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GIBT ES EIN RICHTIGES LESEN IM FALSCHEN? Von Mithu SAnyal

Kinderbuch-Klassiker von Enid Blyton

Kinderbuch-Klassiker von Enid Blyton

Enid Blyton eine Rassistin? Seit einigen Jahren schlägt die Debatte um diskriminierende Begriffe in Kinderbüchern in regelmäßigen Abständen hohe Wellen. Während die einen in der Änderung von Kinderbuch-Klassikern wie Pippi Langstrumpf- oder Jim Knopf-Büchern einen Akt der Zensur sehen, stellt sie für andere einen notwendigen Schritt zur Aufklärung über die diskriminierende Funktion von Sprache bei der Reproduktion rassistischer Stereotype dar. Am Beispiel Enid Blytons zeigt Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Mithu Sanyal auf, dass die Art und Weise, in der aktuell über Rassismus in der Kinderliteratur gesprochen wird, beweist, dass dieser noch lange nicht überwunden ist.

Während die Welt um mich herum im Hochwasser versinkt, schreibe ich über Enid Blyton, die am besten bekannt ist für ihre Fünf Freunde-Serie und die Internatsgeschichten um die Zwillinge Hanni und Nanni: Eskapismus im Kinderbuchformat. Warum also ausgerechnet Enid Blyton?

Weil sich an ihr gerade eine Debatte entzündet, die so oder in ähnlicher Form seit Jahren virulent ist: Was machen wir, wenn es in Büchern, die wir lieben – und vor allem in Kinderbüchern, die wir lieben – nicht nur Eskapismus gibt, sondern auch Rassismus? An dieser Stelle könnte genauso gut Sexismus stehen oder Klassismus, aber die Front, an der diese Themen zurzeit ausgehandelt werden, ist nun einmal Rassismus.

Begonnen hat alles im Juni 2021. English Heritage, die Wohltätigkeitsorganisation, die das britische Kulturerbe – von Stonehenge bis Shakespeare – verwaltet, aktualisierte ihre Onlineinformationen zu der blauen Gedenkplakette an dem Haus, in dem Enid Blyton von 1920–1924 lebte, zu: „Blyton’s work has been criticized during her lifetime and after for its racism, xenophobia and lack of literary merit.“

Sofort ging die Schlagzeile um die Welt: Was Enid Blyton racist?

Was für eine Frage? Natürlich. Wer das nicht weiß, hat noch nie ein Buch von ihr in der Hand gehabt. Können wir jetzt wieder zur Tagesordnung übergehen? Natürlich nicht.

Auf dem Fernsehkanal GB News befürchtete der Enthüllungsjournalist Dan Wootton, dass die Bücher von Blyton nun aus den Büchereien verbannt und – in einem Artikel in der Daily Mail – sogar verbrannt werden könnten. Alles, was jedoch passierte, ist, dass eine Wohltätigkeitsorganisation ihre Webseite geändert hat.

Doch ist das wirklich so unerheblich? Schließlich treffen uns diese Fragen wieder und wieder mit derselben unerwarteten Wucht. Man muss nur an die aufgeregten Debatten um Astrid Lindgren denken, als Pippi Langstrumpfs Vater vom „N-Wort-König“ zum „Südseekönig“ umbenannt wurde. Oder an die um Otfried Preußler, die den Thienemann Verlag 2015 dazu veranlassten, einen offenen Brief im Börsenblatt zu veröffentlichen und zu erklären, dass sie nur das N-Wort gestrichen hätten und in ihrer Neubearbeitung von Die kleine Hexe keineswegs auch noch gendern würden. Gott verbiete!

Auch die Werke der Erwachsenen-Weltliteratur sind in den letzten Jahren antirassistisch und dekolonial überprüft und häufig als mangelhaft befunden worden. Und erst die Philosophie. Einen der beeindruckendsten Texte dazu hat Priya Basil in der WObei, der Beilage der WOZ, vom 6. Mai 2021 geschrieben. Sie setzt sich darin mit Rassismus in Hannah Arendts Werk auseinander –Arendt, die für Basils Schreiben so zentral wichtig ist, dass es schwer ist, sich Basil ohne Arendt vorzustellen – und kommt zu dem Schluss: „Was auch immer wir über die Denker-Gestalten-Schriftstellerinnen nicht wissen (wollen), die wir verehren-ignorieren-verteidigen, offenbart genau und unerbittlich, was wir über uns selbst nicht wissen (wollen).“ [1]

Hier geht es ans Eingemachte. Debatten um Bücher, auch – oder gerade – um Kinderbücher, sind Debatten über gesellschaftliches Bewusstsein, und man tut sich keinen Gefallen damit, sie als überhitzt abzutun. Denn natürlich reagieren wir überzogen, wenn es ans Eingemachte geht. Und Sprache ist uns nun einmal so nahe und intim wie Berührungen es sind, weil sie das Medium ist, mit dem wir einander sogar über Zeit und Raum hinweg berühren können. Eine Störung im Sprachfluss, in der Vermittlung von mir zu dir, von Buch zu Lesenden, gleicht einem Kontaktabbruch. Und schmerzt wie ein Kontaktabbruch. Bloß dürfen wir nicht vergessen, dass für beide Richtungen gilt. Das N-Wort zu lesen ist für viele Menschen genau das: ein Kontaktabbruch, ein gewaltsames Herauskatapultiert-Werden aus einem Text.

