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SEEN & READ – VON ISABELLE GRAW Rosemarie Trockel, Adèle Yon, Matisse et Marguerite

In der Galerie Gladstone in New York zeigt Rosemarie Trockel derzeit neue Arbeiten, in deren räumlicher Inszenierung und Farbreduktion Isabelle Graw unsere in vielerlei Hinsicht düstere Gegenwart anklingen sieht. Adèle Yon hat ein Buch geschrieben, das in einem von Graw hervorgehobenem Gengremix (Dissertation und Memoir!) vom Leben ihrer Urgroßmutter erzählt, an der eine misogyn motivierte Lobotomie vorgenommen wurde. Im Musée de L’Art Moderne in Paris erkundet man mit „Matisse et Marguerite – Le regard d’un père“ anhand von Portraits eine facettenreiche Vater-Tochter-Beziehung, die – wie unsere Herausgeberin zeigt – weit über die titelgebende Perspektive des väterlichen Blicks hinausweist.

„Rosemarie Trockel: The Kiss“

“Rosemarie Trockel: The Kiss,” Gladstone Gallery, New York, 2025

“Rosemarie Trockel: The Kiss,” Gladstone Gallery, New York, 2025

Anlässlich ihrer Ausstellung „The Kiss“ hat Rosemarie Trockel die beiden Räume der Gladstone Gallery in einem dunklen Grauton anstreichen lassen, der bedrückend und elegant zugleich wirkt. Diese Farbe greift die des Bodens auf und verwandelt die Galerieräume in eine Mischung aus düsterem Bolia-Showroom und klaustrophobischer Spa-Ruhezone. Die gedimmte Beleuchtung scheint die Zeit anzuhalten, sodass man sich als Besucher*in trotz der unheimlichen Atmosphäre zum längeren Verweilen eingeladen fühlt. Sowohl an den Wänden als auch auf dem Boden und an der Decke sind Objekte platziert worden, die sich offenkundig von den mit Trockels Werk üblicherweise assoziierten Arbeiten – also zum Beispiel farbigen Strickbildern, Herdplatten oder glänzenden Keramikarbeiten – unterscheiden. (Zur Ausstellung gehört, nebenbei bemerkt, ein zweiter Teil mit früheren Arbeiten in der New Yorker Filiale der Galerie Sprüth Magers, auf den ich aus Platzgründen jedoch nicht eingehen kann.) Zwar kommunizieren die bei Gladstone gezeigten neueren Arbeiten durchaus mit Trockels älteren Motiven und Verfahren, doch schon durch ihr durchgehend reduziertes Farbspektrum – Schwarz-Weiß- und Grautöne – wirken sie abstrakter, so als wäre ihnen ihre frühere Lebendigkeit ausgetrieben worden. Es dominiert eine ernste Grisaille-Atmosphäre, die mir sehr gut zu der augenblicklichen Situation in den USA zu passen scheint. Vor allem bei der Duchamp-haft von der Decke hängenden grauen Gefängniszellentür inklusive Essenklappe (Bird’s Eye View, 2025) stellt sich sogleich die Assoziation „Einschließungsmilieu“ ein. Diese in Aluminium gegossene Tür symbolisiert nicht nur das industriell organisierte Inhaftierungssystem in den USA, sondern vor allem die derzeitige Bedrohung durch eine Regierung, die Menschen willkürlich einsperrt oder deportiert. Wie ein Fallbeil hängt dieses Readymade nun über den Köpfen der Besucher*innen, so als wolle es daran erinnern, dass es jede*n treffen kann. Auch die Skulptur The Kiss (2025), ein weiteres künstlerisch bearbeitetes Readymade, das der Ausstellung ihren Titel gab, ist voller ästhetischer und gesellschaftspolitischer Anspielungen. Ebenfalls in Aluminium gegossen verschmelzen hier zwei Fernsehbildschirme symbiotisch miteinander und lassen sich als Allegorie für die dark flipside symbiotischer Beziehungen lesen, die schon in Gustav Klimts am Abgrund stehendem Liebespaar in Der Kuss (1908/09) anklang. Man denkt beim Anblick der miteinander verschmelzenden Bildschirme auch unwillkürlich an die innige Beziehung, die wir zu unseren Screens unterhalten. Wenn wir zum Beispiel wie Verliebte unausgesetzt auf unser Handy