verantwortung für dieses Tier verpflichtet werden würde, kurz, ich habe mir vorgestellt, wie Elon Musk sich um alte Hunde kümmert. Dass da dann sofort eine tipptopp durchorganisierte, kleine Hundefarm aus dem Boden gestampft würde, in der dann vollautomatisch das Futter von der Decke käme und irgendwelche Roboter für die geistige Ertüchtigung sorgen würden. Die hätten da kein schlechtes Leben, die Hunde, im Gegenteil. Aber er selbst würde natürlich nichts, aber auch gar nichts mitkriegen von diesem Erlebnis. Diesem Erlebnis mit diesem verrückten Hund. Wie gesagt, man wächst ja an so etwas. Aber diese Leute eben nicht. Die geben sich überhaupt keine Chance, an so etwas zu wachsen. Und so leben die halt auch. In ihren Gefängnissen aus Artischockenherzen. Hört euch die einfach mal an. Man muss das gar nicht beurteilen. Nur zuhören. Das ist unglaublich, wirklich unglaublich interessant.“

Helene Hegemann ist Schriftstellerin und lebt in Berlin.