Buchseite aus „The Famous Five / Die Fünf Freunde“ von Enid Blyton

Buchseite aus „The Famous Five / Die Fünf Freunde“ von Enid Blyton

Was mich persönlich am meisten an der Erklärung auf der Webseite von English Heritage getroffen hat, war, dass sie Blytons Büchern neben objektiv belegbaren Kriterien wie „rassistisch“ und „fremdenfeindlich“ – so sind beispielsweise Verdächtige in ihren Abenteuerserien häufig allein deshalb verdächtig, weil sie „Ausländer“ sind – als Drittes vorwarfen, literarisch nicht zu genügen. Wow! Nicht nur rassistisch, auch noch Schund?

Und ich glaube, dass hierin ein Kern des Problems liegt. Tief in uns glauben wir immer noch an das Wahre, Schöne, Gute. Wenn eine Autorin gut schreibt, dann muss sie auch moralisch integer sein. Und umgekehrt: Wer rassistische Vorstellungen in seine Texte einfließen lässt, kann auch kein*e gute*r Autor*in sein. Wenn wir also einen Aspekt eines Werkes kritisieren, fühlt sich das so an, als müssten wir das ganze Werk verwerfen. Dabei können Menschen – und auch Schriftsteller*innen sind Menschen – beides sein: literarisch brillant und rassistisch, innovativ und konservativ, einzigartig und klischeehaft. Das eine relativiert das andere nicht.

Ja, Enid Blytons Kinderbücher zeichnen Schwarze und Braune Menschen in schrecklichen Stereotypen. Am augenfälligsten ist wahrscheinlich ihr Antiziganismus: Gypsies sind (nahezu) immer verschlagen, ungewaschen und stehlen geheime wissenschaftliche Formeln. Mädchen müssen immer lange Haare tragen und „kleine Hausmütterchen“ sein. Und alle Hauptfiguren haben selbstverständlich Dienstboten und Köchinnen. Gleichzeitig spielen sie in einer Welt, in der alles beseelt ist, in der Tiere jederzeit in der Lage sind zu sprechen, magische Wesen in einem reziproken Verhältnis mit der Natur leben und Kinder mit keinen anderen Waffen als mit Freundschaft, Solidarität und Kommunikation die haarsträubendsten Abenteuer nicht nur überleben, sondern auch genießen. Ich wiederhole mich: Das eine relativiert das andere nicht.

Aber wenn wir in der Lage sind, ihren Rassismus zu erkennen, dann sollten wir auch in der Lage sein, ihre Stärken wahrzunehmen. Denn Blytons Bücher werden ja nicht deshalb noch immer jedes Jahr millionenfach gekauft und gelesen, weil man Kindern jeden Schund vorsetzen kann, sondern weil sie ein Bedürfnis erfüllen: ein Bedürfnis nach Freiheit, Natur und Wildnis gekoppelt mit absoluter Geborgenheit. Wo sonst gibt es einsame Vogelinseln und windgepeitschte Moore bei gleichzeitigen „lashings of ginger beer“?

Darüber hinaus sind Leser*innen – auch junge Leser*innen – ebenso komplex in ihrem Rezeptionsverhalten wie Autor*innen in ihrem Schreiben. Denn Lesen ist kein linearer Prozess, Menschen picken sich aus Texten die Aspekte heraus, die für sie wichtig sind, und übersehen – und wenn nötig: ergänzen – andere.

Trotzdem ist Repräsentation wichtig, vor allem in Kinderbüchern. Es spielt eine Rolle, wie die Charaktere, die uns ähneln – sei es in Bezug auf Alter, Geschlecht, Aussehen, Herkunft – dargestellt werden. Sind sie die Held*innen oder die Helfer*innen in Romanen? Sind sie die Pointe von (rassistischen) Witzen oder autonome Figuren? Aber in erster Linie: Sind sie liebenswert?