starren, zieht die soziale Wirklichkeit an uns vorbei. Als Hommage an die analogen Museumsaktionen der Klimaaktivist*innen lässt sich hingegen Kerfuffle (2024) verstehen – ein weißes Wandobjekt in einer Plexiglasbox, dessen vier runde Scheiben morphologisch auf Trockels Herdplattenmotive anspielen. In besagter Plexiglasbox steckt jedoch ein Schwarz-Weiß-Foto, das eine mit Farbe bespritzte Klimaaktivistin zeigt, die vor einem Selbstporträt von Andy Warhol von einem Polizisten abgeführt wird. Obwohl die Kunst bei dieser Aktion offenkundig nicht zu Schaden kam, wird sie wie eine Terroristin behandelt. Auch Gauge (2025) – ein zweiteiliges hellgraues Bild mit leblos anmutender Oberfläche – gleicht einer Abstraktion von Trockels monochromen Strickbildern, jedoch unter Verzicht auf deren Suggestion von Lebendigkeit. In formalästhetischer Hinsicht ist es das Prinzip der Dopplung als Wiederholung, das in dieser Ausstellung regiert: Nicht nur werden ältere Formensprachen wiederholt und abgewandelt, zahlreiche Arbeiten treten zudem im Doppelpack auf: zwei Bildhälften, zwei Bildschirme oder zwei Porträts derselben Person. In diesen Dopplungen ist das Repetitive natürlich impliziert, manche von Trockels Arbeiten scheinen vor allem um die im Zuge der Wiederholung vergehende Zeit zu kreisen. Auch die an einen barocken Spiegel erinnernde Keramikarbeit Time Is Irresistible (2017) demonstriert, dass man sich im Laufe der Zeit im Spiegel nicht mehr zu erkennen vermag. Mit ihrer roten Farbe scheint diese ältere Arbeit inmitten der schwarz-weißen Arbeiten als deren pulsierendes Herz zu fungieren. Dass die Zeit mit dem Älterwerden scheinbar immer unbarmherziger voranschreitet, klingt auch in Trockels Sofaskulptur mit integrierter tickender Uhr Bet Against Yourself (2004/2024) an. Anstelle von Federn weist dieses Plexiglassofa zudem die Heizelemente eines Ofens auf, wodurch erneut Trockels Herdplattenobjekte evoziert werden. Darüber hinaus fungiert das Sofa als Display für eine Plattensammlung – neben ausgewählten Covern von Kraftwerk oder Yoko Ono, die wie integrierte Porträts funktionieren, findet sich ein von Andy Warhol gestaltetes Magazincover aus dem Jahre 1951, das für einen Bericht über Drogensucht und Kriminalität entstand, der den auf heutige Verhältnisse übertragbaren Titel „The Nation’s Nightmare“ trägt. Einmal mehr ist es Trockel gelungen, persönliche Vorlieben (Warhol) in einen gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Resonanzraum zu überführen. Auf ein Update des Historischen zielt auch ihre Serie Blind Mother (2023/2025): Porträts von jungen Menschen, die auf den ersten Blick an die Ästhetik der Fotos von Wolfgang Tillmans erinnern. Es handelt sich um eine auf älteren Arbeiten der Künstlerin basierende Serie, die sie mithilfe von KI in Schwarz-Weiß-Porträts von avatarhaften, aufgrund ihres Oszillierens zwischen Leblosigkeit und Lebendigkeit unheimlich wirkenden Wesen verwandelt hat. Zuletzt sind es in meinen Augen zwei Porträts mit dem Titel Ally (beide 2025), die einen Freund von Trockel (Andreas Osarek) mit verbundenem Ohr im Profil zeigen, in denen sich das in dieser Ausstellung auf dem Spiel stehende exemplarisch verdichtet: Auch hier der Rückgriff auf Schwarz-Weiß für düstere Zeiten plus die Verwendung einer an Man Ray erinnernden Ästhetik, durch die die dargestellte Figur irgendwie abstrakt und leblos wirkt. Einmal mehr wird das Motiv verdoppelt, wodurch die vergehende Zeit ins Spiel kommt. Und dieser Mann mit verletztem Ohr lässt sich darüber hinaus auch als Stellvertreter für Vincent van Gogh und all jene ansehen, die unter der gegenwärtigen Weltlage leiden.

