BENJAMIN H. D. BUCHLOH UND HAL FOSTER, ONUR ERDUR, INGEBORG BACHMANN Seen & Read – von Isabelle Graw
Benjamin H. D. Buchloh im Gespräch mit Hal Foster, Exit Interview
Obgleich ich Benjamin Buchloh gut zu kennen glaube, habe ich durch die Lektüre dieses Gesprächs mit Hal Foster viel Neues über ihn erfahren. So wusste ich zum Beispiel nicht, dass er als junger Mensch selbst künstlerische Ambitionen hegte oder beinahe in Dieter Kunzelmanns Kommune 1 eingezogen wäre (was daran scheiterte, dass Kunzelmann zur Bedingung machte, dafür mit Buchlohs damaliger Freundin zu schlafen). In methodischer Hinsicht wird in diesem Gespräch der Zweifel am Wahrheitsanspruch des Autobiografischen durchgehend artikuliert, mehr noch: Biografische Erzählungen werden aus heutiger Perspektive kommentiert. So räumt Buchloh beispielsweise ein, dass Theodor W. Adorno mit seiner Einschätzung der Studierendenproteste von 1968 als eine Wiederaufführung des Faschismus der Väter durchaus Recht hatte, was er damals jedoch nicht verstanden habe. Auch Buchlohs eigene Kriterien zur Bewertung künstlerischer Praktiken – ihm zufolge müssen diese ihre Herrschaftssysteme präzise nachahmen und auf sich nehmen – werden in ihrer Geltungsmacht von ihm selbst angezweifelt. Das ist vielleicht das Bemerkenswerteste an diesem Buch: Buchloh fällt darin zwar Urteile, stellt deren autoritären Gestus jedoch zugleich infrage. Den normativen Anspruch der Kritik zweifelt er vor allem mit Blick auf eine inzwischen global gewordene Kunstindustrie an, in der Kritiker*innen Buchloh zufolge keine Bedeutung mehr haben. Von Foster nach seiner eigenen institutionellen Macht befragt, antwortet Buchloh, diese existiere gar nicht. Einmal abgesehen von diesem blinden Fleck in seinem Selbstverständnis, würde ich ihm dahingehend zustimmen, dass die Kunstwelt in den letzten 15 Jahren einen Strukturwandel durchlaufen hat, im Zuge dessen die Kritik ins Hintertreffen geriet. Dies bedeutet jedoch meines Erachtens nicht – und hier würde ich Buchlohs finalistischem Abgesang auf die Kritik widersprechen –, dass diese keine Funktion mehr hätte. Im Gegenteil: Immer dann, wenn sie von vielen für tot erklärt wird, ist sie nach meiner Beobachtung lebendiger und wichtiger denn je. Nicht die Kritik ist also am Ende, sondern, wenn überhaupt, ein bestimmtes Verständnis von ihr. Sie ist gerade heute – und das zeigt dieses Gespräch – eine unverzichtbare Instanz, die die aktuellen Veränderungen des Wertesystems der Kunst reflektieren und analysieren kann.
New York/San Francisco: no place press, 2024, 184 Seiten.
Onur Erdur, Schule des Südens
In dieser flüssig geschriebenen Studie widmet sich der Kulturwissenschaftler Onur Erdur der bislang weitgehend unerforschten kolonialen Dimension von poststrukturalistischen Theorien. Im Rahmen von gut recherchierten Fallstudien werden die Werke der Denker*innen Pierre Bourdieu, Roland Barthes und Michel Foucault sowie Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Étienne Balibar, Jacques Rancière und Hélène Cixous daraufhin untersucht, inwieweit sich deren Forschungsschwerpunkte, Schreibweisen und zentralen Begriffe einer kolonialen Erfahrung verdanken. „Ohne die kolonialen Grenz- und Differenzerfahrungen“ dieser Protagonist*innen seien die „zentralen Schlagwörter und Werke der französischen Theorie“ Erdur zufolge nicht zu verstehen. Besonders gelungen an seiner Studie ist die Einbindung heutiger Debatten in die Auseinandersetzung mit den zentralen Ideen der „French Theory“ . So wird nicht nur aufgezeigt, dass „namenlose kabylische Bauern in algerischen Umsiedlungslagern“ beträchtlich zu Bourdieus Konzept des Habitus beigetragen haben. Auch von Lyotards Plädoyer für Widersprüchlichkeit können wir Erdur zufolge lernen, dass man für eine Sache wie den Kampf für die Unabhängigkeit Algeriens eintreten kann, ohne all ihre „theoretischen und politischen Prämissen“ zu unterschreiben. Dass Barthes nicht nur den Tod seiner Mutter, sondern auch seinen Marokko-Aufenthalt für die literarische Neuausrichtung seines Schreibens nutzte, arbeitet der Kulturwissenschaftler besonders anschaulich heraus. Man erfährt auch viel über das Schweigen Foucaults, der sich zwar in Tunesien mit den „frisch dekolonisierten Subjekten“ sexuell vergnügte, sie in seiner Theorie aber, wie Erdur darlegt, nicht zu Wort kommen ließ. Auch für Derrida sei seine algerische Herkunft lange Zeit ein „selbstauferlegtes Tabu“ gewesen. Erdur versteht dessen Methode der Dekonstruktion jedoch auch als einen von der Kolonialerfahrung inspirierten Versuch, die vermeintlich naturgegebenen Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen aufzusprengen. Allein Cixous wird dafür gelobt, dass deren autobiografisch-theoretischen Texte schon früh um ihre algerische Herkunft, Erfahrungen von Antisemitismus und Misogynie in Frankreich kreisten. Erdur feiert Cixous zudem als eine Denkerin der Genderfluidität avant la lettre. Balibars Konzeption eines kulturell argumentierenden Rassismus, in dem sich Aspekte von Geschlecht, Klasse und Nation miteinander verschränken, stellt für Erdur eine Frühform des heute viel diskutierten intersektionalen Denkens dar. Rancière kommt etwas schlechter weg, da er mit seinem Eintreten für „Desidentifizierung“ aus Sicht des Autors in die Nähe eines eurozentrischen Universalismus gerät. Zugleich verteidigt er Rancières Denken dafür, dass es eine Form des politischen Widerstands artikuliert, der nicht nur auf die Anerkennung von Minderheiten zielt, sondern auch ein „desidentifizierendes Moment“ enthält, das letztlich die Voraussetzung für politische Subjektivierung sei.
