LAUREN ELKIN, ANGELA MERKEL, ÉDOUARD MANET Seen & Read – von Isabelle Graw

Lauren Elkin, Scaffolding

Lauren Elkin, 2022
Dieses Buch hat alles, was mich gebannt weiterlesen lässt: angefangen mit einer Protagonistin namens Anne, die Psychoanalytikerin ist und sich ihr kompliziertes Liebesleben mithilfe von Jacques Lacans Theorie des Begehrens zu erklären versucht, bis hin zu detaillierten Beschreibungen des Pariser Viertels Belleville, wo Anne tagelang, unter Baulärm leidend, in einem eingerüsteten Haus in ihrer Wohnung sitzt. Auch eine jüngere, queer-feministisch engagierte Nachbarin namens Clémentine tritt auf, die sich gelegentlich Bücher von Anne leiht und sie mit ihrer Kritik am patriarchalen Denken Sigmund Freuds herausfordert. Irgendwann stellt sich heraus, dass der aktuelle Boyfriend von Clémentine, Jonathan, Annes Ex ist, über den sie nie hinwegkam und mit dem sie sich nun wieder trifft. Anne hat abwechselnd Sex mit Clémentine und Jonathan, während ihr Ehemann seinem Job in London nachgeht. In Folge einer traumatischen Fehlgeburt kam die Beziehung zu ihm ins Schlingern. Anne ist seither arbeitsunfähig und hat all ihren Patient*innen abgesagt. Täglich geht sie in eine nah gelegene Bäckerei, wo ihr ein Unbekannter das Baguette bezahlt. Vor allem diese sich wiederholende Begegnung mit einem älteren Mann aus dem Viertel erinnert an André Bretons surrealistisches Umherschweifen in seinem Roman Nadja (1928). Anders als Breton holt Lauren Elkin ihre Protagonistin jedoch aus deren traumwandlerischen Spaziergängen durch Paris immer wieder in die harte Realität zurück: Anne sucht regelmäßig ihre Therapeutin Esther auf, die ihre Schwierigkeiten auf trockene und dennoch hilfreiche Art kommentiert. Es gibt natürlich kein Happy End, aber irgendwann stellt sich bei allen Beteiligten so etwas wie resignative Reife ein: Anne arbeitet wieder, entscheidet sich für ihren Ehemann und bekommt ein Kind mit ihm, während Clémentine und Jonathan aus dem Haus ausziehen, vor dem passenderweise das Gerüst abgebaut wird. Paris dient diesem Roman nicht nur als Kulisse – die Stadt wird vielmehr selbst zur Protagonistin: Mit präzisem Blick zeigt Elkin, wie die Geschichte in Architektur und urbanen Strukturen fortlebt. Geglückt sind überdies die Beschreibungen der Sexszenen, nicht voyeuristisch, sondern angenehm zurückhaltend. Das Buch ist zudem ein Pageturner und vollbringt das Kunststück, anspruchsvolle psychoanalytische Überlegungen mit einem Plot und süffigem Schreibstil zu verknüpfen, der eher an einen flotten Unterhaltungsroman erinnert.
London: Random House UK Ltd / Chatto & Windus, 2024, 400 Seiten, engl. Ausgabe; die dt. Übersetzung erscheint im Februar 2025 unter dem Titel Fassaden bei Nagel und Kimche, Zürich.