Gladstone Gallery, New York, 7. Mai bis 1. August 2025.

Adèle Yon, Mon vrai nom est Elisabeth

Adèle Yon

Adèle Yon

Schon auf formaler Ebene ist dieses Buch außergewöhnlich, da es sich sowohl um die Dissertation als auch um ein Memoir der Autorin handelt. Entsprechend sind unterschiedliche Textsorten wie in einer Montage miteinander kombiniert worden, sodass die Lebensgeschichte von Yons Urgroßmutter Betsy nicht nur erzählt, sondern auch in Form von Briefen der Großeltern oder transkribierten Interviews mit Familienmitgliedern dokumentiert wird. Rechercheergebnisse und Lebensbericht fließen also ineinander. Zudem lässt Yon ihre Leser*innen am Fortgang ihrer Forschungsarbeit und an ihrer eigenen Situation während des Schreibens teilhaben.
Es ist das Leben besagter Urgroßmutter namens Betsy, dem sie auf derart methodisch raffinierte Weise nachgeht – ein Leben, das mehrstimmig und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Von dieser Urgroßmutter, die eigentlich Elisabeth hieß, weiß die Autorin zu Beginn ihrer Untersuchung im Grunde nur, dass sie irgendwie „schizophren“ war und einer Lobotomie unterzogen wurde, jenem neurochirurgischen Eingriff, bei dem die Nerven in der vorderen Gehirnhälfte durchtrennt werden. In Yons Familie wurde bis auf spärliche Informationen ein Mantel des Schweigens über diese „verrückte“ Urgroßmutter gelegt. Nur den jüngeren Frauen wurde zuweilen die Warnung mit auf den Weg gegeben, dass sie sich vor Drogen in Acht nehmen müssten. Denn aufgrund einer genetischen Disposition, die sich an Betsy gezeigt habe, seien speziell die Frauen in der Familie psychisch labil. Bei Yon bewirkt diese Warnung die Befürchtung, bei jeder mentalen Krise wie ihre Urgroßmutter psychisch krank zu werden. Sie beschließt, deren Lebensgeschichte zu rekonstruieren, und taucht in die gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen ein, denen Betsy in der Nachkriegszeit ausgesetzt war. So entwirft Yon eine Geschichte der Misogynie, die sie am Beispiel ihrer Urgroßmutter erzählt. Ihre Recherche führt zu dem Ergebnis, dass es vor allem unangepasste und rebellische Frauen waren, die in den 1940er und 1950er Jahren eine Lobotomie über sich ergehen lassen mussten, in deren Folge sie zwangsläufig gefügiger und angepasster wurden. Auch Betsy verlor nach dem Eingriff Yon zufolge ihre Wut und ihre Handlungsfähigkeit. Vor der Lobotomie hatte sie noch aufbegehrt, sich etwa gegen ihren brutalen Ehemann André gewehrt und laute Szenen gemacht – bis der sie dazu zwang, sich einer Lobotomie zu unterziehen, damit sie „gesund“ würde. Speziell die Passagen über diesen Eingriff, der in der Nachkriegszeit durchaus gängig war, haben die analytische Kraft von Foucaults Die Geburt der Klinik (1963). Yon rekonstruiert nämlich auch die unmenschlichen Bedingungen, unter denen ihre Urgroßmutter und zahlreiche andere Frauen damals in psychiatrischen Anstalten untergebracht waren. Als Betsy in den 1960er Jahren entlassen wurde, lebte ihr Mann längst mit einer anderen Frau zusammen, was sie nicht verkraftete. Sie kehrte zurück in ihr Elternhaus, in dem sie nicht gerade begeistert aufgenommen wurde. Zu ihren Kindern hatte sie nie ein enges Verhältnis aufbauen können, sodass sie irgendwann einsam starb. Stellvertretend für alle Frauen, die in den 1940er und 1950er Jahren gegen das Patriarchat aufbegehrten und deshalb pathologisiert, unter Medikamente gesetzt und/oder eingesperrt wurden, hat Yon ihrer Urgroßmutter mit diesem Buch ein Denkmal gesetzt. Es ist mitreißend geschrieben und hält die Spannung auch dann noch, wenn es seitenlang auf Archivmaterial zurückgreift. Mit diesem Erstling ist der Autorin ein großer Wurf gelungen!

