DIE UNSICHTBARKEIT EINES DENKMALS, DIE SICHTBARKEIT SEINER SCHANDE Von Simon Nagy
Der erste Triangelschlag erklingt am Montagmorgen. Auf dem Scheinwerfersockel rechts vor dem Karl-Lueger-Denkmal in der Wiener Innenstadt stehen zwei schwarz gekleidete Aktivistinnen. Auf der Fahnenstange, die sie halten, weht eine Flagge mit dem Logo der Jüdischen österreichischen Hochschüler*innen. Das meterhohe Denkmal hinter ihnen, auf dessen Spitze die überlebensgroße Bronzestatue Luegers thront, ist kurz zuvor um zwei plastische goldene Schriftzüge erweitert worden. Einmal vertikal, einmal horizontal buchstabieren sie jeweils: „Schande“.
In den folgenden Tagen wird die Triangel im Dreistundentakt geschlagen. Sie läutet die Schichtablöse zwischen den Schandwache stehenden Organisationen ein. Die Fahnenstange wird übergeben, eine neue Flagge gehisst, die auf dem Sockel Stehenden werden abgelöst. Zahlreiche Passant*innen werden in den nächsten Stunden, irritiert oder überrascht vom ungewöhnlichen Vorgehen auf dem Platz, das Gespräch mit ihnen suchen: über die historische Rolle Luegers und seine Politik, über die ehrende Funktion von Personendenkmälern und über die Notwendigkeit, dieses spezifische Ehrenmal umzugestalten. Die Schandwache verwandelt den Karl-Lueger-Platz für die Dauer einer Woche in einen Ort der Auseinandersetzung.
In seiner Theorie einer konfliktuellen Ästhetik beschreibt Oliver Marchart das Potenzial künstlerischer Arbeiten, die immanenten Antagonismen öffentlicher Räume sicht- und vor allem erfahrbar zu machen. Durch die ästhetische Produktion von Manifestationen des Konflikts entstehen ihm zufolge Momente des genuin Politischen. Den Prozess der Erzeugung solcher Momente beschreibt er als Transformation, die stattfindet, wenn ein öffentlicher Ort durch künstlerisch-aktivistische Intervention in einen Raum der Versammlung, der Debatte und des politischen Kampfes verwandelt wird. [1]
Die Transformation des Karl-Lueger-Platzes findet an einem Ort statt, dem ein knappes Jahrhundert der Konflikte eingeschrieben ist. Lueger, Wiener Bürgermeister von 1897 bis 1910, baute seinen politischen Erfolg maßgeblich auf antisemitischer Hetze auf. Seine mit Kalkül betriebene, oft als populistisch charakterisierte Agitation gegen Jüd*innen, deren Vorbildwirkung Adolf Hitler in Mein Kampf benennt, bereitete der späteren nationalsozialistischen Politik den Boden. Das Denkmal für Karl Lueger steht seit 1926 prominent an der Wiener Ringstraße. Gestaltet wurde es vom späteren NS-Unterstützer Josef Müllner, der auch für eine Büste Hitlers in der Aula der Akademie der bildenden Künste Wien, den Siegfriedskopf an der Universität Wien und den Wehrmann in Eisen gegenüber dem Wiener Rathaus verantwortlich zeichnet.
Sowohl Ort als auch Zeitpunkt der Installation des Lueger-Denkmals waren bereits durch einen vorangehenden Konflikt bedingt: Die Christlichsoziale Partei Österreichs, Vorgängerpartei der heutigen ÖVP in der Ersten Republik, die von Lueger begründet wurde und die das Denkmal in Auftrag gab, wollte es zunächst auf dem Vorplatz des Wiener Rathauses stehen wissen. Die Stadtregierung des Roten Wien wendete dies ab, verzögerte die Aufstellung um mehrere Jahre und wies ihm schließlich den Platz am Stubenring zu.
