SIEGFRIED UNSELD, MARK BRADFORD, MARTINA HEFTER Seen & Read – von Isabelle Graw
Siegfried Unseld, Hundert Briefe: Mitteilungen eines Verlegers 1947–2002
Diese Briefe von Siegfried Unseld an seine Autor*innen haben es in sich. Sie zeugen von einem Verlegertypus, der inzwischen ausgestorben zu sein scheint. Unseld las nicht nur aufmerksam die Bücher seiner Autor*innen, er kritisierte sie auch sachkundig und verfasste pointierte Klappentexte. Dass sich ein*e Verleger*in derart intensiv inhaltlich engagiert, ist heute angesichts des ökonomischen Drucks, unter dem sie stehen, selten geworden. Das Schreiben der Klappentexte überlässt man beispielsweise zumeist den Autor*innen. Interessant an Unseld war zudem, dass er auf die meisten Forderungen seiner (zumeist männlichen) Autor*innen in Bezug auf Grafik, Titel, Vorschüsse oder Preisgestaltung einging. Er war allerdings auch gut darin, sie argumentativ von einem geplanten literarischen Vorhaben oder Buchtitel abzubringen. Doch wenn erfolgreiche Autor*innen wie Peter Handke stur blieben, fügte sich Unseld ihrem Willen. Die Briefe zeugen auch von den Anstrengungen, die er unternahm, um Autor*innen von einem Verlagswechsel abzuhalten. Handke zum Beispiel publizierte zwischendurch immer wieder im Residenz Verlag, was Unseld verärgerte und dem Autor zu einer starken Verhandlungsposition verhalf. In der Korrespondenz mit Unseld erwies sich Handke als guter Geschäftsmann, der immer wieder andere Preise oder Auflagen für seine Bücher einforderte. Seine Fixierung auf das Marktgeschehen lässt sich auch daran ablesen, dass er, wie Unseld protokollierte, seine Küche mit Spiegel-Bestsellerlisten tapezierte. Aus Genderperspektive sind Unselds Briefe jedoch eher niederschmetternd. Wie bereits angedeutet war sein Kosmos mit Ausnahme von Karin Struck oder Friederike Mayröcker weitgehend männlich. Letztere adressierte er in seinen Briefen mit einem vergleichsweise paternalistischen Ton. Margarete Mitscherlich suchte er davon zu überzeugen, nicht gemeinsam mit ihrem Mann zu publizieren – denn auf diese Weise würde ihre Stimme untergehen. Dass ihre Arbeit mindestens genauso zählen könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn.
Nach außen hin stand Unseld auch dann noch hinter seinen Autor*innen, wenn er mit ihrem Kurs – etwa mit dem Handkes zu Serbien – nicht einverstanden war. Seine Loyalität konnte allerdings auch problematisch werden, wie etwa angesichts von Martin Walsers infamer Paulskirchen-Rede, die Unseld in einem Brief an Ignatz Bubis verteidigte. Die Konkurrenzverhältnisse seiner Autor*innen untereinander suchte er hingegen auszugleichen. So stieg er auf das Lästern Handkes über die angeblich so schlechte Literatur von Thomas Bernhard gar nicht erst ein. Man erlebt Unseld in diesen Briefen auch als rastlosen Arbeiter – noch am Skilift anstehend hatte er Ideen, die schnell zu Papier gebracht wurden. Tragisch wirkt die Auseinandersetzung mit seinem Sohn Joachim, dem er zunächst schriftlich zusagte, ihn als Alleinerben einzusetzen, um ihn dann später mithilfe einer mit seiner zweiten Frau Ulla Berkéwicz gegründeten Stiftung auszubooten. Dass auch Unseld selbst unter dem Zerwürfnis mit seinem Sohn litt, klingt in den Briefen ebenfalls an.
Berlin: Suhrkamp, 2024, 468 Seiten.
