„LA NAISSANCE DES GRANDS MAGASINS“, JÖRG SPÄTER, ULRIKE EDSCHMID Seen & Read – von Isabelle Graw
„LA NAISSANCE DES GRANDS MAGASINS. 1852–1925“
Für den Siegeszug der Pariser Kaufhäuser bedurfte es bestimmter sozialer und ökonomischer Bedingungen, wie diese Ausstellung anschaulich demonstriert. Entscheidend war zunächst einmal die Herausbildung einer neuen Schicht von Käufer*innen – der Bourgeoisie – gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Deren damals aufkommendes Selbstbewusstsein zeigt sich in Auftragsporträts, mit denen die Ausstellung beginnt. Hier posieren souverän wirkende Geschäftsmänner und ihre elegant gekleideten Ehefrauen. Den Kaufhäusern kam auch die viel zitierte Haussmannisierung zugute – jenes radikale Abriss- und Umbauprojekt, im Zuge dessen große Boulevards wie Schneisen durch die Stadt Paris gezogen wurden. Auf diesen breiten Straßen konnte man flanieren, weshalb sich die Kaufhäuser bevorzugt dort ansiedelten. Die Ausstellung erinnert auch mithilfe von grafischem Material an die enorme Bedeutung des Ausbaus des Schienennetzes, das den Warentransport erleichterte. Auch die Bewohner*innen der französischen Provinz konnten nun schnell nach Paris zum Shoppen reisen oder Waren zugeliefert bekommen. Die fortschreitende Industrialisierung Frankreichs, deren Resultate in den „Expositions Universelles“ gefeiert wurden, wird in der Ausstellung ebenfalls als ein für die Kaufhäuser förderlicher Faktor herausgestellt. Zudem war das Aufkommen von Freizeitbeschäftigungen wie Besuchen von Bällen und Theateraufführungen und Promenaden in den Parks Wasser auf die Mühlen der Kaufhäuser. Denn für all diese neuen Aktivitäten wurden die passenden Outfits benötigt. Bei den präsentierten Plakaten und Katalogen fällt auf, dass die Marketingstrategien um 1900 – einmal abgesehen von ihren zeittypischen visuellen und textuellen Strategien – gar nicht so anders waren als heute. Schon damals gab es saisonale „Ausverkäufe“, monatliche Verkaufsthemen, Lieferungen ins Domizil oder die Kollaboration mit renommierten Designer*innen wie etwa Maurice Dufrène, der für die Galerie Lafayettes Möbel entwarf. Kaufhäuser zogen damals Menschen unterschiedlicher Klassen an, da man in ihnen umsonst herumflanieren konnte. Dass für ein Vergnügen kein Eintritt bezahlt werden musste, stellte ein Novum dar, wie die Ausstellung zu Recht unterstreicht. Inzwischen scheinen jedoch unsichtbare Barrieren dafür zu sorgen, dass sich in erster Linie betuchte Pariser*innen und zahlungskräftige Tourist*innen in Kaufhäuser wie das Bon Marché hineinwagen. Anders als im 19. Jahrhundert gibt es hier keine Wühltische mehr, sondern nach Marken kuratierte Kojen, die an jene auf Kunstmessen erinnern. Die demokratische Verheißung des Kaufhauses ist also längst verloren gegangen, es ist kein „Paradies der Damen“ (Émile Zola) mehr, sondern eine High-End-Destination vor allem für Wohlhabende.
Paris, Musée des Art décoratifs, 10. April bis 13. Oktober 2024.