Aus diesem Grund halte ich ein behutsames Lektorat von Kinderliteratur nicht nur für vertretbar, sondern in vielen Fällen auch für dringend nötig – auch wenn es nicht mehr möglich ist, die Autor*innen danach zu fragen, ob wir ihre Texte verändern dürfen und wenn ja, wie. Natürlich soll das N-Wort entfernt werden. Aber eben auch die ,rollenden Augen‘ der Schwarzen Charaktere und das ‚verweichlichte Herumzimpern‘ der Braunen Figuren. Denn ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als Blytons Bücher das letzte Mal „antirassistisch“ überarbeitet wurden, irgendwann in den 1990ern: Damals wurden aus den „bösen schwarzen Männern“ „böse Männer“, und das war’s. Wenn es so einfach wäre, hätten wir die Diskussionen heute nicht schon wieder auf dem Tisch.

Allerdings sollten solche und andere Änderungen dann auch in einem Nachwort erklärt werden. Die Kinder, die sich nicht dafür interessieren, werden das sowieso nicht lesen, aber die anderen. Denn auch Kinder setzen bereits literaturwissenschaftliche Kriterien an einen Text an, auch wenn sie diese nicht so nennen würden. Auch Kinder können zwischen gutem und anderem Stil unterscheiden. Auch und vor allem Kinder gehen exzessive Verhältnisse zu Büchern ein, zu Formulierungen, zu Bildern, Metaphern, Vergleichen.

„Debatten um Bücher, auch – oder gerade – um Kinderbücher, sind Debatten über gesellschaftliches Bewusstsein.“ (Mithu Sanyal)

„Debatten um Bücher, auch – oder gerade – um Kinderbücher, sind Debatten über gesellschaftliches Bewusstsein.“ (Mithu Sanyal)

Das Gegenargument zu Überarbeitungen ist immer: Aber was ist mit der Authentizität? Damals waren Menschen nun einmal rassistisch, dann sollte das auch in Kinderbüchern gespiegelt sein.

Und ich muss zugeben, dass ich ebenfalls an der Frage der Authentizität hänge – oder, wie ich es ausdrücke: am Geruch und Geschmack von Texten, was sie in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kontext verortet. Tatsächlich haben die Blyton-Bücher in meiner Kindheit eine Menge an Authentizität und Geheimnis verloren, als das Duodezimalsystem dem Dezimalsystem angepasst wurde:

12 pence in a shilling. 20 shillings in a pound. 21 pounds in a guinea.

Das waren Sätze voller Magie. In einer Welt, in der die Regeln der Mathematik gebrochen wurden, war alles möglich. Warum sollen heutige Kinder dem nicht ausgesetzt werden? Genauso, wie es mich verletzte, dass Charaktere und Orte im Original komplett andere Namen hatten. Wer zum Teufel ist auf die Idee gekommen, aus Pat und Isabel O’Sullivan Hanni und Nanni zu machen? Die Babyfizierung der Kinderliteratur. Ich wollte diese Welt nicht bekannter, sondern geheimnisvoller haben. Wäre hier nicht erst einmal Spielraum für Authentizität?

Damit will ich nicht sagen, dass das, was ich bewahren würde, aussagekräftiger ist als das, was die Kinderbuchpurist*innen bewahren wollen. Sondern nur, dass Bücher und vor allem Kinderbücher regelmäßig upgedated werden sollten. Am deutlichsten wird das in Bezug auf Körperstrafen. In den 1990ern wurden, nicht nur bei Blyton, die Prügelstrafen zu Rügen geändert. Aber jedwede Bücher werden ja auch nicht einfach so gedruckt, wie sie geschrieben wurden. Sie durchlaufen immer einen Prozess der Bearbeitung und Korrektur, des Lektorats. Und wenn dieser Prozess posthum passiert, dann ist das nur ein Zeichen dafür, dass diese Bücher länger überleben als die Körper, die sie erdacht und erträumt haben. Die Frage: Was sollen wir mit diesen unpassenden Texten machen?, ist die Frage: Was sollen wir mit der Unordnung der Welt machen?

Die Antwort ist: das Lebensbejahende an ihnen bewahren und alles Abwertende, Kleinmachende, Entmenschlichende überwinden. Wenn wir dazulernen können, warum sollten Texte das nicht auch?

Dr. Mithu M. Sanyal, Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin u. a. für WDR, DLF, SWR, Spiegel, Bundeszentrale für politische Bildung, The Guardian, Süddeutsche, FAZ, taz, Missy Magazine. Publikationen (Auswahl): Vulva (Wagenbach) und Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens (Nautilus), ausgezeichnet mit dem Preis „Geisteswissenschaften international“. Vor Kurzem ist ihr Debütroman Identitti bei Hanser erschienen.

Image credit: 1. helloimnik/unsplash.com; 2. Brett Jordan/unsplash.com; Ben Mullins/unsplash.com

Anmerkung

[1]Priya Basil, „Gegen mich andenken“, in: WObei, 6. Mai 2021, S. 25.