Immer wieder und verstärkt seit den 1990er Jahren waren seither die zahlreichen Ehrungen Luegers im Wiener Stadtraum – neben dem Platz und dem Denkmal auch Straßennamen, Kirchen und Brücken – Gegenstand der Kritik. 2012 wurde jener Abschnitt der Ringstraße, an dem sich das Hauptgebäude der Universität Wien befindet, von „Karl-Lueger-Ring“ in „Universitätsring“ umbenannt; der Karl-Lueger-Platz und das Denkmal in seinem Zentrum blieben dabei unangetastet. 2016 wurde schließlich eine hüfthohe Tafel schräg hinter dem Denkmal aufgestellt, die Luegers Wirken in wenigen Zeilen zu kontextualisieren sucht. [2]
Robert Musils Bonmot, es gäbe nichts Unsichtbareres als Denkmäler, trifft im Falle von Luegers Ehrenmal auf besondere Weise zu – und zwar als Ergebnis gewaltiger Verdrängungsleistungen. Sichtbar ist es nämlich für all jene, die um das Weiterleben des von Lueger angespornten Antisemitismus in der Gegenwart sehr genau Bescheid wissen. Sichtbar ist es zugleich für diejenigen, für die Lueger ein dankbares Scharniergelenk darstellt, um über den Weg der Erinnerung an seine vermeintlichen stadtpolitischen Leistungen die Bagatellisierung antisemitischer Politik fortzuführen. Unsichtbar ist es hingegen die meiste Zeit für alle, die nicht bereits mit den latenten Konflikten vertraut sind, die dem Ort zwar eingeschrieben sind, aber nur selten zum Ausdruck kommen. Eine dezente Erläuterungstafel ändert wenig an diesem Zustand. Es sind vielmehr Momente der Kritik, vor allem der ästhetischen, materiell eingreifenden Kritik, die die Konflikte um Lueger und seine Ehrung manifest werden lassen.
Ein solcher Moment ästhetisch intervenierender Kritik setzte im Juni 2020 ein, als unbekannte Autor*innen siebenmal das Wort „Schande“ auf das Denkmal sprayten. Die Präsenz dieser Graffiti machte auf einmal auch das Denkmal selbst sichtbar: Indem es angetastet, „beschmiert“ wurde, verwandelte es sich vom sakrosankten zum hinterfragbaren Ort, an dem nach wie vor Menschen stehen bleiben, nach dem Grund der Markierungen fragen und schließlich auch auf die Erläuterungstafel stoßen.
Den Schriftzügen gelingt somit, woran jede kontextualisierende Zusatztafel, und sei sie noch so ausführlich, notwendigerweise scheitert: die ästhetische Konfrontation und Infragestellung der immanent ehrenden Funktion eines Personendenkmals. Die „Schande“-Graffiti in roter, gelber, grüner und pinker Farbe, die durch ihre großflächige Anbringung im ansonsten penibel sauber gehaltenen Ersten Bezirk deutlich hervorstechen, begegnen dem Ehrenmal auf derselben formalen Ebene, auf der seine ästhetische Wirkmächtigkeit aufbaut. Sie tasten seine Bewahrungswürdigkeit an, die Denkmäler vor allem in Österreich nach wie vor wie einen Schutzmantel zu umgeben scheint. Dabei üben sie nicht nur konkrete Kritik an der aktuellen Form der Repräsentation Luegers im Wiener Stadtraum, sondern fordern durch ihre Präsenz darüber hinaus die Möglichkeit ein, auch in andere Denkmäler einzugreifen und diese umzuschreiben.
