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Fragilität und Nützlichkeit von Tom Holert

Pars pro Toto: Büchertisch

Pars pro Toto: Büchertisch

Unter der Überschrift „Notes from Quarantine“ veröffentlichen wir an dieser Stelle ab sofort jeden Mittwoch eine Kolumne, in der unterschiedliche Autor*innen die aktuellen Ereignisse rund um die Corona-Pandemie kommentieren. Mit Blick auf die globale Kunstwelt als einen hochpreisigen wie stark auf Mobilität setzenden Markt stellt sich die Frage, ob der epidemische Ausnahmezustand auf eine Unterbrechung kapitalistischer Ungleichheitsverhältnisse hinausläuft; oder ob Corona sich als eine jener Krisen erweist, die im Anschluss an den ökonomischen Kollaps eine Vertiefung von Prekarität, Überwachung und Xenophobie bewirken. Den Anfang dieser Reihe macht der Kunsthistoriker und Autor Tom Holert, der nach dem „Nutzen der Kunst“ für die Kritik fragt: Ist es nicht die Fragilität eurozentrischer und eigentumsfixierter Rationalitäten, die uns die Corona-Krise lehrt und die feministische und sozialrevolutionäre Plattformen und Räume notwendig macht, wie Kunst sie ermöglicht?

In der gegenwärtigen Situation bin ich auf alle und alles angewiesen. Meine Struktur ist die Infrastruktur. Die eine kann ohne die andere nicht bestehen. Das ist schon immer so gewesen. Aber affektive und soziale Infrastrukturen (wie Familie, Freund*innen, Genoss*innen, Kolleg*innen), Infrastrukturen der Daseinsfürsorge (wie das Gesundheitssystem, der öffentliche Nahverkehr, die Müllabfuhr usw.) oder Infrastrukturen der Kulturproduktion (wie selbst organisierte Veranstaltungsorte, das Personal von Kulturinstitutionen, freie Theatergruppen, kommerzielle und nichtkommerzielle Galerien etc.) bleiben unsichtbar, das zeichnet sie aus – solange sie nicht gefährdet sind. Erst in der Überlastung machen sie sich bemerkbar; erst in ihrem Zusammenbruch, ja, schon in dessen Vorahnung, wird die eigene Fragilität als eine unweigerlich geteilte, weitläufig vernetzte erfahrbar. Diese ‚infrastrukturelle Fragilität‘ ist einerseits bedrohlich, andererseits macht sie aber auch Hoffnung. Denn, das lässt sich nun, finally, nicht mehr leugnen, in der Interdependenz, nicht in der Autonomie, liegt die Chance.

In zahlreichen Modulierungen wird der Interdependenz-Gedanke jetzt als gesellschaftlicher Konsens artikuliert. Dabei sollte man den Solidaritätsbekundungen der Personen mit politischer oder ökonomischer Macht nicht blind vertrauen. Aber dass ein Wort wie „Solidarität“ momentan eine solche Konjunktur erlebt, ist schon deshalb hilfreich, weil es die Verstöße gegen das Solidaritätsprinzip umso schärfer hervortreten lässt. Solidarität ausschließlich im nationalen (oder EU-)Maßstab zu denken und auszuüben, ihr ethnische und territoriale Einschränkungen aufzuerlegen, lässt sie vor aller Augen verkümmern. Die Situation an den europäischen Außengrenzen, das Schweigen über Syrien, die fehlende Unterstützung der UN-Mitgliedsstaaten bei der Bekämpfung der Heuschreckenkrise in Ostafrika (die inzwischen längst weitergezogen ist Richtung Jemen und den von SARS-CoV-2 besonders betroffenen Iran), noch die anfangs zögerlichen Hilfen für Italien – solche Widersprüche zur öffentlich-rechtlichen Solidaritätsrhetorik sind nur zu evident. Andererseits wirken selbst diese in sich fragwürdigen politischen Bekenntnisse zu Ländern in Krisenlagen im internationalen Vergleich wie Vorzeichen einer umfassenden Veränderung.

