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SEEN & READ – VON ISABELLE GRAW Bella Freud, Garth Greenwell, Sylvie Fleury

Fashion First: Die neue Ausgabe von „Seen & Read“ beginnt auf Bella Freuds Couch, wo die Designerin – inspiriert von den psychoanalytischen Sitzungen ihres Urgroßvaters – befreundete Prominente aus der Kreativindustrie empfängt und sie von ihrem Verhältnis zur Mode berichten lässt. Von Freuds „Behandlungszimmer“ geht es ins Krankenhaus, denn dort findet sich der Ich-Erzähler aus Garth Greenwells neuem Roman in der Notaufnahme wieder, was ihn zu gesellschaftsanalytischen und lyrischen Betrachtungen veranlasst. Den Bogen zurück zur Mode spannt Isabelle Graw mit ihrer Besprechung von Sylvie Fleurys jüngster Pariser Ausstellung, in der auch Graws Lieblingsarbeit Celine Bag gezeigt wurde.

Bella Freud, „Fashion Neurosis“

Bella Freud, “Fashion Neurosis,” First Episode, Rick Owens on Championing Alternative Aesthetics, 2024

Bella Freud, “Fashion Neurosis,” First Episode, Rick Owens on Championing Alternative Aesthetics, 2024

Diese als Video und Podcast verfügbare Gesprächsreihe von Bella Freud – Modedesignerin, Tochter des Malers Lucien Freud und Urenkelin von Sigmund Freud – hat großes Suchtpotenzial. Das Set-up ist einer Therapiesitzung nachempfunden: Prominente aus der Fashion-, Musik-, Film- und Literaturwelt von Nick Cave bis Zadie Smith werden von Freud dazu eingeladen, sich auf ihre Couch zu legen, um über ihr Verhältnis zur Mode zu sprechen. Anders als bei einer klassischen Therapie sitzt Freud jedoch nicht hinter ihren „Patient*innen“, sondern schräg vor ihnen. Aus diesem Grund geschieht es häufig, dass die Gäst*innen eine Frage an sie zurückgeben, sodass auch die Designerin selbst viel über ihre Modeneurosen erzählt, was bei einer Therapeutin undenkbar wäre. Leider erwähnt sie ihren Vater Lucien Freud ein wenig zu oft, so als würde sie das dynastische Prinzip zur Selbstlegitimation nutzen. Inhaltlich zielen Freuds Fragen vor allem darauf, die identitätsstiftende Funktion der Mode herauszuarbeiten: So wird in diesen Gesprächen immer wieder deutlich, dass modische Kleidung dabei helfen kann, die Person zu werden, die man sein will. Sie kann auch einen schützenden Panzer um ihre Träger*in legen oder sie bei ihrem Versuch, in eine andere Klasse überzutreten, unterstützen. Vor allem im Gespräch mit Rick Owens erweist sich Mode zudem als Vehikel hin zu einer Lebenswirklichkeit, in der es offener und toleranter zugeht. Als Kind habe ihm modische Kleidung eine andere Welt als die seines engstirnigen Herkunftsmilieus eröffnet. Zum Thema Mode und Älterwerden hält Owens eine originelle Einsicht parat: Je unruhiger ein Gesicht mit zunehmenden Falten werde, desto ruhiger und unaufgeregter müsse die Kleidung sein. Dementsprechend liegt er mit der für ihn charakteristischen schwarzen Uniform und Plattformboots auf Freuds Couch. In sanftem Tonfall erzählt er, wie er mit diesen extremen Boots auf den Flughäfen dieser Welt gegen den dort herrschenden Normalitätsterror protestiere. Sowohl Owens als auch der Modedesigner Stefano Pilati unterstreichen, dass ein Outfit für sie bei den richtigen Schuhen anfängt, ohne sie falle es in sich zusammen. Pilati erzählt viel von seiner Mutter, der er schon als Kind die Garderobe diktierte, und bemerkt, wie hart das für sie gewesen sein muss. Für den Fall, dass er im Gespräch mit Freud weinen müsse, habe er sich mit einem Taschentuch bewaffnet. Er hält es in der Hand, während er seinen Horror vor Skinny Jeans und Sneakersocks zu Protokoll gibt. Bemerkenswert ist auch Freuds Sitzung mit der Unternehmerin und Influencerin Trinny Woodall, die das Kosmetik-Imperium „Trinny London“ gegründet hat und davon berichtet, in Businessmeetings mit männlichen Investoren allzu oft auf ihre Identität als „Frau“ reduziert zu werden. Jahrelang habe sie nach einem Investor gesucht; einem Mann, so vermutet sie, wäre es anders ergangen. Speziell Unternehmerinnen attestiert Woodall die Gefahr eines „Drive without fulfillment“ – eines energiegeladenen Voranpreschens, das keine Bestätigung erfährt. Gegen derartigen Stress empfiehlt sie ihr BFF De-Stress Serum, die auch Freud zu benötigen vorgibt. Auch sonst wird in den Sessions für Product Placement gesorgt; Freud selbst trägt gern Anzüge mit Schlips aus ihrer eigenen Kollektion. Zuletzt sei noch ihre Couch-Session mit Kate Moss erwähnt, die einer Beichte gleicht. Moss erzählt, als junges Model immer geweint zu haben, wenn sie ihre nackten Brüste bei Fotosessions zeigen musste. Als Model gehöre einem der eigene Körper nicht. Gefragt, ob sie gerne nackt sei, antwortet sie: „Nur in Heels.“ Freud geht es ähnlich: „I love to have elevation.“ Dass hohe Absätze empowering sein können, gehört zu den weniger überraschenden Einsichten, die man aus dieser extrem unterhaltsamen Gesprächsserie gewinnen kann.