Les Éditions du sous-sol, 2025, 400 Seiten.

Matisse et Marguerite – Le regard d’un père“

Henri Matisse, “Marguerite endormie,” 1920

Henri Matisse, “Marguerite endormie,” 1920

In den Gemälden dieser Ausstellung lassen sich die Höhen und Tiefen einer Vater-Tochter-Beziehung ablesen. Denn hier wurden sämtliche Porträts versammelt, die Henri Matisse im Laufe seines Lebens von seiner Tochter Marguerite gemalt hat. Schon auf den ersten Blick fällt auf, wie unterschiedlich diese Porträts in puncto Malweise und Stil ausfallen. Es wird deutlich, dass Matisse mit dem Motiv seiner Tochter auch deshalb so radikal experimentell verfahren konnte, weil es ihm vertraut und fremd zugleich war. Schon ein frühes Kinderbild, Marguerite (1901 oder 1906), das die Tochter unmittelbar nach einem operativen Eingriff (einer Tracheotomie) zeigt, wirkt erstaunlich unfertig und skizzenhaft und zugleich ausgesprochen präzise. Das Gesicht des Kindes hat durch die weiß-cremige Farbe etwas Maskenhaftes, als habe der Vater seine eigene Tochter nicht wiedererkannt. Sowohl ihr gestreiftes Kleid als auch der landschaftsartig wirkende Hintergrund sind nur angedeutet und nicht zu Ende gemalt worden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sich der postoperative Schock des Kindes auf den malenden Vater übertragen hat, dass Matisse den Anblick seiner von der OP gezeichneten Tochter kaum ertragen konnte und sich deshalb auf ihre gefalteten Hände konzentrierte, die durch aufgehäufte Fleischfarben das visuelle Punctum dieses Gemäldes bilden. Zur selben Zeit entstand jedoch auch eine leicht hingeworfene und impressionistisch anmutende Szene, Intérieur à la fillette (La Lecture) (1905/1906), für die Matisse die lesende Marguerite wie ein Objekt an einem Tisch mit Stillleben platziert hat. Er lässt die Figur seiner Tochter hier in einem Farbenmeer aufgehen, so als würde sie seinem malerischen Projekt demonstrativ untergeordnet. Mein persönliches Lieblingsbild Marguerite, Collioure, hiver 1906–1907 (1907), das sich lange Zeit im Besitz von Pablo Picasso befand, geht in puncto Instrumentalisierung der Tochter zu malerischen Zwecken noch weiter. Marguerite tritt in diesem Porträt wie eine byzantinische Ikone vor dunkelgelbem Hintergrund auf – Matisse lässt die eigene Tochter zum Archetyp mutieren. Doch obwohl er hier von Marguerite abstrahiert, sie in eine abstrakte Chiffre verwandelt, versieht er sie zugleich mit ihrem persönlichsten Kennzeichen – jenem schwarzen Halsband, unter dem sie seit der Tracheotomie ihre OP-Narbe verbarg und das sie auf zahlreichen Porträts ihres Vaters als „Marguerite“ (oder wahlweise als „Margot“) ausweist. Matisse hat in dieses Bild oben links sogar den Namen seiner Tochter in Kinderschrift hineingemalt, so als wollte er sichergehen, dass die Verbindung zu seinem Gegenstand nicht abreißt. Die faktische Abwesenheit der Porträtierten wird also dadurch kompensiert, dass dieses Bild sichtbar den Namen seiner Tochter trägt. Auch heute noch gewagt wirkt Tête blanche et rose (1914/1915) – ein Porträt, in dem sich der Kopf von Marguerite mithilfe von schräg verlaufenden schwarzen Balken und pink-blauen Streifen in eine