„Mark Bradford: Keep Walking“
Es gibt zwei Themen, die in Mark Bradfords derzeit in den Rieckhallen des Hamburger Bahnhofs gezeigten Arbeiten immer wieder aufscheinen: zunächst das Motiv des Weitermachens und Vorwärtsgehens against all odds, das bereits im Titel der Ausstellung „Keep Walking“ anklingt. Die im hinteren Raum präsentierte Videoarbeit Niagara (2005) setzt stoisches und stolzes Weitergehen in Szene – zum Beispiel als Antwort auf rassifizierende Blicke im öffentlichen Raum. Sie zeigt Bradfords ehemaligen Nachbarn „Melvin“, einen Schwarzen Mann, der unbeirrt einen Boulevard in Los Angeles entlangläuft. Doch parallel zu dieser für zahlreiche Arbeiten Bradfords charakteristischen Pose der selbstbewussten Vorwärtsorientierung holt uns auch bei ihm immer wieder die Geschichte ein: etwa die der Great Migration oder der AIDS-Krise. Für die beiden großformatigen Gemälde I Don’t Know What I am (2024) und You Don’t Have to Tell Me Twice (2023), mit denen die Ausstellung fulminant einsetzt, hat Bradford beispielsweise Zugfahrpläne aus der Zeit zwischen 1910 und 1970 verwendet, als sechs Millionen Schwarze US-Amerikaner*innen aus den Südstaaten flüchteten. Mit ihren pastos herausragenden Zahlenkolonnen und aufgrund der sichtbaren Schichtung der Bildoberflächen muten diese Gemälde reliefartig an; als hätte sich die Geschichte der Great Migration materiell in ihnen abgelagert. Zugleich wirken ihre mehrlagigen Bildoberflächen aber auch auf- und abgerissen, vergleichbar den Affiches lacérées eines Raymond Hains. Diese negativen Décollage-Gesten scheinen mir eine formale Entsprechung der Gewalterfahrungen zu sein, die eine solche Massenflucht unter anderem mit sich bringt. Ein weiteres Beispiel für die Art und Weise, wie in Bradfords Werk Geschichte in die Gegenwart hineinragt, ist das Video Deimos (2015), in dem man braune und orangefarbene Räder in einem offenen Raum auf einem großformatigen Screen herumrollen sieht. Wie so oft bei Bradford ist auch diese Arbeit mit Musik unterlegt – genauer mit dem Disco-Hit „Grateful“, gesungen von Sänger und Queer-Ikone Sylvester (1947–1988), der an den Folgen einer HIV-Infektion verstarb. Laut Wandtext ist Deimos als Hommage an die berühmte Rollerdisco The Roxy zu lesen; die rollenden Räder sind also Rollschuhräder. Die Trauer über den Verlust des Verstorbenen geht hier mit der im Disco-Hit zelebrierten Dankbarkeit für „Loving, Living, Giving“ einher. Zuletzt noch ein Wort zu meinem Lieblingsbild Manifest Destiny (2023) – jenem überdimensionierten Gemälde in Kreuzform, das auf einem der von Bradford oft verwendeten merchant posters basiert. Einmal mehr sehen wir uns mit einer decollagierten und massiv geschichteten Bildoberfläche konfrontiert. Die Arbeit besteht aus drei Teilen, auf denen je ein Wort des Satzes „Johnny Buys Houses“ zu lesen ist. Im Rahmen einer Kunstausstellung erinnert dieser Satz an die Beziehung zwischen Immobilienbranche und Kunstwelt – zahlreiche Mitglieder letzterer agieren schließlich traditionell an vorderster Front der Gentrifizierung. Entscheidender ist jedoch, dass dieser „Johnny“ den armen Leuten ihre Häuser abzukaufen verspricht. Er ist also ein Stellvertreter des „Täters“ und steht für jene Personen, die die Not der Menschen ausnutzen oder Kapital aus ihrer Angst schlagen. Johnny ist Trump, wenn man so will. Sein Allerweltsname steht aber auch für die abstrakte Gewalt des Kapitalismus, dessen Strukturgesetz „Ausbeutung“ heißt. Bei Bradford tief in die Bildoberfläche eingelassen, demonstriert der Name Johnny zudem, dass auch Kunstwerke und Künstler*innen keineswegs „unschuldig“, sondern in kapitalistische Zusammenhänge eingebettet sind.
