SEEN & READ – VON ISABELLE GRAW Auguste Rodin, Heike Geissler, Isa Genzken

„Auguste Rodin: Corps In•visibles“

“Corps In•visibles,” Musée Rodin, Paris, 2024–25
Das Thema „Morgenmantel“ (franz. Robe de Chambre) beschäftigt mich schon länger. Nicht nur, weil ich selbst häufig morgens im Bademantel am Schreibtisch sitze, um direkt aus dem Bett kommend zu arbeiten. Auch einige meiner Lieblingsschriftsteller*innen, wie zum Beispiel Simone de Beauvoir, haben ihre Bücher im Morgenmantel verfasst – einem Kleidungsstück, das in dieser großartigen Ausstellung über Auguste Rodins Monument à Balzac (1891–1897) die Hauptrolle spielt. Dem instruktiven Katalog kann man entnehmen, dass Robes de Chambres seit dem 18. Jahrhundert als eine Art Loungewear vor allem für Männer fungierten und mit künstlerischer Kreativität assoziiert wurden. Wenn sich de Beauvoir also in ihrer Morgenrobe fotografieren ließ, kam dies einem Akt der feministischen Aneignung gleich. Aber zurück zu Rodin: Nachdem er von der Societé des Lettres mit der Anfertigung einer Balzac-Statue beauftragt worden war, fuhr er wie ein Artistic-Research-Künstler avant la lettre nach Touraine, wo Honoré de Balzac sich oft aufgehalten hatte, und hielt nach ähnlichen Physiognomien Ausschau. Auch den Schneider des Schriftstellers suchte er auf, der ihm ein voluminöses Jackett von Balzac überließ, das in der Ausstellung gezeigt wird. Rodin wählte also den Weg der Hülle/der Kleidung, um zum Wesen der Figur vorzudringen. In der ersten Version seiner Balzac-Skulptur trat der opulente Bauch des Schriftstellers noch deutlich hervor. Die Kuratorin Marine Kisiel klärt darüber auf, dass am Ende des 19. Jahrhunderts eine Grossophobie (dt. Dickheitsphobie) herrschte, wohingegen die korpulente Statur zu Balzacs Lebzeiten noch als Zeichen von Wohlstand galt. Den Auftraggebern war Rodins Balzac entsprechend zu dick, und sie wiesen die Skulptur 1898 zurück. Daraufhin kam Rodin die Idee, sich dem Körper Balzacs über dessen Robes de Chambre zu nähern. Balzac besaß viele davon, zwischen 1830 und 1840 hatte er sich laut erhaltener Quittungen 23 Morgenmäntel bestellt. Von einer dieser Roben fertigte Rodin den Abguss Étude de Robe de Chambre de Balzac (1897) an, der das zentrale Objekt dieser Ausstellung bildet. Wie ein weißes Gespenst tritt diese Hülle hier auf, nicht nur der abwesende Körper Balzacs scheint in ihr greifbar zu werden, sondern auch die frotteehafte Textur seines Morgenmantels. Dass Rodin diesen Abguss nicht vernichtet hat, ist den Kurator*innen zufolge ein Beleg für die Bedeutung, die er ihm innerhalb seines Werks zuschrieb. So schuf Rodin sein Monument à Balzac auf dessen Vorlage, das den opulenten Bauch des Schriftstellers geschickt durch den Morgenmantel verdeckt. Dafür scheint Balzac unter seiner Robe zu onanieren, denn Rodin ließ deren Ärmel leer herabhängen und eine Wölbung auf der Höhe der Hände entstehen. Was diese genau tun – ob sie die Robe halten oder masturbieren – ist letztlich nicht auszumachen. In jedem Fall suggeriert Rodin auf diese Weise einen bewegten Innenraum, in dem – analog zum Innenleben des Schriftstellers – potenziell viel passiert. Die symbolistische Bildsprache, die Rodin für Balzacs Körper wählte, wird von einem expressionistisch anmutenden Balzac-Kopf konterkariert, was die Modernität dieser Arbeit bezeugt. Zudem ließ Rodin seinen Balzac eine eigentümliche Haltung einnehmen: Der Körper des Schriftstellers weicht zurück und biegt sich nach hinten, so als würde er sich der skulpturalen Festschreibung durch Rodin dauerhaft entziehen wollen.
Musée Rodin, Paris, 15. Oktober 2024 bis 2. März 2025.
