SEEN & READ – VON ISABELLE GRAW Nicole Seifert, Claude Monet, Caroline Darian

Nicole Seifert, „Einige Herren sagten etwas dazu“: Die Autorinnen der Gruppe 47

Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Günter Eich at a meeting of Gruppe 47, 1952
Für Leute wie mich, die sich in ihrem Leben häufig mit den misogynen Praktiken einiger Kollegen konfrontiert sahen, ist dieses Buch eine wahre Fundgrube. Denn es beschreibt die bis heute verwendeten Techniken, mit denen die Arbeit von Frauen in männlich dominierten Zusammenhängen abgewertet und/oder gänzlich unsichtbar gemacht wird. Schauplatz des Geschehens ist hier die Gruppe 47 – jener mehrheitlich aus männlichen Schriftstellern wie Günter Grass, Walter Jens, Martin Walser oder Günter Eich bestehende schriftstellerische Verbund der westdeutschen Nachkriegszeit, der sich regelmäßig an verschiedenen Orten zu Lesungen und anschließenden kritischen Diskussionen traf. Vereinzelt wurden auch Schriftstellerinnen vom selbst ernannten Chef der Gruppe, Hans Werner Richter, zu diesen Treffen eingeladen – nicht zuletzt mit dem Kalkül, dass dies der Gruppe zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen würde. Nicole Seiferts Studie über die Frauen der Gruppe 47 ist vor diesem Hintergrund hoch anzurechnen, dass ihr Fokus nicht nur auf den zu „Postergirls“ gemachten Frauen wie Ingeborg Bachmann oder Ilse Aichinger liegt. Gewürdigt werden auch weniger bekannte Autorinnen wie Gisela Elsner, Gabriele Wohmann, Barbara König, Helga M. Novak oder Elisabeth Plessen, die ebenfalls in der Gruppe lasen, deren Werke jedoch seither weitgehend in Vergessenheit gerieten. Die beliebteste Methode, mit der die Männer von den Arbeiten ihrer Kolleginnen ablenkten, war der Fokus auf ihr Äußeres. Seifert hat die entsprechenden sexistischen Kommentare zum Aussehen der lesenden Frauen zusammengetragen, die von einer gewaltigen Abwehr zeugen. Eben weil die schreibende Frau eine Bedrohung für die Männer darstellte, musste sie auf ihren „eigentlichen“ Platz des sexuellen Objekts zurückverwiesen werden. Eine andere Methode, mit der die Frauen in ihrem Elan ausgebremst wurden, war die überzogen vernichtende Kritik ihrer Texte, die oft dazu führte, dass sie völlig entmutigt und arbeitsunfähig abreisten. Seifert erläutert zudem, dass und wie die Texte zahlreicher Schriftstellerinnen gegen die selbst auferlegten Tabus der Gruppe verstießen; sie blendeten nicht, wie von Richter gefordert, die Vergangenheit und damit auch die Shoa aus und bedienten sich keiner nüchternen Sprache, sondern einer von den historischen Avantgarden der Vorkriegszeit inspirierten, die sich vom Unbewussten leiten ließ. Dass die Autorinnen die Geschichte nicht verleugneten und den von Richter geforderten Neuanfang verweigerten, trug Seifert zufolge zur Diskreditierung ihrer Arbeiten bei. Ein Problem an ihrer ansonsten sehr erhellenden Studie besteht darin, dass die Arbeiten von sämtlichen Schriftstellerinnen durchweg hochgelobt werden. Deren Texte, ob Prosa oder Lyrik, werden lediglich kurz zitiert, niemals einer grundlegenden literarischen Analyse unterzogen. So als verstünde sich die Bedeutung dieser Texte von selbst, als wären sie über jeden Zweifel erhaben. Dass sexistische Strukturen im Prozess der Marginalisierung dieser Schriftstellerinnen eine große Rolle spielten, wird von diesem Buch zwar überzeugend demonstriert. Aber ich denke, man müsste die Texte dieser Schriftstellerinnen genauer lesen und eventuell sogar einräumen, dass einige von ihnen weniger gelungen sind als andere, die Seifert zu Recht als Wegbereiterinnen der Autofiktion feiert.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2024, 352 Seiten.