YouTube und gängige Podcastplattformen

Garth Greenwell, Small Rain

Garth Greenwell, “Small Rain,” 2024

Garth Greenwell, “Small Rain,” 2024

Garth Greenwells Buch ist der Bericht eines Krankenhaus-Aufenthalts und zugleich eine Art Gesellschaftsroman. Es enthält nicht nur präzise Beobachtungen und Analysen des dysfunktionalen US-amerikanischen Gesundheitssystems, sondern auch Rückblicke auf eine Liebesbeziehung und allgemeine Reflexionen, etwa über unsere durch Smartphones abgelenkte Aufmerksamkeit oder das aktuelle Potenzial der Poesie. Der Protagonist wird mit starken Bauchschmerzen in ein Krankenhaus eingeliefert und dort tagelang quälenden Untersuchungen unterzogen, die er akribisch beschreibt. Nach endlosen Tests sieht er sich mit der lebensgefährlichen Diagnose „Riss in der Aorta“ konfrontiert, und da dieses Phänomen in seinem Alter so gut wie nie vorkommt, wird er zum Starpatienten, über dessen Behandlung entschieden werden muss. Greenwell beschreibt, wie existenziell verunsichernd sich ein solcher Befund auf die Psyche des Patienten auswirkt. Ähnlich wie bei Marcel Prousts Recherche lösen die Beobachtungen des Protagonisten Erinnerungen aus, sodass nicht nur seine Liebesbeziehung zu „L“, sondern auch sein gestörtes Verhältnis zu seinem Vater thematisiert wird. Der Ich-Erzähler berichtet auch von einer Begegnung mit einem Trumpisten und beschreibt seinen beruflichen Alltag als Lehrer. Noch die atomisierte Aufmerksamkeit, die aus dem ständigen Scrollen auf dem Smartphone resultiert, wird einer eingehenden Reflexion unterzogen. Den roten Faden dieser Erzählung bilden jedoch poetologische Überlegungen zum besonderen Potenzial von Lyrik. Da zahlreiche Aspekte unserer beschleunigten digitalen Existenz gar nicht mehr wahrnehmbar seien, sieht Greenwells Romanfigur es als Aufgabe der Poesie, verloren gegangene „Strata der Realität“ festzuhalten. Zwar gehe es in der Kunst grundsätzlich darum, Nachrichten auszusenden, doch nicht alles sei kommunizierbar, und speziell Gedichte seien besonders gut dazu geeignet, das nicht in Sinn Aufgehende zu bewahren. In diesem Zusammenhang gibt der Autor seine eigene poetische Maxime bekannt: Zwar fühle er sich dem Realen verpflichtet, das er repräsentativ machen wolle, weiche aber zugleich vor dem Konkreten zurück. Er wolle Objekte in ihrer Zeit festhalten und sie zugleich über diese hinausweisen lassen, sein Schreiben in der Zeit verankern und es zugleich zeitlos machen. Das ist ihm meines Erachtens mit diesem Buch gut gelungen, das der singulären Krankheitsgeschichte seines Protagonisten ebenso Rechnung trägt wie den sozialen Bedingungen, die in diese hineinreichen. Wohl nie zuvor ist ein Wartezimmer in der Notaufnahme samt der dort Wartenden so präzise beschrieben worden. Greenwell schafft es immer wieder, das Spezifische als Allgemeines auszuweisen, indem er das Besondere mit gesellschaftlichen Strukturen verwebt. Zudem besticht sein Buch auch sprachlich – ist also rundum empfehlenswert!