Unmittelbar nach ihrer Anbringung wurden die Graffiti entfernt, wenig später waren sie wieder da. Diesmal wurde nicht mit einer erneuten restaurativen Reaktion geantwortet – nicht zuletzt deshalb, weil wiederholte Reinigungen den Denkmalsockel aus Kalkstein nachhaltig beschädigen würden. Stattdessen ließ die Stadt Wien einen Bauzaun um das Denkmal aufstellen. Die Montage ging einher mit der behördlichen Ankündigung, dass die Schriftzüge vor der Wiener Gemeinderatswahl im Oktober 2020 entfernt werden würden. Bemerkenswert an dieser neuen Maßnahme war, dass der Bauzaun als Objekt die Graffiti kaum verdeckte. Er diente weniger als physischer Sichtschutz denn der symbolisch-strategischen Beruhigung eines Konflikts: einerseits, indem er das Denkmal physisch unzugänglich, im Wortsinne unantastbar machte, andererseits durch den bürokratischen Gestus, der beschwichtigend nahelegte, dass die Stadtverwaltung in Bälde für „Ordnung“ sorgen würde.
An diesem Punkt setzte die Schandwache an. In ihrer hybriden Form aus skulpturaler Intervention und performativer Handlungsanweisung hatte sie zum Ziel, die Versuche behördlicher Abwiegelung zu durchkreuzen und die ausgebrochenen Konflikte fortzuschreiben. Sechzehn antifaschistische Gruppen beteiligten sich an der Aktion, [3]_die von den Künstler*innen Eduard Freudmann, Mischa Guttmann, Gin Müller, Anna Witt und dem Autor dieses Textes initiiert und koordiniert wurde und deren konfliktuelle Ästhetik dieser Text auf ihre politisch-transformative Wirkung hin reflektieren möchte. In wechselnden Schichten und damit wechselnder aktivistischer und performativ gestalteter Präsenz beschützten Aktivist*innen die „Schande“-Graffiti in der Woche der angekündigten Reinigung davor, entfernt zu werden. Unmittelbar vor Beginn der Schandwache wurden zudem zwei goldene Schriftzüge aus Beton am Denkmal angebracht, deckungsgleich mit zwei der Graffiti, die sie typografisch nachbildeten. Indem die Schriftzüge die Graffiti zum Relief transformierten, griffen sie die jüngsten Kämpfe um das Denkmal formal auf und setzten dazu an, sie weiterzuschreiben und ihnen gleichsam den Status permanenter Kritik einzuräumen.
Die skulptural wie aktivistisch formulierte Forderung der Schandwache ging allerdings bereits in dem Moment, in dem sie gestellt wurde, über einen reinen Erhalt der Graffiti hinaus. Der aktuelle Zustand des Denkmals wurde nicht als permanent einzurichtender gewünscht, sondern als Übergangsmodus, der so lange zu bewahren ist, bis sich die Stadtregierung zu einer konsequenten Umgestaltung von Platz und Denkmal bekennt und diese realisiert. [4]
In der Woche der Schandwache, in ihrem Zusammenspiel von ästhetischer Markierung, performativer Setzung und aktivistischer Präsenz, wurde der seit Juli von den Graffiti affizierte Modus der Auseinandersetzung vor und mit dem Denkmal zum Dauerzustand. Die goldenen Lettern, die Fahnen antifaschistischer Gruppen und die Anwesenheit von Wache Haltenden – mal eine Handvoll, mal große Gruppen – luden den Lueger-Platz mit der Möglichkeit auf, Einspruch zu erheben. Passant*innen blieben stehen, um sich nach dem Grund des Geschehens zu erkundigen, Menschen solidarisierten sich, kamen vorbei und bekundeten Unterstützung, Gegner*innen der Aktion äußerten lautstark Unmut und traten in Diskussionen mit den Aktivist*innen vor Ort. Andere nahmen die Intervention zum Anlass, unverhohlen antisemitischen und rassistischen Hass zum Ausdruck zu bringen. Bereits wenige Stunden nach der Eröffnung der Schandwache riefen Neofaschisten zur „Verteidigung Luegers“ auf, schlugen die Beton-Schriftzüge vom Monument und meldeten eine Kundgebung am Abend an, bei der einer kleinen Gruppe Rechtsextremer eine Vielzahl antifaschistischer Gegendemonstrant*innen gegenüberstand. In Zeitungskommentaren wurde darüber debattiert, ob, warum und in welcher Form eine Veränderung am Platz erstrebenswert ist. In der Woche vor der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl wurde somit eine denkmalpolitische Auseinandersetzung in Gang gesetzt, zu der sich die wahlwerbenden Parteien entweder klar positionierten oder aktiv schwiegen.