„Monet und die impressionistische Stadt“

Claude Monet, “Saint Germain l’Auxerrois,” 1867
Als ich kürzlich die in der Alten Nationalgalerie im Rahmen der Ausstellung „Monet und die impressionistische Stadt“ gezeigten Stadtbilder von Claude Monet betrachtete, fiel mir die in ihnen aufscheinende soziologische Perspektive auf. In Gemälden wie Quai du Louvre oder Saint-Germain l’Auxerrois (beide 1867) liegt der Akzent auf urbanen und architektonischen Strukturen, die das Leben der Menschen überformen und bestimmen. Letztere treten hingegen als miniaturisierte Stellvertreter*innen eines Bürgertums auf, denen individuelle Züge fehlen. Diese Figuren verfügen jedoch durchaus über spezifische Zeichen bürgerlicher Eleganz – die Männer tragen Zylinder und Anzüge, während die Frauen mit Sonnenschirmen und aufwendigen Kopfbedeckungen unterwegs sind, die Monet farblich akzentuiert. So finden sich auf den Köpfen einiger Damen zum Beispiel türkis- oder beigefarbige Flecken, mit denen der Maler die Materialität der Farbe unterstreicht. In zahlreichen Texten des informativen Katalogs wird der „erhöhte Standpunkt“ erwähnt, den Monet für diese Bilder wählte. Er hatte den Museumsdirektor des Louvre, Émilien de Nieuwerkerke, schriftlich um Zugang zum Balkon des Louvre gebeten, um seine Parisansichten aus dieser Perspektive zu malen. Die Kunsthistorikerin Frouke Van Dijke deutet diese Positionierung treffend als Monets Entschluss, den alten Meistern buchstäblich „den Rücken zuzukehren“, um „das moderne Leben auf der Straße“ darzustellen. Sein soziologisches Interesse an diesem Leben zeigt sich auch in der Sorgfalt, mit der er das damals neue Phänomen der Werbung im öffentlichen Raum malerisch festhielt. Das Motiv der Plakatsäulen erlaubte ihm den Einsatz von Primärfarben. Auch öffentliche Pissoirs, die Bouquinisten an der Seine, dahineilende Kutschen sowie flanierende Personen setzte er mit einem feinen Gespür für die zunehmende Geschwindigkeit des Kapitalismus ins Bild. Die dicht gedrängten Häuserreihen aus Kalksandstein am Ufer der Seine sind in Quai du Louvre keineswegs nur Kulisse. Im Gegenteil: In ihrer Ballung und durch ihre zentrale Platzierung im Bild erscheinen diese Häuser wie Protagonisten. Im „steinernen Paris“, das aus dem gewaltigen Umbau im Zuge der Haussmannisierung resultierte, türmten sich diese Häuser geradezu vor den Menschen auf und bestimmten ihre Lebenswelt. Besonders deutlich lässt sich Monets Betonung der Macht neuer urbaner Strukturen an Saint-Germain l’Auxerrois ablesen – einem Bild, dessen Hauptdarstellerin die titelgebende Kirche ist. Ihr unbebauter Vorplatz und die ihn bevölkernden Personen wirken im Vergleich zur Kirche (und zu den Bäumen im Bild) winzig und vernachlässigbar. Monet demonstriert, wie sich das öffentliche Leben in Paris in Folge der „Grands Travaux“ des Barons Haussmann neu organisierte. So wurden die neu entstandenen großen Boulevards eher vom Bürgertum frequentiert, während die Arbeiterklasse aus dem Stadtbild verschwand. An zwei Gemälden von Baustellen (von Félix Buhot und Johan Barthold Jongkind), die Teil der Ausstellung sind, kann man das Ausmaß der Umgestaltung studieren, die große Wunden ins Stadtbild rissen und neue Strukturen schufen, die das Leben der Individuen fortan bestimmten.
Auch das bemerkenswerte Gemälde Rue Halévy, vue d’un balcon (1877) von Gustave Caillebotte wird in dieser Ausstellung mit den Werken Monets kombiniert. Es weist ebenfalls einen erhöhten Standpunkt des Künstlers auf, der die bläuliche Ansicht der Straße und der umliegenden Häuser vom Balkon eines Haussmann’schen Gebäudes aus malte. Die massiv anmutende Architektur wirkt abstrakt, blockhaft und bedrohlich. Der Maler deutet sie nur schemenhaft an. Allein die den Blick auf die Häuser partiell verstellende Balkonpflanze verweist auf die Position von Caillebotte, der diese menschenleere Stadtszene – offenkundig von Berthe Morisot inspiriert – in pastelligen Crèmetönen malte. Morisots Bilder fehlen leider in dieser Ausstellung. Dafür kann man sich an Camille Pissarros L’Avenue de l’Opéra (1898) erfreuen, das den neu entstandenen Platz vor der Oper in diffusem Licht zeigt. Das von Haussmann sanierte Gebäude verschwindet in der Ferne, wohingegen dem Vorplatz mit seinem geschäftigen Treiben alle Aufmerksamkeit gilt. Aber auch in diesem Bild bleiben die Figuren nur umriss- und schemenhaft angedeutet, zuweilen mutieren sie zu grauen Farbtupfern, wenn sie als „Masse“ den Boulevard entlangeilen. In diesem Zusammenhang muss ein ebenfalls in der Ausstellung präsentiertes späteres Gemälde von Henri Matisse, Quai Saint-Michel (1916), erwähnt werden, das die Bildsprache der Impressionist*innen ins Abstrakte treibt und die Kirche Notre Dame wie einen großen, unförmigen Klumpen im Niemandsland auftreten lässt. Schade nur, dass die großartige Serie der Ansichten des Gare Saint-Lazare von Claude Monet aus dem Jahr 1877 nicht gezeigt wird. Diese Bahnhofsbilder belegen nämlich einmal mehr, wie sehr sich Monet für das vom verbesserten Schienenwesen beschleunigte Tempo des Kapitalismus interessierte. Denn neue Bahnhöfe und Verkehrswege ermöglichten natürlich auch den verstärkten Transport von und Handel mit Kunst. Monet ließ Bahnhöfe stets vom Dampf der Locks durchzogen sein, so als wollte er daran erinnern, dass sich über den Kapitalismus in diesem Stadium kein Überblick verschaffen lässt. Da wir alle eingelassen sind in dieses System, ist unser Blick darauf zwangsläufig vernebelt.
