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NOTIZEN ZU KIND UND KRISE Von Elena Meilicke

Interieur #1

Interieur #1

Vielfach wurde in den vergangenen Monaten diskutiert, welche Herausforderungen sich aus der Pandemie für Erziehungsberechtigte ergeben und welche Effekte die Krise bereits jetzt auf Kinder und Jugendliche hat bzw. langfristig haben wird. Als Corona vor einem Jahr in Deutschland ankam, war Elena Meilickes Tochter gerade mal ein halbes Jahr alt und ging noch nicht in die Kita. Die neue Erfahrung, ein kleines Kind zu haben, vermischte sich für sie daher mit Veränderungen im Leben durch die Pandemie. Was hat sich zwischen den beiden Lockdowns verändert und wie sollen gesellschaftstheoretische Prognosen angestellt werden, wenn es zum Denken eigentlich immer viele braucht? Über das Erschaffen neuer Routinen und Räume im Leben mit Kind während der Pandemie.

Letzte Woche war Miguel bei uns zu Besuch. Miguel ist eine Puppe, die die Kita meiner Tochter zu uns geschickt hat. Für ein paar Tage war Miguel unser Gast, bevor er an ein anderes Kind ging. Er sollte eine Art Gruß sein und verhindern, dass der Faden zwischen Kind und Kita ganz abreißt; schließlich ist es Monate her, dass mein Kind das letzte Mal dort war. Die Puppe kam in einen Kissenbezug mit Erdbeermuster eingehüllt, begleitet von einem Brief, in dem stand, Miguel wolle geliebt und gepflegt, zuallererst aber desinfiziert werden. Also haben wir den kleinen Plastikkörper, vor allem anderen, sorgsam und so zartfühlend wie möglich mit einem Desinfektionstuch behandelt.

Ich schätze, was mich daran faszinierte, war die Umstandslosigkeit, mit der die Hygienegebote der Stunde ins Imaginäre des Puppenspiels miteingebaut wurden. Ich weiß nicht, wie meine Tochter das Leben mit Corona wahrnimmt, sie kann noch nicht sprechen. An Masken scheint sie sich gewöhnt zu haben; sie hat mittlerweile selbst eine, bedruckt mit Dinosauriern, die sie manchmal im Aufzug unseres Hochhauses trägt. Vermutlich ist die Welt im Zeichen von Corona für sie so normal und gleichzeitig verrückt wie alles andere auch. Sie kennt nichts anderes, oder vielmehr: Sie hat die Welt überhaupt erst im Zeichen von Corona kennengelernt.

Streng genommen ist meine Tochter, die kurz vor der Pandemie geboren wurde, kein covid baby oder pandemi-kid, wie die Kinder, die derzeit auf die Welt kommen, bereits genannt werden. Davon gibt es natürlich viele, obwohl Demograf*innen derzeit noch uneins darüber sind, ob die Pandemie längerfristig zu einem Babyboom oder im Gegenteil zu einem Einbruch der Geburtenzahlen führen wird; beides scheint möglich. Ebenso offen ist, welche Folgen die Pandemie für diese Kinder haben wird – ob der kollektive Stress traumatische Auswirkungen haben könnte.

Gut möglich jedenfalls, dass meine Tochter irgendwann als „coronial“ bezeichnet oder als Teil einer „Generation C“ angesehen werden wird, ohne dass ich wüsste, was genau man mit diesen Bezeichnungen irgendwann verbinden mag. Für sie dauert die Pandemie nun schon die meiste Zeit ihres kleinen Lebens an, das noch in Monaten und nicht in Jahren gemessen wird. Für mich wiederum ist das Erleben der Pandemie untrennbar mit der immer noch neuen und im Wortsinn radikalen Erfahrung verquickt, ein kleines Kind zu haben. Es ist deshalb nicht leicht zu sortieren, was womit zusammenhängt, wenn ich darüber nachzudenken versuche, wie sich mein Leben im vergangenen Jahr durch die Pandemie verändert hat und was das für die Zukunft bedeutet: Is this tomorrow?

Als Corona vor einem Jahr in Deutschland ankam, war meine Tochter ein halbes Jahr alt und ging noch nicht in die Kita. Im Februar 2020 beschäftigten mich die Regierungskrise in Erfurt und der Anschlag in Hanau, außerdem war ich dabei, mich auf das Ende der Elternzeit vorzubereiten. In den nächsten Monaten würde mein Freund sich um unser Kind kümmern; ich wollte wieder in die Arbeit einsteigen, an einem neuen Arbeitsplatz. Ich war sehnsüchtig und auch ein bisschen nervös: Ich wollte raus aus der Wohnung und aus der Familie, ich wollte in Kinos, Bibliotheken, Cafés, ich wollte in mein neues Büro. Ich wollte endlich wieder Zeit und Ruhe haben, um zu lesen und zu schreiben. Meinen Vertrag konnte ich Ende März, in den ersten Tagen des ersten Lockdowns, noch unterschreiben, danach ging erst einmal nichts mehr; alle Gebäude der Universität waren geschlossen.