Angela Merkel und Beate Baumann, Freiheit. Erinnerungen 1954–2021

Angela Merkel, 1991
Dass Angela Merkels Memoiren sehr umfangreich und zuweilen schwer lesbar seien, ist oft gesagt worden. Auch mir kam es streckenweise so vor, als würde ich die ein wenig zu ausführlich geratenen Protokolle ihres Arbeitsalltags als deutsche Kanzlerin lesen. Je detaillierter und technischer diese Aufzeichnungen ausfallen, desto mehr sieht man sich zum Überblättern verleitet. Eine redaktionelle Straffung wäre hier hilfreich gewesen. Völlig unzutreffend ist jedoch der in der Rezeption dieses Buches immer wieder auftauchende Vorwurf, dass Merkel in ihm nicht genug Selbstkritik übe. Das Gegenteil ist der Fall: Auf gefühlt jeder dritten Seite bereut sie eine frühere Formulierung, die ihr im Nachhinein unbedacht erscheint. Oder sie überlegt, ob sie aus heutiger Sicht anders hätte handeln müssen, als sie sich beispielsweise nicht zum Feminismus bekannte oder (noch problematischer aus meiner Sicht!) nicht für die Ehe von Homosexuellen stimmte. Sie legt also ein hohes Maß an kritischer Selbstreflexion an den Tag und hütet sich zudem vor Selbstgerechtigkeit, was das Buch auch für Leute wie mich interessant macht, die ihre Politik und mehr noch die der CDU größtenteils ablehnen. Auch Merkels schonungsloser Blick auf den Ausverkauf der DDR und auf die brutale Entwertung zahlreicher Arbeitsbiografien und die Auflösung von Betrieben durch die Treuhand nach der Wende zeugt von ihrer Bereitschaft, sich von früheren Haltungen zu distanzieren. In ihrem Rückblick auf ihre Jahre als Kanzlerin wird außerdem deutlich, wie viel scharfer Gegenwind ihr in ihrer eigenen Partei entgegenblies, vor allem natürlich nach der von ihr veranlassten Öffnung der Grenzen für Geflüchtete im Sommer 2015. Merkel macht klar, dass es in erster Linie SPD-Politiker*innen waren, mit deren Unterstützung sie damals rechnen konnte. Als Leserin kommt man immer wieder zu dem Schluss, dass sie einfach in der falschen Partei war. Die damaligen Versuche von Horst Seehofer, sie aufgrund ihrer Flüchtlingspolitik zu entmachten, werden von Merkel en détail wiedergegeben. Es verdient Respekt, wie sie die geballten Aggressionen der Männer ihres Parteiumfelds ertragen und abgewehrt hat, die sich von ihr als mächtiger Frau symbolisch kastriert fühlten.
Auch Privates kommt in diesem Buch zur Sprache, wenn auch nur kurz: Das Ende ihrer ersten Ehe wird mit wenigen Worten abgehandelt und über ihren zweiten Mann Joachim Sauer erfährt man lediglich, dass er bei einigen Veranstaltungen anwesend war und ein gemeinsamer Urlaub wegen politischer Krisen ausfallen musste. Ausführlicher nimmt Merkel jedoch auf ihre Zitteranfälle in der Öffentlichkeit Bezug, die ihre Osteopathin mit dem nachlassenden Druck nach der Entscheidung, sich aus der Politik zurückzuziehen, als Zittern aus Erleichterung erklärt habe. Merkels modische Vorliebe für bunte Kostüme finden ebenfalls Erwähnung, ihr Faible für Farbiges erklärt sie zum Beispiel mit ihrer Freude darüber, der Schwarz-Weiß-Tristesse der DDR entkommen zu sein. Durchgehend werden auch die Frauen in ihrem Umfeld gewürdigt, so etwa ihre langjährige Mitarbeiterin und Co-Autorin dieses Buchs, Beate Baumann, oder ihre Visagistin, die sie bis heute schminke und frisiere. Mit Blick auf die aktuellen Konflikte, wie etwa den Krieg in der Ukraine, gibt Merkel ausführlich Einblick in dessen Vorgeschichte und die zähen Verhandlungen mit Vladimir Putin vor der Annexion der Krim. Dabei wird klar, dass sie unter Politik nicht zuletzt das Aushandeln von Kompromissen versteht – falls nötig auch mit ungeliebten Autokraten. Statt Kontakte abzubrechen, habe sie sich immer um die Aufrechterhaltung von Kommunikation bemüht. Dass Merkel sich kaum von eigenen Befindlichkeiten oder Eitelkeiten hat steuern lassen, sondern von sachlichen Erfordernissen, wirkt wohltuend – vor allem angesichts eines sich zunehmend verbreitenden Politikstils, bei dem Affekte an die Stelle von Besonnenheit treten und selbstbezogenes Handeln die Idee eines verantwortungsvollen „Staatsdienens“ in Vergessenheit geraten lässt. Merkels Politikverständnis und mehr noch ihre fachliche Kompetenz auf zahlreichen Gebieten wünscht man sich nach der Lektüre dieses Buches auch dann zurück, wenn man mit ihrer Politik oft nicht einverstanden war.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2024, 736 Seiten.
