In den Gemälden dieser Ausstellung lassen sich die Höhen und Tiefen einer Vater-Tochter-Beziehung ablesen. Denn hier wurden sämtliche Porträts versammelt, die Henri Matisse im Laufe seines Lebens von seiner Tochter Marguerite gemalt hat. Schon auf den ersten Blick fällt auf, wie unterschiedlich diese Porträts in puncto Malweise und Stil ausfallen. Es wird deutlich, dass Matisse mit dem Motiv seiner Tochter auch deshalb so radikal experimentell verfahren konnte, weil es ihm vertraut und fremd zugleich war. Schon ein frühes Kinderbild, Marguerite (1901 oder 1906), das die Tochter unmittelbar nach einem operativen Eingriff (einer Tracheotomie) zeigt, wirkt erstaunlich unfertig und skizzenhaft und zugleich ausgesprochen präzise. Das Gesicht des Kindes hat durch die weiß-cremige Farbe etwas Maskenhaftes, als habe der Vater seine eigene Tochter nicht wiedererkannt. Sowohl ihr gestreiftes Kleid als auch der landschaftsartig wirkende Hintergrund sind nur angedeutet und nicht zu Ende gemalt worden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass sich der postoperative Schock des Kindes auf den malenden Vater übertragen hat, dass Matisse den Anblick seiner von der OP gezeichneten Tochter kaum ertragen konnte und sich deshalb auf ihre gefalteten Hände konzentrierte, die durch aufgehäufte Fleischfarben das visuelle Punctum dieses Gemäldes bilden. Zur selben Zeit entstand jedoch auch eine leicht hingeworfene und impressionistisch anmutende Szene, Intérieur à la fillette (La Lecture) (1905/1906), für die Matisse die lesende Marguerite wie ein Objekt an einem Tisch mit Stillleben platziert hat. Er lässt die Figur seiner Tochter hier in einem Farbenmeer aufgehen, so als würde sie seinem malerischen Projekt demonstrativ untergeordnet. Mein persönliches Lieblingsbild Marguerite, Collioure, hiver 1906–1907 (1907), das sich lange Zeit im Besitz von Pablo Picasso befand, geht in puncto Instrumentalisierung der Tochter zu malerischen Zwecken noch weiter. Marguerite tritt in diesem Porträt wie eine byzantinische Ikone vor dunkelgelbem Hintergrund auf – Matisse lässt die eigene Tochter zum Archetyp mutieren. Doch obwohl er hier von Marguerite abstrahiert, sie in eine abstrakte Chiffre verwandelt, versieht er sie zugleich mit ihrem persönlichsten Kennzeichen – jenem schwarzen Halsband, unter dem sie seit der Tracheotomie ihre OP-Narbe verbarg und das sie auf zahlreichen Porträts ihres Vaters als „Marguerite“ (oder wahlweise als „Margot“) ausweist. Matisse hat in dieses Bild oben links sogar den Namen seiner Tochter in Kinderschrift hineingemalt, so als wollte er sichergehen, dass die Verbindung zu seinem Gegenstand nicht abreißt. Die faktische Abwesenheit der Porträtierten wird also dadurch kompensiert, dass dieses Bild sichtbar den Namen seiner Tochter trägt. Auch heute noch gewagt wirkt Tête blanche et rose (1914/1915) – ein Porträt, in dem sich der Kopf von Marguerite mithilfe von schräg verlaufenden schwarzen Balken und pink-blauen Streifen in eine kubistische Collage verwandelt. Aus heutiger Sicht scheint dieses Ausnahmebild zudem das rotzige Spiel mit einer primitivistischen Ästhetik der „jungen Wilden“ vorwegzunehmen. Dank seiner komplexen Beziehung zu seiner Tochter konnte sich Matisse auf kubistisches Terrain vorwagen – zu dem Preis, dass ihr Gesicht einer zerschnittenen Fläche gleicht. Es ist darüber hinaus interessant zu verfolgen, wie ihm die Tochter im Zuge ihres Erwachsenwerdens trotz aller Vertrautheit immer mehr als Fremde gegenüberstand. So hatte Matisse „Mademoiselle Matisse“ mehrfach in einem Mantel mit Schottenmuster gemalt, und dieser Mantel, dem die Gemälde ihre dynamischen Gitterstrukturen verdanken, steht meines Erachtens sinnbildlich für den Versuch, eine Figur malerisch einzufangen, die sich diesem Projekt zunehmend entzieht. Marguerite wirkt auf eine Art ungreifbar auf diesen luftigen und nicht zu Ende gemalten Porträts (zum Beispiel in Mademoiselle Matisse en manteau écossais,1918), als ließe sie sich nicht festschreiben. Als Figur kann Matisse sie nur noch skizzenhaft andeuten, aber nicht bildlich fixieren. Wenn Marguerite schläft – und an dieser Stelle sei mein zweites Lieblingsbild Marguerite endormie, Étretat, été 1920 erwähnt –, wirkt sie mit ihrem madonnenhaft-wächsern gräulich gemalten Gesicht wie eine Tote, der man fassungslos gegenübersitzt. Sie ist dem Vater auch deshalb so fremd, weil sie ihm einmal so vertraut war. Die erste Phase der Marguerite-Bilder endete um 1924 – zu der Zeit, als Marguerite den Kritiker Georges Duthuit heiratete. Es folgte eine lange Porträtpause, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs andauerte. Als Marguerite, die sich in der Résistance engagiert hatte und der Deportation knapp entgangen war, zu ihrem Vater nach Nizza zurückkehrte, erzählte sie ihm von ihren schrecklichen Erlebnissen. Er, der sich für ein bürgerliches Leben ohne politisches Engagement entschieden hatte, verzichtete in den Porträts seiner Tochter von nun an auf Farbe und fertigte Zeichnungen, in denen sie zum ersten Mal als souveränes Gegenüber erscheint. Der Verzicht auf Farbe scheint mir dem Versuch gleichzukommen, zum Wesen der Tochter vorzudringen, die mehr riskiert und erlebt hat als er. Zuletzt sei noch angemerkt, dass Marguerite selbst als Malerin und auch als Modedesignerin gearbeitet hat. Dankenswerterweise werden in dieser Ausstellung sowohl ihre fauvistisch anmutenden Selbstporträts als auch Entwürfe von Kleidern und Mänteln aus den 1930er Jahren gezeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschrieb sie sich jedoch ausschließlich dem Werk ihres Vaters, fungierte als dessen Agentin und produzierte seinen ersten Catalogue Raisonné. Der kreative und aktive Anteil dieser Tochter am Werk ihres Vaters kann also gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Musée de L’Art Moderne, Paris, 4. April bis 24. August.
Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022) und Angst und Geld: Ein Roman (Spector Books, 2024).
Image credits: 1. Rob Kulisek; 2. Courtesy Gladstone Gallery ; 3. ® Charlotte Krebs, Courtesy Julliard – éditions du sous-sol ; 4. Courtesy Musée d’Art Moderne de Paris