Hamburger Bahnhof, Berlin, 6. September 2024 bis 18. Mai 2025.
Martina Hefter, Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Der Titel dieses soeben mit dem Buchpreis ausgezeichneten Romans ist eine Hommage an Maxie Wanders DDR-Bestseller Guten Morgen, du Schöne (1977). Inhaltlich hat dieser Text viel mit Helga Schuberts Der heutige Tag: Ein Stundenbuch der Liebe (2023) gemein, denn wie Schubert schildert Hefter den Alltag mit einem pflegebedürftigen Mann. Nur ist Hefners Buch im Unterschied zu Schuberts in einer Sprache geschrieben, die die Grenze zur Unterhaltungsliteratur bewusst aufsucht. Originell ist vor allem Hefters Idee, zwei Welten miteinander zu fusionieren: Aus ihrer anstrengenden analogen Lebenswirklichkeit flüchtet sich die Protagonistin Juno allnächtlich in eine virtuelle Beziehung im digitalen Raum. Juno hat viel mit der Autorin gemein: Auch sie ist eine Performance-Künstlerin Anfang 50, die ihren Verpflichtungen im „steingrauen“ Leipzig nachgeht. Das heißt: Sie kauft für ihren an den Rollstuhl gefesselten Mann Jupiter ein, bringt ihn zum Arzt, schreibt Anträge für die Krankenkasse und bereitet zugleich Theateraufführungen vor und absolviert ihr Ballettprogramm. Nachts chattet sie mit einem Lovescammer namens Benu aus Nigeria. Obwohl dieser begreift, dass Juno sein Spiel längst durchschaut hat, verwickelt er sie in eine intensive Kommunikation. Der junge Mann berichtet von seiner prekären Situation in Nigeria, was Juno ihre vergleichsweise privilegierte vor Augen führt. Sie realisiert, dass ihr Komfort einen Preis hat, den unter anderem die Menschen in Nigeria bezahlen. Trotz ihrer Entschlossenheit, nicht zum Opfer des Lovescammers zu werden, genießt sie dessen Komplimente und Aufmerksamkeit. Thematisch kreist das Buch auch ums Altern, um die zunehmende Unsichtbarkeit einer Protagonistin, die sich fragt, ob es ihr Publikum seltsam findet, dass sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters immer noch selbst in ihren Performances auftritt. An einer Stelle wird Madonnas operiertes Gesicht gegen ihre misogynen Hater verteidigt, was ich besonders sympathisch fand. Das Thema Wechseljahre kommt hingegen zu meiner Überraschung gar nicht vor, obwohl es die chronische Schlaflosigkeit erklären könnte, unter der Juno leidet. Dafür wird ihre Zerrissenheit anschaulich geschildert – sie ist einerseits entschlossen, sich auf ihr „wirkliches“ Leben zu konzentrieren und erliegt doch immer wieder der Versuchung, nachzusehen, ob Benu ihr eine Nachricht geschrieben hat. Als er jedoch irgendwann verschwindet und Juno auch den nächsten Lovescammer gleich blockt, endet das Buch mit einem Alltag, der Fluchtversuche nur noch in Form von Ballettstunden zulässt.
Stuttgart: Klett-Cotta, 2024, 224 Seiten.
Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022) und Angst und Geld: Ein Roman (Spector Books, 2024).
Image credit: 1. © Rob Kulisek; 2. © Ruth Walz; 3. © Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Jacopo La Forgia, courtesy of Mark Bradford und Hauser & Wirth; 4. © Maximilian Gödecke