JÖRG SPÄTER, ADORNOS ERBEN
Diese „erzählte Theoriegeschichte“ von Jörg Später ist packend geschrieben und enthält neue historische Perspektiven und theoretische Einsichten, auch für Kenner*innen der Kritischen Theorie. Späters Fokus gilt nicht nur der ersten Generation der Schüler*innen Theodor W. Adornos, sondern auch den Kulturkämpfen und ideengeschichtlichen Frontstellungen in der Bundesrepublik von der Studierendenbewegung bis zum Historikerstreit. So wird zum Beispiel daran erinnert, dass „Nazis, Opportunisten und konservative Revolutionäre“ nach 1945 an den führenden Stellen in Medien, Literaturbetrieb und Universitäten saßen. Von einer kulturellen Hegemonie der Linken konnte Später zufolge auch in den 1970er Jahren keine Rede sein – es gab nur wenige Universitäten, etwa in Bremen oder in Hannover, an denen Vertreter*innen der Kritischen Theorie Posten erhielten. Was Späters Studie auch auszeichnet, ist ein besonderes Interesse für die Schülerinnen Adornos, Helge Pross oder Elisabeth Lenk zum Beispiel, deren Arbeiten – etwa über die Bedeutung von Geschlecht im Bildungswesen (Pross) oder André Bretons poetischen Materialismus (Lenk) – ausführlich gewürdigt werden (und deren Bücher ich mir sogleich bestellte). Dass der Habermas’sche Shift von der Subjektphilosophie zur Kommunikationstheorie eine Schwächung (und letztlich Entpolitisierung) der Kritischen Theorie bedeutete, wird ebenfalls herausgearbeitet. Die Faszination der 68er für Adorno führt Später nicht nur auf dessen unwiderstehlich apodiktische Sprechweise, sondern auch auf eine „negative Identifikation [der Studierenden] mit den Verfolgten“ zurück. Dass sich Adorno ihrem Engagement jedoch verweigerte, dass er lieber schrieb, statt offene Briefe zu unterschreiben, und Klavierspielen ging, statt zu protestieren, trug maßgeblich zu seinem Bruch mit der Studierendenbewegung bei. Wie Später darlegt, war das damalige antiautoritäre Milieu ziemlich theoriefeindlich und sehnte sich weniger nach abstrakten Ideen als nach straffer Organisation. Auch diese Politisierung hatte also ihren Preis.
Später befasst sich zudem mit dem antiimperialistischen Kampf der Linken gegen Israel, und zwar mit Blick auf dessen aktuelles Nachleben. Aus seiner Sicht setzte dieser Kampf nach dem Sechstagekrieg von 1967 ein, der Später zufolge damals unter anderem dafür herhalten musste, die deutsche Schuld „auszubügeln“. Denn da den Opfern des NS unterstellt wurde, dass sie zu den gleichen Grausamkeiten fähig wären die die Täter*innen ihnen einst angetan hatten, ließ sich die ursprüngliche Täterschaft ihm zufolge auf diese Weise aufheben. Israel habe vielen Linken von da an nur noch als „zionistischer Kolonialstaat“ gegolten, mehr noch: Während des Libanonkrieges von 1982 habe eine „unerträgliche Parallelisierung zwischen der israelischen Kriegsführung und den Naziverbrechen“ (Später) stattgefunden. Er beruft sich an diesem Punkt auf Detlev Claussens Feststellung, dass das „Nie-wieder-Auschwitz!“, die Claussen zufolge als ursprüngliches Motiv des Linkswerdens fungierte, Mitte der 1970er Jahre so gut wie vergessen gewesen sei. Hier lässt sich einwenden, dass es auch andere Gründe für das Linkswerden gibt: So etwa den Kampf gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit oder den Glauben an eine Alternative zum kapitalistischen System.
Auch Späters Überlegungen zur „linken Szene“ weisen diesen leichten Hang zum Totalisieren auf. Denn natürlich sind nicht alle Linke – „ob antiimperialistisch, antideutsch oder postkolonial“ – bis heute im „IsraelKomplex gefangen“, den der Autor allerdings zu Recht in der deutschen Schuld begründet sieht. Es finden sich aber auch nuancierte Vorschläge zum Thema, wenn er etwa mit Bezug auf Dan Diner zwischen dem „historischen Zionismus“, der angesichts der barbarischen Jüd*innenvernichtung durch die Nazis gegenüber seinen Kritiker*innen Recht behalten habe, und einer berechtigten Kritik an der zionistischen Gesellschaftsstruktur Israels unterscheidet. Zuletzt argumentiert er überzeugend, dass der von Ernst Nolte entfachte Historikerstreit – also die Behauptung, dass zwischen Gulag und Holocaust ein „kausaler Nexus“ bestehe – nicht nur einer Schuldverschiebung, sondern auch nationalsozialistischen Argumentationsmustern gleichkam. Der Historikerstreit erweist sich in Späters historischer Perspektive jedoch auch als Auftakt für die so dringliche und nun endlich erfolgende „kriminalistische Erforschung der Massenmorde und Verbrechen vor allem in Osteuropa“. Anstelle des von Nolte intendierten Schlussstriches trat also das Gegenteil ein. So wurden zum Beispiel speziell die Verbrechen der Wehrmacht in zwei viel diskutierten Wanderausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung aufgearbeitet. „Die Vergangenheit, die nach Noltes Wehklagen nicht vergehen wollte, begann nun erst richtig“, wie Später treffend schreibt.
Berlin: Suhrkamp, 2024, 760 Seiten.