Wie verhält sich die Solidarität der Staatsräson zu den nun um sich greifenden Erwartungen an die Coronaviruskrise als große ‚Beschleunigerin‘ überfälliger gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Umbrüche? Nathan Gardels, Mitbegründer des Berggruen Institute und Sloterdijk-Fan, sieht begeistert die Epoche des „Ko-Immunismus“ anbrechen. [1] Von einer anderen Seite des weltanschaulichen Spektrums kommend, erkennt auch der Migrationsforscher und Aktivist Sandro Mezzadra in dieser Krise das Potenzial, der „Care-Arbeit“ für „das Gemeinsame“ zu allgemeiner Geltung zu verhelfen. [2] Die Society of the Friends of the Virus des wunderlichen Centre Parhèssia, die ihre Texte auf einer alten Schreibmaschine tippt, erklärt den inhumanen Aggressor zum Retter: Das Virus bringt diesen Menschheitsquatsch zur Vernunft, aber eben zu seiner, von eurozentrischen, zivilisatorischen, subjekttheoretischen, eigentumsfixierten Rationalitäten völlig unbeeindruckten Vernunft. [3]

Das alles soll und kann hier nicht alles einzeln einer Bewertung unterzogen werden; die Probleme jeder dieser Positionen liegen auf der Hand: Ein irgendwie sich geläutert gebender Akzelerationismus aus dem Umfeld eines globalen Immobilienunternehmers (und Käufers und Verkäufers von Kaufhausketten) wie Nicolas Berggruen codiert die Krise anders in eine Chance um, als dies in einem postoperaistisch-marxistischen Kontext geschieht, in dem man sich auf feministische Für-Sorge und die Autonomie der Migration beruft. Aber auch Mezzadra argumentiert gemäß einer Logik, die auf den Kairos der Krise setzt, auf das Veränderungspotenzial der fatalen Zuspitzung und damit auf eine Teleologie der Zivilisierung (andererseits kenne ich auch keinen ganz anderen Weg, um sich vor der endgültigen Drift in die Depression zu schützen). Der, wie auch immer spielerisch gemeinte euphorische Empfang des Virus als des inhumanen Erlösers von Anthropo-, Andro-, Euro- und anderen Zentrismen wiederum trägt avant-messianische Züge, die mich ebenfalls irritieren.

Das neue Medium „langer Spaziergang“, Pankeweg, 23.03.2020

Das neue Medium „langer Spaziergang“, Pankeweg, 23.03.2020

Überhaupt stehen jetzt andere Dinge, Überlegungen, ‚Maßnahmen‘ an. Aber welche wären das genau? Und was ist das Andere, das an die Stelle des Bisherigen treten soll (oder längst getreten ist)? Wenn die Infrastruktur aus dem Hintergrund in den Vordergrund rückt, wenn die Unausweichlichkeit der Interdependenz alles Einzelkämpferische, alles auf Selbstbestimmung, Originalität, Souveränität ausgerichtete Treiben außer Kurs setzt, was steht dann an? Was ist dann Sache?

Zum Beispiel Kunst. Zumal in ihren marktförmigen, Repräsentationsinteressen dienenden, spekulativen Wucherungen gerät sie jetzt unter den denkbar größten Legitimationsdruck. Darüber hinaus werden, während ich dies schreibe, weite Bereiche des Systems der Gegenwartskunst, aber auch jene der Literatur, des Theaters, der Musik, schlicht verwüstet – mir fällt auch kein leichter klingendes Wort dafür ein. Dann wieder erinnert man sich daran, dass Kunst ja auch ganz voraussetzungslos, immateriell, Ressourcen schonend, also eine Art Grundversorgung sein könnte, das heißt: unabhängig von den Apparaten und Systemen (und den mit diesen verbundenen ideologisch-sozialdynamischen Zwängen), denen sie (und die in diesen arbeitenden Individuen und Kollektive) ihre Verwundbarkeit verdankt. Um die Robustheit der Kunst zu stärken, wird schon seit Längerem die Tradition einer „nützlichen Kunst“ wiederbelebt. Sie hat ihre Ursprünge unter anderem in (prä-)revolutionären Zeiten, in denen die Isolation der gesellschaftlichen Produktionsbereiche aufgehoben ist. Eine arte utìl, wie von Tania Bruguera vorgeschlagen, fragt immer zuerst nach den sozialen und politischen Folgen künstlerischen Handelns und installiert damit den permanenten Zweifel am Exzeptionalismus der Kunst. [4]