Heike Geißler, „Verzweiflungen“

Heike Geißler
In diese herzzerreißende Klage möchte man sofort einstimmen. Denn in der Tat sind einige der „einstigen Dystopien“, wie Heike Geißler zu Recht feststellt, inzwischen „Realität geworden“, und das Weltgeschehen kommt uns „in jedweder Hinsicht massiv in die Quere“. Unter diesen Umständen geht das Vertrauen in die Welt und ihre Institutionen verloren. Dass alles irgendwie gut ausgehen könnte, glaubt tatsächlich kaum jemand mehr. Was Dauerkrisen und Hiobsbotschaften mental mit uns machen – davon handelt dieses Buch. Es dringt jedoch weniger in die Anatomie des in seinem Titel beschworenen Gefühls der Verzweiflung ein, als dass es vielmehr untersucht, wie sich Verzweiflung äußert: als ein ständiges Gefühl der Überforderung und des Nicht-mehr- Könnens zum Beispiel, weshalb man als Folge von Dauerstress und Angst nur noch heulen und klagen will. Allerdings bleibt das Klagen bei Geißler „hauptsächlich innerlich“, es wird also nicht laut geschrien. An einer Stelle berichtet sie von ihrem nachvollziehbaren Wunsch, die eigenen Kinder vor der neuen Lebenswirklichkeit zu schützen, indem sie ein „sehr großes Tuch“ über sie spannen und sie vor der neuen Weltwirklichkeit bewahren wolle. Doch zugleich sieht sie sich dazu gezwungen, ihren Kindern gegenüber Zuversicht zu signalisieren, „weil es gar nicht anders geht“. Dass man sich im Gespräch mit dem eigenen Kind zu Optimismus verpflichtet sieht, und dies, obwohl es eigentlich mehr Gründe für Pessimismus gäbe, ist gut beobachtet. Im Rahmen ihres Lamentos wünscht sich die Autorin immer wieder eine Pause, sprich eine Unterbrechung der Dauerkrisen, die ihren Alltag beschweren. Zugleich lässt sich ihr Buch aber auch als eindringliches Plädoyer fürs Weitermachen lesen: „Weil nur Weitermachen geht.“ Es ist ein Weitermachen against all odds. Der eindringliche Sprachstil, in der diese Notate verfasst wurden, changiert zwischen Essay, Beichte, freier Assoziation und trockenem Bericht. Die Stärke dieser Aufzeichnungen scheint mir darin zu liegen, dass sie nicht nur um die individuelle Misere der Autorin kreisen, sondern auch die Situation der Menschen in ihrem Umfeld beschreiben, die sich ebenfalls dazu gezwungen sehen, in einer Abfolge von Krisen zu leben. So, wie es der Autorin geht, geht es tatsächlich vielen. Auch ihre Beobachtung, dass man sich unter den gegebenen Umständen gar nichts mehr wünschen zu dürfen glaubt, scheint mir zutreffend. Denn das Wünschen würde, so Geißler, von der aktuellen Krise ablenken und ist deshalb ein Luxus, den man sich heute nicht mehr leisten könne. Zuletzt habe ich nur zwei kleine Einwände gegen dieses ansonsten sehr überzeugende Lamento. Ich bin nicht sicher, ob es weiterhilft, die Anhänger der AfD als „Gegenmenschen“ zu bezeichnen. Vertieft man damit nicht die bestehenden Gräben und wäre es nicht hilfreicher, zu verstehen zu versuchen, woher ihr Hass und ihre Ressentiments rühren? Als ein wenig prätentiös empfinde ich zudem die Verwendung von Zitaten von Theoretiker*innen wie David Graeber, Mark Fisher etc., die wie Schmuckstücke im Text platziert werden, so als sagten sie die Wahrheit. Müsste man derartige Quellen nicht eher kritisch diskutieren, sprich mit ihnen arbeiten? Dennoch gelingt es Geißler, eine Brücke zwischen den derzeitigen Dauerkrisen und dem, was diese mental mit uns machen, zu schlagen. Verzweiflungen gleicht einem Psychogramm all jener, die nur mit Entsetzen auf das derzeitige politische Geschehen, den Rechtsruck und die allgemein zunehmende Faschisierung der Gesellschaft blicken und doch weitermachen müssen.
Suhrkamp, 2025, 221 Seiten.