ULRIKE EDSCHMID, DIE LETZTE PATIENTIN
Ulrike Edschmid gehört für mich zu den wichtigsten deutschsprachigen Autor*innen der Gegenwart; denn es gelingt ihr wie sonst nur Annie Ernaux, die individuellen Biografien ihrer zumeist weiblichen Protagonistinnen mit gesellschaftlichen Bedingungen sprachlich überzeugend zusammenzuziehen. Ihr jüngstes Buch, Die letzte Patientin, ist dafür ein gutes Beispiel. Es erzählt die Lebensgeschichte einer ehemaligen WG-Mitbewohnerin der Autorin, die in den 1970er Jahren als junge Frau zur Aussteigerin wurde und sich nach einer langen Odyssee auf der vergeblichen Suche nach Liebe zur Therapeutin ausbilden ließ. Der Bericht ihres rastlosen Reiselebens zwischen Barcelona und Lateinamerika, für das damals in linken Milieus viele optierten, wirkt trocken und zugleich voller Empathie. Man realisiert auf jeder Seite das Zeittypische dieser Biografie: Der Bruch mit bürgerlichen Normen war damals unter Linken gängig und das Aussteigen mit weit weniger (ökonomischen und sozialen) Risiken verbunden als heute. Die Autorin gibt vor, dass sich ihr Bericht aus Briefen der Freundin speise – ein literarischer Trick, der bewirkt, dass eine authentische Spur im fiktionalisierten Lebensbericht mitläuft. In all den schrecklichen Erlebnissen, die der Freundin auf ihren Reisen widerfahren, schwingen zudem immer auch die damaligen Herrschafts- und Geschlechterverhältnisse mit. Speziell jungen Frauen, die ihrem bürgerlichen Herkunftsmilieu entkommen wollten, wurden (und werden) viele Steine in den Weg gelegt. Wenn sie beispielsweise allein reisten und trampten, mussten sie damit rechnen, vergewaltigt zu werden – was im Fall der Freundin zwei Mal geschieht. Und je leidenschaftlicher sich Letztere in immer wieder neue Liebesaffären stürzt, desto schneller gehen die Männer auf Distanz zu ihr. Dass sie von dem Schmerz, den die eigenen Eltern ihr zufügten, selbst auf einem anderen Kontinent eingeholt wird, ist eine Erfahrung, die die Freundin überdies ereilt. Ihre Perspektive auf ihre persönlichen Dramen wirkt jedoch erstaunlich selbstreflexiv und geläutert: Sie kennt ihre Dämonen und landet doch immer wieder in der Hölle ihrer unerfüllten Sehnsüchte. Von einer unglücklichen Liebesgeschichte zur nächsten taumelnd, reist sie durch die Welt, versucht immer wieder, einen Neuanfang mit neuem Partner, um kurze Zeit später ihre Zelte wieder abzubrechen. Irgendwann ertastet sie einen Knoten in ihrer Brust, wird operiert und beginnt eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Vom kleinen Erbe ihrer Eltern kauft sie sich schließlich ein Haus außerhalb von Barcelona, in dem sie Patient*innen empfängt. Hier hat die titelgebende „letzte Patientin“ ihren Auftritt, eine ebenfalls traumatisierte Frau namens „N“, die ihrer Therapeutin über Jahre hinweg gegenübersitzt, ohne ein Wort zu sagen. Das stumme Leiden ihrer Patientin fungiert wie ein Spiegel der eigenen Traumata der Protagonistin. Obwohl Letztere mehrfach versucht, die Therapie abzubrechen und die Patientin zu einer Kolleg*in zu schicken, gelingt ihr dies nicht. Am Ende wird diese letzte Patientin N sie in den Tod begleiten. Während die Männer im Leben der Protagonistin eine Enttäuschung waren, ist auf Freundinnen stets Verlass. Mit diesem Buch hat eine von ihnen ihr ein ausgesprochen gelungenes literarisches Denkmal gesetzt und sie (indirekt) zu Wort kommen lassen.
Berlin: Suhrkamp, 2024, 111 Seiten.
Translated by Ben Caton
Isabelle Graw is the cofounder and publisher of TEXTE ZUR KUNST and teaches art history and theory at the Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt am Main. Her most recent publications include In Another World: Notes, 2014–2017 (Sternberg Press, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), and On the Benefits of Friendship (Sternberg Press, 2023).
Image credit: 1. © Rob Kulisek; 2. © Les Arts Décoratifs; 3. photo Abisag Tüllmann, public domain; 4. © Lukas Hemleb / Suhrkamp Verlag