Wie nützliche Kunst ihren Zweck außer sich hat, ist auch ein nützliches Wissen – eines, das geteilt produziert und verwendet wird. Nach nützlichem Wissen zu verlangen, muss dabei nicht automatisch bedeuten, die Institutionen des Wissens und der Wissenschaft abzulehnen. Eher schon – das zeigt die neue Rolle, die die Politik und die Medien in diesen Tagen der Epidemiologie, der Mathematik und anderen Wissenschaften einzuräumen gezwungen sind – wären ihre Potenziale neu zu betrachten. So erweist sich, im besseren Fall, ihre Nützlichkeit – jene Eigenschaft des Wissens, die von den Kants, Humboldts und anderen ‚Vätern‘ weiterhin dominanter Bildungskonzepte stets herablassend behandelt worden ist, um dafür von feministischen und sozialrevolutionären Theoretiker*innen und Künstler*innen, wie sie z.B. vom Kuratorinnen-Kollektiv WHW 2014/15 in der Ausstellung „Really Useful Knowledge“ (Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid) zur Diskussion gestellt wurden, umso ernster genommen worden zu sein.

Was heißt überhaupt „nützlich“? Ein kurzer Text wie dieser in einer Reihe von anderen kurzen Texten kann seine eigene Nützlichkeit, seinen Gebrauchswert, seine Wirkung kaum allein und für sich beweisen. Seine Nützlichkeit entfaltet er, wenn überhaupt, im Zusammenspiel, im Konzert, im Chor mit den anderen. Auf Facebook, Twitter, Instagram entsteht gelegentlich, besonders in Zeiten wie diesen, eine solche Nützlichkeit, in der so viele wie möglich so viel wie möglich denken. Um einen solchen spinozistischen Zustand allerdings in eine revolutionäre Kraft zu verwandeln, müssen sich die Plattformen und Räume nützlicher Kunst und nützlichen Wissens, müssen sich ihre Infrastrukturen radikal ändern. Wie, das wäre herauszufinden. Für den Beginn dieser Arbeit an den Infrastrukturen des sozialen und planetaren Funktionierens jenseits moderner Funktionalismen scheint die jetzige Situation jedenfalls kein so schlechter Zeitpunkt zu sein, auch wenn derart lapidar, in der Sprache der Opportunitäten, angesichts der Toten und Kranken und der durch die Überlastung der Systeme brutal verstärkten Ungleichheit, eigentlich nicht gesprochen werden sollte. Aber weil die Infrastrukturen in ihrer Fragilität selten so spürbar gewesen sind, so sehr erlitten wurden, weil ‚wir‘ selten so schwach waren (und auf unabsehbare Zeit bleiben werden), subjektiv wie objektiv, wird jetzt mit fasziniert-entsetztem Blick in die paradoxe Offenheit der Katastrophe geschaut, voller Angst und Trauer, aber auch voller Erwartung.

Tom Holert ist der Autor von Knowledge Beside Itself. Contemporary Art’s Epistemic Politics (Sternberg Press, 2020); zur Bildpolitik der Coronaviruskrise veröffentlicht er in Rosa Mercedes 02 auf der Website des Harun Farocki Instituts (https://www.harun-farocki-institut.org/en/category/rosa-mercedes-en/).

Image credit: Tom Holert, Berlin

Anmerkungen

[1]Nathan Gardels, „Planetary Co-immunism Is on the Way. This Global Pandemic Is the Great Accelerator“, The World Post. Berggruen Institute, 20. März 2020, https://www.berggruen.org/the-worldpost/articles/weekend-roundup-planetary-co-immunism-is-on-the-way/.
[2]Sandro Mezzadra, „Eine Politik der Kämpfe in Zeiten der Pandemie“, 14. März 2020 (italienische Erstveröffentlichung auf Euronomade, http://www.euronomade.info/?p=13085), https://www.medico.de/eine-politik-der-kaempfe-in-zeiten-der-pandemie-17674/.
[3]The Society of the Friends of the Virus, Volume 1, 2020, https://centreparrhesia.org/vol_1_society_of_the_friends.pdf.
[4]Siehe z.B. Larne Abse Gogarty, „,Usefulness‘ in Contemporary Art and Politics“, Third Text 31, Nr. 1 (2017), S. 117–132.