Stattdessen prolongierte sich Heimarbeit, jetzt „Homeoffice“ genannt, mit Wäscheständer im Rücken und Babygeschrei im Nebenzimmer. Es war (und ist) schwierig, unten diesen Umständen Konzentration aufzubringen, den Überblick zu behalten, die Siebensachen beieinanderzuhalten. A room of one’s own ist gerade nicht drin, alles wird ständig aus Schubladen, Bücherregalen, Schrankfächern, Kartons herausgezogen, auf dem Boden verteilt, manchmal, wenn’s gut läuft, auch wieder zurückgestopft. Chaos, dem sich unter Homeoffice-Bedingungen schlecht entfliehen lässt. Mehr noch aber machte mir die soziale Isolation zu schaffen. Der Lockdown traf (und trifft) mich an einem wunden Punkt, denn gefühlt hatte ich schon in der Elternzeit unter Kontaktbeschränkungen gelitten, mich mit dem Baby oft abgeschnitten und ausgeschlossen gefühlt, sozial isoliert.

Interieur #2

Interieur #2

Wenn ich an das Frühjahr 2020 zurückdenke, erinnere ich neben viel Beklemmung und Anspannung aber auch Anflüge von Genießen. Der Ausnahmesituation des zeitlich begrenzten Lockdowns – im Gegensatz zum seit Herbst andauernden zweiten Lockdown war der erste noch annähernd ereignisförmig – ließ sich, bei allem Schrecken, ein wenig Romantik und Nervenkitzel abgewinnen. Auf eine begrenzte Zeit konnte der Rückzug, auch der in die Kleinfamilie, zelebriert werden; so ein bisschen wie ein zweites Wochenbett.

Wir deckten uns mit Lebensmitteln ein und buken unser eigenes Brot (zwei Mal). Jeder Trip in den Supermarkt war ein Ausflug in die Gefahrenzone, jeder Spaziergang im Park ein Hindernisparcours, auf dem andere Passant*innen umschifft werden wollten. Die Sonne schien, es waren weniger Autos unterwegs, die Welt schien verwandelt. Es gab einfache Botschaften und klare Appelle: „Flatten the curve!“ und „Stay the fuck home!“ – was für junge Eltern erst mal gut machbar ist.

Außerdem war mein Geist in diesen ersten Tagen und Wochen der Pandemie extra rege, von den weltgeschichtlichen Ereignissen beflügelt; ich saugte fieberhaft alles an Sinnstiftungen auf, was mir an Corona-Deutungen aus Theoretiker*innen- oder Künstler*innenmund zu Ohren kam kam. Das war gestern.

Heute, nach einem Jahr Pandemie, herrscht ein Gefühl der Erschöpfung. Leer, dumpf, taub. Wie ausgeweint. Alles Arbeiten findet online statt, die Kitas sind seit Monaten zu, die Kontakte immer noch eingeschränkt. Suspendierung von Plänen, Projekten und Aktivitäten, stattdessen Hängen, Schweben, Warten, ohne genau zu wissen, worauf. Dass es besser wird. Dass es schlimmer wird. Ich denke an einen Heißluftballon, der langsam aufsteigt, sich unmerklich immer weiter vom Erdboden entfernt, abdriftet.

„I’ll think about all of it once it’s over, but now I am very much on autopilot“, sagt eine der Protagonistinnen aus 2 Lizards, der computeranimierten Webserie über New York im Lockdown, die die Künstlerinnen Meriem Bennani und Orian Barki im vergangenen Frühjahr auf Instagram gepostet haben. [1] So geht es mir auch, „very much on autopilot“, Nachdenken später. Es fällt mir schwer, unter diesen Umständen Diagnosen oder gar Prognosen zu formulieren, dazu, wo wir als Gesellschaft hinsteuern oder wie wir leben wollen. Denn wenn irgendwas gerade schmerzlich fehlt, dann ist es ja wohl jegliche Form von „Wir“. Und braucht es zum Denken nicht immer viele? Braucht es nicht Gespräche, Austausch, Anregungen und Abstoßungen? Manchmal mache ich mir Sorgen, ob mein Kind mit Autopiloten klarkommt.

Ein bisschen geht es mir mit der Pandemie wie mit der Elternzeit; auch deren Ende habe ich – oder hat zumindest ein Teil von mir – herbeigesehnt. Was vor allem daran lag, dass ich lange Zeit dachte, ich könnte nach dem Ende der Elternzeit einfach mein altes Leben wieder aufnehmen, nahtlos an mein altes Ich, an Arbeitsgewohnheiten und Schreibroutinen anknüpfen. Irgendwann dämmerte mir, dass das nicht der Fall ist, dass das Leben mit Kind dazu auffordert, neue Strukturen und Routinen zu erschaffen, neue Räume und Aktivitäten zu erschließen. Vielleicht ist es mit Corona ähnlich? Ich ertappe mich bei Tagträumereien über das Ende der Pandemie, wenn endlich alles wieder so ist wie früher: mit Reisen, Menschen, Festen, Präsenzveranstaltungen, Kinovorführungen, Restaurantbesuchen, Umarmungen. Aber wer weiß, ob, wann, wie das sein wird. Heute ist heute, und mein Kind ist noch klein …

Elena Meilicke ist Medien- und Kulturwissenschaftlerin und lehrt an der Universität der Künste Berlin. Gerade erschien Paranoia und technisches Bild. Fallstudien zu einer Medienpathologie (De Gruyter, 2021).

Image credit: Elena Meilicke