Die Schandwache als künstlerisch-aktivistische Intervention ließ die latenten, immer wieder verdeckten und verdrängten Konflikte am Karl-Lueger-Platz manifest werden. Ihre unmittelbarste Forderung wurde bereits während ihrer Laufzeit umgesetzt: die Entfernung des Bauzauns, durch die das Denkmal wieder für die Öffentlichkeit zugänglich wird. Auch eine zweite Forderung wurde erfüllt: Während die Stadt Wien zu Beginn der Aktion noch verlautbarte, dass die Entfernung der Schande-Graffiti wie geplant durchgeführt werden würde, erfolgte am Ende der Woche die Zusage, dass die Markierungen der Schande bis zur Umgestaltung des Denkmals erhalten bleiben werden. Im März 2021 kündigte die Stadt schließlich offiziell eine Umgestaltung des Lueger-Denkmals an. Es bleibt zu hoffen, dass diese nicht mittels zaghafter Kontextualisierung oder eines minimalistischen Kleinsteingriffs abgehandelt, sondern ein Umgang mit dem Monument gewählt wird, der dessen ehrende Funktion ästhetisch ernst nimmt, um sie zu dekonstruieren und zu durchkreuzen. Souverän und konsequent durchgeführt, würde eine Umgestaltung des Karl-Lueger-Denkmals, eine Transformation hin zu einem dezidierten Monument gegen Antisemitismus, einen längst überfälligen Wandel im Umgang mit geschichtspolitisch problematischen Manifestationen im Wiener Stadtraum einläuten.
Simon Nagy ist Kulturwissenschaftler und arbeitet in den Feldern kollaborativer künstlerischer Forschung, kritischer Wissensproduktion sowie antidiskriminatorischer Kunstvermittlung in Wien.
Image credit: Schandwache
Anmerkungen
[1] | Vgl. Oliver Marchart, Conflictual Aesthetics, Berlin 2019, S. 41. |
[2] | Der Text der Erläuterungstafel wurde von dem Historiker Oliver Rathkolb gemeinsam mit der Kulturkommission des ÖVP-regierten Ersten Wiener Gemeindebezirks verfasst. Er ist von einer hohen Kompromissbereitschaft gezeichnet: Lueger wird hier zwar als „umstrittene Persönlichkeit“ benannt, es überwiegt aber deutlich die Auflistung seiner stadtpolitischen „Verdienste“ als Bürgermeister. Seine aktive Rolle als antisemitischer Politiker oder seine Vorbildwirkung für Hitler werden schlichtweg nicht thematisiert. |
[3] | Beteiligt an der Schandwache waren folgende Organisationen: Verein Gedenkdienst, Grüne & Alternative Student_innen, Frauen*volksbegehren, Hashomer Hatzair, Burschenschaft Hysteria, Jüdische Österreichische HochschülerInnenschaft, KZ-Verband, LINKS, Migrantifa Wien, Muslimische Jugend Österreich, Nesterval, ÖH der Akademie der bildendenden Künste, Queermuseum, Sodom Vienna, Sozialistische Jugend Wien und TFM-Archiv. |
[4] | Die Forderung einer Veränderung an Platz und Ehrenmal, die unmissverständlich jede Ehrung Luegers verunmöglicht, wurde zwei Tage vor Beginn der Schandwache als Aufruf im Standard veröffentlicht. Der von Ruth Sonderegger und Benjamin Kaufmann initiierte Aufruf wurde von 46 Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft unterzeichnet: https://www.derstandard.at/story/2000120451725/lueger-denkmal-antisemitisch-verfaelscht-geschichte. |