Édouard Manet, Dans la Serre

Édouard Manet, “Dans la Serre,” 1879
Für einen Podcast wurde ich kürzlich darum gebeten, mir ein Bild aus der Sammlung der Nationalgalerie auszusuchen. Meine Wahl fiel auf Édouard Manets Dans la Serre (Im Wintergarten) – ein Gemälde aus dem Jahr 1879, das ich immer wieder aufsuche; so auch heute, an einem tristen und dunklen Januartag. Das Bild zeigt ein Paar, eine junge, ins Leere blickende elegant gekleidete Frau, die einem Modekatalog entstammen könnte, sowie eine hinter ihr stehende männliche Figur, die den Kontakt zu ihr sucht. Die Frau sitzt steif auf einer lang gezogenen schwarzen Bank, die das Bild vertikal strukturiert. Der Hintergrund ist von üppigen Pflanzen ausgefüllt. Dass die Porträtierte verheiratet ist, zeigt ihr beringter Finger. Der Finger des Mannes, der sich zu ihr beugt und von dem man nicht weiß, ob er sie belästigt oder vertraut mit ihr kommuniziert, ist ebenfalls beringt. In einer Hand hält er eine Zigarre, die in die Richtung der Frau weist und wie ein Stellvertreter phallischer Macht ins Bild tritt. Dass es sich hierbei um ein Porträt des Ehepaars Guillemet handelt, ändert nichts an der Zweideutigkeit dieser Szene. In einer Karikatur im Journal amusant jener Zeit wurde sie entsprechend als Angriff eines Verführers auf sein unschuldiges Opfer überzeichnet.
1879 im Pariser Salon ausgestellt, stieß das Bild aber weitgehend auf Ablehnung. Aus meiner Sicht kommt in ihm jedoch all das zusammen, was ich an Manets Malerei schätze. Er gehört zu den Maler*innen, die sich an den Gesetzen der Mode orientieren, und es ist deshalb kein Zufall, dass der Porträtierte Monsieur Guillemet der Besitzer eines damals angesehenen Modegeschäfts war. Seine Frau Jules galt als eine der elegantesten von Paris. Mit dem für Manet typischen Interesse an weiblichen Lebenswelten widmet er sich in diesem Bild den Details ihrer modischen Inszenierung. So ist der mit Federn besetzte Hut fluffig gelb gemalt; dem raffinierten grauen Kleid, dessen Rock sich in Falten über die Bank ausbreitet, schenkt Manet seine ganze malerische Aufmerksamkeit – und zwar mithilfe eines Pinselauftrags, der die Materialität der aufgetragenen grauweißen Farbe unterstreicht. Durch den starren Blick und die einstudierte Körperhaltung der weiblichen Figur wird demonstriert, wie gesellschaftliche Normen und Zwänge die Körper formen. Manets Figuren sind immer sichtbar inszeniert, ihre Lebendigkeit ist eine einstudierte. Besonders gelungen finde ich, wie die schwierige Kommunikation zwischen den Geschlechtern ins Bild gesetzt wird: Während die Frau wie abwesend erscheint, versucht der Mann, mit ihr in Kontakt zu kommen. Dass diese männliche Figur zudem eine gewisse Ähnlichkeit mit Manet aufweist, beweist einmal mehr, dass es ihm hier um einen Typus geht – den Typus des galanten Mannes, der vergeblich in weibliche Lebenswelten einzudringen versucht. Wie so oft bei Manet, werden auch in diesem Gemälde unterschiedliche Genres zusammengeführt: Es handelt sich um ein Porträt, das wegen der üppigen Pflanzen im Hintergrund zugleich fast ein Landschaftsbild ist. Nur wirken diese Pflanzen zugleich tapetenhaft und domestiziert, sie kommen sichtbar als Dekor zum Einsatz. Der Wintergarten, in dem das modische Paar hier posiert, ist wie so oft bei Manet ein Zwischenraum – ein Ort, an dem Innen und Außen ineinanderfließen. Manet ist malerisch daran interessiert, wie sich das Außen – also Konventionen, Normen, Zwänge – im Innern zeigt und wie umgekehrt der Aufritt seiner Figuren einen wertenden Blick von außen antizipiert. Auch dafür schätze ich ihn ungemein.
Alte Nationalgalerie, Berlin, „Sammlungspräsentation: Die Kunst des 19. Jahrhunderts“, Dauerausstellung.
Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022) und Angst und Geld: Ein Roman (Spector Books, 2024).
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