London: Picador, 2024, 320 Seiten.

„Sylvie Fleury: Sculpture Nails“

“Sylvie Fleury: Sculpture Nails,” Thaddaeus Ropac, Paris, 2025

“Sylvie Fleury: Sculpture Nails,” Thaddaeus Ropac, Paris, 2025

Sylvie Fleurys jüngste Ausstellung bei Thaddaeus Ropac in Paris ist retrospektiv angelegt, was den besonderen Fetischcharakter speziell der im unteren Raum gezeigten Arbeiten von Sylvie Fleury deutlich hervortreten lässt. Denn die meisten der hier eng nebeneinander platzierten Objekte weisen stark glänzende oder spiegelnde Oberflächen auf, allein dadurch wirken sie fetischhaft. Dies gilt vor allem für die im vorderen Bereich des Raums stehende Rakete (First Spaceship on Venus (Beyond Polish), 2022), die mit satt-pinker und glänzend-schimmernder Autolackfarbe bestrichen wurde. Wie ein Fetisch scheint auch diese Rakete ihre Produktionsbedingungen zugunsten ihrer materiellen Eigenschaften in Vergessenheit geraten zu lassen. Neben der phallischen Form dieser Rakete fallen ihre Textur und Farbe ins Auge, die an einen Lippenstift erinnern und der männlich-aggressiv konnotierten Raketenwelt eines Elon Musk ein weibliches Pendant entgegensetzen. Auch die monumentalisierte Version einer Haarspange in der Mitte des Raums zeichnet sich durch eine spiegelnde Oberfläche aus Aluminium aus (Hair Clip, 2024). Ein banales Beauty-Item ist hier zu einem Insekt mit Greifzähnen mutiert, zu einem amorphen Gebilde, dessen silber-glänzende Oberfläche seine Produktionsbedingungen analog zum Warenfetisch nach Marx zu verdecken scheint. Zugleich wirkt dieser monumentale Clip irgendwie eigentätig und lebendig – auch darin ähnelt er dem Warenfetisch. Nur geht dieses Objekt eben sichtbar auf die Idee einer Künstlerin zurück, ist also mit künstlerischer Arbeit angereichert, was es vom Warenfetisch bei Marx wiederum unterscheidet. Denn wo der die ihm zugrunde liegende konkrete Arbeit in abstrakte verwandelt, sehen wir uns hier mit dem Ergebnis künstlerischer Arbeit konfrontiert. Hinzu kommt, dass es sich bei den von Fleury bearbeiteten Readymades grundsätzlich um mit weiblichen Lebenswelten assoziierte Objekte handelt – wie eben um besagten Haarclip oder die Chanel-Beautyprodukte der frühen Vitrinenarbeit Coco (1991), die im Vorraum der Galerie gezeigt wird und einen Haufen leerer Chanel-Verpackungen wie Relikte präsentiert. Fleury lenkt den Blick auf das Design dieser Marke – goldene Schrift auf schwarz glänzendem Grund –, das längst als Sinnbild für Luxus und hochpreisige Highend-Kosmetik fungiert. Noch die leeren Verpackungen eines Chanel-Parfums oder Lidschattens werden bei Fleury zu begehrenswerten Kultobjekten. Neben Beautyritualen widmet sich die Künstlerin auch Fitnesszwängen, ordnet etwa in Bronze gegossene Gucci-Yogamatten in Carl André-Manier auf dem Boden an (Tapis de Yoga Gucci, 2001/02) oder überführt den dreistufigen Stepper aus Jane Fondas Workout-Produktlinie in ein minimalistisches Relikt aus Bronze (Original Stepper, 2024). Auch gewöhnliche Slim-Fast-Dosen unterschiedlicher Geschmacksrichtungen – ebenfalls aus Bronze – finden sich auf dem Boden arrangiert. Sie kommunizieren mit der Geschichte der Dose in der Kunst der 1960er Jahre, von Jasper Johns' Ale Can*s (1960) über Piero Manzonis *Merda d´Artista (1961) bis hin zu den Andy Warhols Campbell-Soup-Cans (auch in verschiedenen Geschmacksrichtungen) von 1961. Dosen sind als Objekt der minimalistischen Skulptur so interessant, weil sie trotz ihrer industrieförmigen Serialität die Existenz eines mythischen Innenraums heraufbeschwören. Fleurys Slim-Fast-Dosen verweisen darüber hinaus auf das Schlankheitsdiktat, dem speziell Frauen immer noch unterworfen sind. Dass die Künstlerin selbst dem modischen Imperativ folgt, belegen ihre in Bronze gegossenen, unbarmherzig schmal geschnittenen Alaïa-Schuhe, in die sie einst ihre Füße gezwängt hat. Dass es immer auch um ihre Lebenswirklichkeit geht, zeigt sich besonders deutlich in der neuen Arbeit Vanity Case (2024) – einem zweiteiligen Druck auf gespiegeltem Aluminium, der an die Spiegel-Arbeiten von Michelangelo Pistoletto denken lässt und die Künstlerin in Rückenansicht zeigt, wie sie – natürlich in High Heels – ihren Kosmetikkoffer im Gepäckraum ihres Autos verstaut. Ein paar Worte noch zu meiner Lieblingsarbeit Celine Bag (2017) – jener in Bronze gegossenen Tote-Bag, in der sich ein in Bronze gegossenes kleines Leinwandbild befindet, als solle es herumgetragen werden: Nicht nur verweist diese Arbeit auf einen der Gründe für den historischen Siegeszug der Malerei – ihre Transportierbarkeit –, auch spielt sie auf die derzeit omnipräsente Konjunktur des Leinwandbildes an und etabliert einen Bezug zwischen Fleurys Oberflächenbehandlungen und dem Farbauftrag in der Malerei. Der obere Raum der Galerie ist der Präsentation von Fleurys Neonarbeiten vorbehalten, die sich ebenfalls der Sprache der Kosmetik- und Luxussphäre bedienen. Parfumnamen wie „Hypnotic Poison“ oder „Eternity Now“ werden in Neonzeichen übersetzt, das von ihnen entfachte Begehren in leuchtende Materialität eingefangen. Dass Fleury ihre unterschiedlichen Objekttypen in dieser Ausstellung räumlich trennt, ist meines Erachtens eine gute Entscheidung. Denn auf diese Weise kommen sowohl die in Bronze gegossenen Readymades als auch die Neonarbeiten in ihren besonderen Eigenheiten zur Geltung. Leider stehen sich im Erdgeschoss die dicht platzierten Objekte gegenseitig ein wenig im Weg. Dass man sich als Betrachterin von ihnen etwas umzingelt fühlt, ergibt aufgrund von Fleurys Spiel mit ihrem Fetischcharakter aber auch Sinn.

Thaddaeus Ropac, Paris (Marais), 11. Januar bis 22. Februar 2025.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022) und Angst und Geld: Ein Roman (Spector Books, 2024).

Image credit: 1. Foto Rob Kulisek; 2. Bella Freud; 3. Upstart and Crow; 4. Courtesy of Thaddaeus Ropac gallery, Foto Pierre Tanguy