Alte Nationalgalerie, Berlin, 27. September 2024 bis 26. Januar 2025.
Caroline Darian, Und ich werde dich nie wieder Papa nennen

Gathering in support of Gisèle Pelicot, September 2024
Bemerkenswert an diesem Buch von Caroline Darian – der Tochter von Gisèle Pelicot – ist vor allem das darin erstellte Täterprofil ihres Vaters. Darian beschreibt ihn als einen nach außen hin fürsorglich wirkenden Familienmenschen, der jedoch beruflich gestrandet war. Man könnte darüber spekulieren, ob diese berufliche Kränkung vielleicht eine der Triebfedern seiner gewaltvollen patriarchalen Machtausübung war. Denn Darian beschreibt ihren „Erzeuger“ als eine Art Hasardeur, dessen Business-Initiativen immer wieder im Sande verliefen und der sich wiederholt Geld von seiner Tochter leihen musste. Vor diesem Hintergrund liegt die These nahe, er wollte sich an seiner vergleichsweise gut verdienenden Frau Gisèle für diese Demütigungen rächen, indem er sie betäubte, dadurch gefügig machte und mindestens 80 Männern zur Vergewaltigung überließ. Dass er dieses grausame Geschehen, wie Darian beschreibt, auch noch filmte, lässt sich dahingehend deuten, dass er diese „Aktion“ dokumentieren und für sich als „Erfolg“ in seinem nicht gerade von Erfolgen gekrönten Leben verbuchen wollte. Erst im Rückblick realisiert Darian, wie sich in einzelnen Elementen seines punktuell dysfunktionalen Verhaltens als Familienvater Verhaltensweisen eines perfiden Gewalttäters erkennen lassen. So wird ihr zum Beispiel die Tatsache, dass ihre Mutter vom Vater zunehmend sozial isoliert wurde, wodurch dieser seine Herrschaft über sie zementieren konnte, erst im Nachhinein bewusst. Oder dass eine Freundin der Mutter, die von Dominique Pelicot sexuell belästigt worden war und Gisèle davon erzählte, auf Initiative des Täters sogleich aus dem Freundeskreis der Pelicots verbannt wurde. Dass Gisèle Pelicot immer wieder unter Gedächtnisausfällen und Absencen litt, die aus der heimlichen Verabreichung starker Betäubungsmittel durch ihren Mann resultierten, habe der Vater ebenso heruntergespielt wie ihre gynäkologischen Probleme, die eine Folge der von ihm organisierten (Gruppen-)Vergewaltigungen waren. Oft hinderte er seine Kinder daran, mit ihrer Mutter zu sprechen, von der er dann behauptete, sie brauche Ruhe und schliefe. Darian erwähnt aber auch, wie schwer es ihr zunächst fiel, den einst geliebten Vater loszulassen und zu verdammen. Vor allem die Entdeckung der Polizei von Fotos, die er auch von ihr in fremder Unterwäsche schlafend gemacht hatte, besiegelten den endgültigen Bruch der Tochter mit ihrem „Erzeuger“. Bei ihrer Mutter dauerte es etwas länger, bis sie damit aufhörte, an die guten Seiten ihres Mannes zu erinnern und ihm warme Kleidung ins Gefängnis zu schicken. Wie eine solch monströse Tat die Familie spaltet und traumatisiert, wird von Darian überzeugend geschildert. Ihr Sohn musste zur Therapie, zwischen den Geschwistern herrschte eine Weile Funkstille, weil nicht alle die Briefe des Vaters ignorieren wollten. Darian beschreibt, dass ihr vor allem das Aufschreiben des Traumas dessen Verarbeitung ermöglichte. Ihr Buch endet vor dem Beginn des mittlerweile abgeschlossenen Prozesses gegen Dominique Pelicot und seine Mittäter, was ich bedauernswert finde, denn mich hätte die Perspektive der Tochter auf den Verlauf des Verfahrens sehr interessiert.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2025, 224 Seiten.
Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022) und Angst und Geld: Ein Roman (Spector Books, 2024).
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