kubistische Collage verwandelt. Aus heutiger Sicht scheint dieses Ausnahmebild zudem das rotzige Spiel mit einer primitivistischen Ästhetik der „jungen Wilden“ vorwegzunehmen. Dank seiner komplexen Beziehung zu seiner Tochter konnte sich Matisse auf kubistisches Terrain vorwagen – zu dem Preis, dass ihr Gesicht einer zerschnittenen Fläche gleicht. Es ist darüber hinaus interessant zu verfolgen, wie ihm die Tochter im Zuge ihres Erwachsenwerdens trotz aller Vertrautheit immer mehr als Fremde gegenüberstand. So hatte Matisse „Mademoiselle Matisse“ mehrfach in einem Mantel mit Schottenmuster gemalt, und dieser Mantel, dem die Gemälde ihre dynamischen Gitterstrukturen verdanken, steht meines Erachtens sinnbildlich für den Versuch, eine Figur malerisch einzufangen, die sich diesem Projekt zunehmend entzieht. Marguerite wirkt auf eine Art ungreifbar auf diesen luftigen und nicht zu Ende gemalten Porträts (zum Beispiel in Mademoiselle Matisse en manteau écossais,1918), als ließe sie sich nicht festschreiben. Als Figur kann Matisse sie nur noch skizzenhaft andeuten, aber nicht bildlich fixieren. Wenn Marguerite schläft – und an dieser Stelle sei mein zweites Lieblingsbild Marguerite endormie, Étretat, été 1920 erwähnt –, wirkt sie mit ihrem madonnenhaft-wächsern gräulich gemalten Gesicht wie eine Tote, der man fassungslos gegenübersitzt. Sie ist dem Vater auch deshalb so fremd, weil sie ihm einmal so vertraut war. Die erste Phase der Marguerite-Bilder endete um 1924 – zu der Zeit, als Marguerite den Kritiker Georges Duthuit heiratete. Es folgte eine lange Porträtpause, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs andauerte. Als Marguerite, die sich in der Résistance engagiert hatte und der Deportation knapp entgangen war, zu ihrem Vater nach Nizza zurückkehrte, erzählte sie ihm von ihren schrecklichen Erlebnissen. Er, der sich für ein bürgerliches Leben ohne politisches Engagement entschieden hatte, verzichtete in den Porträts seiner Tochter von nun an auf Farbe und fertigte Zeichnungen, in denen sie zum ersten Mal als souveränes Gegenüber erscheint. Der Verzicht auf Farbe scheint mir dem Versuch gleichzukommen, zum Wesen der Tochter vorzudringen, die mehr riskiert und erlebt hat als er. Zuletzt sei noch angemerkt, dass Marguerite selbst als Malerin und auch als Modedesignerin gearbeitet hat. Dankenswerterweise werden in dieser Ausstellung sowohl ihre fauvistisch anmutenden Selbstporträts als auch Entwürfe von Kleidern und Mänteln aus den 1930er Jahren gezeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschrieb sie sich jedoch ausschließlich dem Werk ihres Vaters, fungierte als dessen Agentin und produzierte seinen ersten Catalogue Raisonné. Der kreative und aktive Anteil dieser Tochter am Werk ihres Vaters kann also gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Musée de L’Art Moderne, Paris, 4. April bis 24. August.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022) und Angst und Geld: Ein Roman (Spector Books, 2024).

Image credits: 1. Rob Kulisek; 2. Courtesy Gladstone Gallery ; 3. ® Charlotte Krebs, Courtesy Julliard – éditions du sous-sol ; 4. Courtesy Musée d’Art Moderne de Paris