„Isa Genzken: Basic Research“

“Isa Genzken: Basic Research,” Galerie Buchholz, Berlin, 2025
Diese Ausstellung in der Berliner Galerie Buchholz bietet die Gelegenheit, Isa Genzkens selten gezeigte Serie Basic Research ausführlich zu betrachten. Es handelt sich um sowohl fotografisch als auch malerisch anmutende Ölbilder in unterschiedlichen Formaten aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren, deren Motive entfernt an von innen heraus leuchtende Kraterlandschaften auf dem Mond erinnern. Hergestellt wurden sie mithilfe von zwei Verfahren – der Rakel- und der Frottagetechnik –, die in der Kunstgeschichte selten in einem Werk zusammenfallen. Tatsächlich hat Genzken in Basic Research die Bildsprachen von Rakel-Malern wie Karl Otto Götz oder Gerhard Richter mit der Frottage-Technik eines Max Ernst fusioniert. Während der Rakel seine Urheber*innen – deren Gewicht, Körperbewegung etc. – indexikalisch ins Spiel bringt, erzeugt die Frottage einen indexikalischen Abdruck realer Materialien. Basic Research fusioniert beide Verfahren miteinander. Zunächst legte Genzken die Leinwände auf den Boden und trug Ölfarben in absichtlich „fiesen“ Farben auf – es dominieren leicht gelbstichige Braun- und Grautöne sowie ein giftig wirkendes Grün. Anschließend rakelte sie die Farbe, sodass sich die Textur des Atelierbodens auf die Bildoberfläche durchdruckte. Die sichtbaren Rakelbewegungen auf den Bildoberflächen lassen sich als Arbeitsspuren lesen, wohingegen die Textur der Bildoberflächen auf räumliche Gegebenheiten, sprich auf Genzkens Atelier verweist. Man könnte sagen, dass der Abdruck des Atelierbodens qua Frottage einen Moment des Ortspezifischen – ein in den frühen 1990er Jahren viel diskutiertes Konzept – in diese Arbeiten einträgt. Zugleich finden sich auf jeder Bildoberfläche pastos hervorquellende Farblinien, die aus dem Verschieben der Farbe mit dem Rakel resultieren und wie Nähte auf ihren Herstellungsprozess verweisen. Der Titel der Bilder Basic Research spielt einerseits auf die neue Bedeutung von Recherche und Forschung für die Künstler*innen der damals aufkommenden zweiten Generation der Institutional Critique an. Zugleich wird mit ihm der Anspruch erhoben, selbst Forschung zu betreiben. Tatsächlich verdanken sich diese Bilder einer experimentellen Versuchsanordnung, so wie sie Marcel Duchamp in „Der kreative Akt“ beschreibt. In diesem Text wies Duchamp darauf hin, dass sich das von Künstler*innen Beabsichtigte nicht 1:1 im von ihnen Ausgedrückten wiederfände. Auch Genzken hat in Basic Research für eine experimentelle Versuchsanordnung mit offenem Ausgang optiert, deren Ergebnis also nicht kontrollierbar ist. Das liegt zum einem am Einsatz des Rakels, der die Subjektivität der Künstlerin zugunsten des Unvorhersehbaren einschränkt. Aber auch indem sich Genzken qua Frottage den besonderen Gegebenheiten ihres Atelierbodens überlässt, wird ihre Arbeit externen Parametern unterworfen. Man könnte sagen, dass die Künstlerin ihre subjektive Gestaltungsmacht mithilfe von aleatorisch funktionierenden Verfahren einschränkt. Passend zur horizontalen Produktion dieser Bilder auf dem Boden, die nebenbei bemerkt auch mit der Ästhetik von Jackson Pollocks All-Over-Gemälden kommunizieren, hat sich die Galerie für eine auffällig niedrige Hängung entschieden. Dadurch wird ihr experimenteller Charakter betont; sie scheinen den Betrachter*innen ein zugängliches Angebot zu machen, statt ihnen gegenüber autoritativ aufzutreten. Interessant ist zudem, dass diese Serie durch ihre sichtbare Nähe zur Indexikalität der Fotografie ein intermediales Malereiverständnis propagiert. Dass jedes Bild ein Stück Atelierboden abbildet, unterstreicht zudem die Bedeutung dieses Ortes, der in den späten 1980er Jahren im Rahmen der Diskussion über „Post Studio-Practices“ stark unter Beschuss stand. Genzken hingegen schien schon damals auf der Bedeutung des Ateliers auch im Sinne eines relativen Schutzraumes zu bestehen. Denn das Atelier erweist sich in Basic Research als ein Ort, der nicht nur Experimente mit offenem Ausgang ermöglicht, sondern mehr noch metaphorisch für die in diese Bilder hineinreichende Außenwelt steht.
Galerie Buchholz, Berlin, 14. Februar bis 12. April 2025.
Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022) und Angst und Geld: Ein Roman (Spector Books, 2024).
Image credits: 1. Rob Kulisek; 2. © Agence Photographique du Musée Rodin, Jérome Manoukian; 3. © Adrian Sauer, courtesy of Heike Geißler; 4. Courtesy Galerie Buchholz