Berlin: Matthes & Seitz, 2024, 335 Seiten.
Ingeborg Bachmann, Senza Casa
Diese erstmals publizierten Notizen aus dem Nachlass von Ingeborg Bachmann haben es in sich. Sie zeigen eine vagabundierende Autorin, die sich unbehaust fühlt und von Angstschüben heimgesucht wird. Allein das Schreiben bietet ihr Zuflucht, da es aus ihrer Sicht „neben andrem ein stetes Zurückdrängen von Dunkelheit“ sei. Anflüge von Traurigkeit und Verzweiflung werden von Bachmann also schreibend in Schach gehalten. In diesen tagebuchartigen Notaten finden sich sowohl wertvolle poetologische Einsichten als auch treffende Charakterisierungen von Angstzuständen. So betont Bachmann, dass es der Kunst im Idealfall gelinge, uns aus unseren Lebensumständen herauszureißen: Während die Kunst uns „die Hand auferlegt, berührt andres uns nicht“, sie rezipierend vergessen wir unsere Sorgen und „treten in ihre besondere Ordnung ein“ – eine Ordnung, die laut Bachmann zwar durchaus auf das Leben verweise, aber in diesem selbst nicht enthalten sei. So wie die Lyrikerin und Schriftstellerin biografische Ereignisse in ihren Texten poetisch überformt, gelingt es ihr mittels dieser poetischen Überformung zugleich, über ihre Lebensumstände hinauszuweisen. Zum Thema „Angst“ notiert sie, diese sei letztlich nicht zu verstehen, weil sie im Kopf sitze – und zwar „an allen Schalthebeln“. Eben weil die Angst unser Denken vollständig auf Angst umstelle, sei sie „eine physische Marter, das Fallbeil“. Neben Gedanken zur Angst finden sich in dieser Sammlung an Notizen treffende Reflexionen über die „Ökonomie der Ehe“ oder über die Unfähigkeit der Schreibenden zur „Freizeit“. Es gibt auch erstaunliche Passagen, in denen Bachmann den Luxus preist: „Ich liebe den Luxus wirklich“. Sie bekennt sich „wie jeder vernünftige Mensch“ auch zu ihrer Liebe zum Geld und ihrer Verachtung für den Geiz. Dass sie das Loblied des Geldes in einer Zeit gesungen hat, in der die meisten progressiven Autor*innen das Geld zu verachten vorgaben, ist erstaunlich. Auch die Zweischneidigkeit der „Vagabondage“ wird in diesen Aufzeichnungen festgehalten: Einerseits braucht Bachmann ihr rastloses Reisen und den ständigen Wechsel von Wohnungen und Aufenthaltsorten, da sich aus dieser Unruhe ihr Schreiben speist. Andererseits leidet sie unter dem Mangel an emotionaler Stabilität und finanzieller Sicherheit. Das viele Reisen führe mitunter dazu, sich selbst zu verlieren, konstatiert sie, um zugleich ergänzend hinzuzufügen, dass man sich nicht entkommen könne. Bachmann hält dies in der eingängigen Formel fest: „Ich bin es nicht. Ich bin‘s.“ Damit ist nicht nur die Spannung zwischen „Ich“ und „Nicht-Ich“ in ihrem autobiografisch fundierten Schreiben gemeint, sondern auch die Pluralisierung des Ichs in mehrere Ichs, die der Aufenthalt an anderen Orten ermöglicht.
Berlin: Suhrkamp, 2024, 336 Seiten.
Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022) und Angst und Geld: Ein Roman (Spector Books, 2024).
Image credit: 1. Foto Rob Kulisek; 2. Foto Albrecht Fuchs; 3. © Pierre Bourdieu / Fondation Bourdieu; courtesy Camera Austria, Graz, Archiv Pierre Bourdieu, N 066/556; 4. © Heinz Bachmann / Familienarchiv Bachmann