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SEEN & READ – VON ISABELLE GRAW Ina Weisse, Janosch Schobin, Ian Waelder

Ein Filmdrama, das von zwei ungleichen Frauen und deren Problemen erzählt und die Versuchsanordnung von Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ nach Brandenburg verlegt. Ein Buch, das die Einsamkeit als universelles Gefühl am Beispiel von mitreißenden Fallstudien erkundet. Eine Ausstellung, die sich auf autobiografische Referenzen beruft, ohne sich im Referenzialismus zu verlieren. – Wie jeden Monat gibt unsere Herausgeberin Isabelle Graw in pointierten Miniaturrezensionen einen Einblick in das, was sie kürzlich gesehen, gelesen und für besprechenswert gehalten hat.

Ina Weisse, „Zikaden“

Ina Weisse, “Zikaden,” 2025

Ina Weisse, “Zikaden,” 2025

Dieser Film – eine deutsch-französische Kooperation – besticht durch Éric Rohmerhafte Langsamkeit, einprägsame Bilder und spröde Dialoge, in denen immer auch Ungesagtes mitschwingt. Sein Sound ist dafür ausgesprochen beredt: So bilden die übersteuerten Geräusche der brandenburgischen Landschaft, vor allem das titelgebende Zirpen der Zikaden, eine unheimliche akustische Kulisse. Der Plot ist schnell erzählt: Zwei ungleiche Frauen namens Isabell und Anja treffen im Berliner Umland aufeinander. Die eine, Isabell – kongenial gespielt von Nina Hoss –, lacht nie, obwohl ihr Leben es ihr im materiellen Sinne recht leicht macht. Ihr Vater – gespielt von Rolf D. Weisse, dem Vater der Regisseurin – ist ein renommierter Architekt, der kürzlich einen Schlaganfall erlitten hat. Allein die ungeschönte Darstellung seines Zustands ist berührend, sein lallendes Sprechen und seine Hustenanfälle beim Essen lassen einem den Atem stocken. Isabells Mutter – gespielt von der Mutter der Regisseurin – ist Künstlerin und verständlicherweise von der Situation ihres Mannes überfordert. Dass die Regisseurin ihre eigenen Eltern diese Rolle spielen lässt, ist eine radikale Entscheidung. Denn den Zuschauer*innen wird dadurch ihr notgedrungen distanzloser Blick auf die Eltern zugemutet. Das Umgekehrte gilt aber auch: Weisse liefert ihre Eltern den Blicken des Publikums aus.
Der im Rollstuhl sitzende Vater besitzt ein von ihm selbst entworfenes modernistisches Wochenendhaus in Brandenburg, in dessen Nachbarschaft Anja wohnt (auch sehr überzeugend gespielt von Saskia Rosendahl). Sie ist alleinerziehend und lebt mit ihrer kleinen, schwer zu bändigenden Tochter in prekären Verhältnissen. Während die Tochter an einer Tankstelle mit Freunden um Geld für ein Eis bettelt, muss ihre Mutter Putzjobs nachgehen, obwohl sie eigentlich lieber Köchin wäre. Auch Isabell hat Probleme; ihre Ehe mit dem beziehungsunfähigen Franzosen Philipp (perfekt besetzt mit Vincent Macaigne) ist am Ende. In einer denkwürdigen Szene lässt Philipp Isabell einfach am Flughafen stehen, um die gemeinsam geplante Reise allein anzutreten. Anschließend versucht sie ihn tagelang anzurufen, erreicht aber nur seine Mailbox. Das stumme Leiden an der passiven Aggressivität des Partners ist selten so überzeugend dargestellt worden.
Bei einem Spaziergang begegnen sich Isabell und Anja, es entspinnt sich trotz des Klassenunterschieds ein zartes und zugleich von Irritationen getrübtes Verhältnis zwischen ihnen. Zwar leiden beide Frauen an ihrer Zerrissenheit: Anja fällt es schwer, ihr Kind wegen ihres Jobs allein zu lassen, und Isabell hadert mit der wachsenden Unvereinbarkeit ihrer beruflichen Ambitionen und ihrer Verantwortung für die immer gebrechlicher werdenden Eltern. Zugleich gibt es Konflikte zwischen den beiden Frauen – etwa, wenn Anja es als demütigend empfindet, dass Isabell ihrer Tochter Geschenke macht.
Darüber hinaus zieht sich das Thema Pflegenotstand leitmotivisch durch diesen Film: Immer wieder suchen Isabell und ihre Mutter eine*n neue*n Pfleger*in für den Vater, der trotz massiver Beeinträchtigungen durch seinen Schlaganfall als ein sturer Patriarch geschildert wird. Irgendwann schlägt Isabell vor, Anja könne sich doch um ihre Eltern kümmern.
Der Schluss des Films erinnert an den Plot von Pier Paolo Pasolinis Teorema (1968): Anja nimmt den Platz von Isabell in deren Familie ein. In einer Szene sitzt sie mit ihrer Tochter und Isabells Mutter einträchtig am Esstisch, während Isabell aus dieser Konstellation jetzt ausgeschlossen ist und in ihr Berufsleben zurückkehrt. Der grausame Erstickungstod des Vaters, der sich kurz zuvor ereignet, wird den Zuschauer*innen nur akustisch vermittelt. Anja – seine neue Pflegerin – hat nicht eingegriffen und ließ ihn sterben, erlöste ihn aber gleichzeitig auch von seinem Leid. Die Stärke des Films besteht hier einmal mehr in seiner Vermeidung von Eindeutigkeit. Er schildert zudem die Auswirkungen von strukturellen Problemen wie Geldmangel, dysfunktionalen Beziehungen und unerfüllbaren Care-Verpflichtungen auf zwei Frauenleben. Beide machen trotz allem stoisch weiter – ein Durchhalten, das die konstant reglos-entschlossenen Gesichtszüge von Nina Hoss emblematisch verkörpern.

Deutschland / Frankreich, 2025, 100 Minuten.

Janosch Schobin, „Zeiten der Einsamkeit. Erkundungen eines universellen Gefühls“

Janosch Schobin

Janosch Schobin

Mit diesem Buch legt der Soziologe Janosch Schobin eine prägnante Typologie und Analyse der Einsamkeit vor. Treffend wird sie als ein geradezu körperlich empfundener Schmerz charakterisiert, der die ihn erlebende Person vollständig überwältigen kann. So lassen sich Einsamkeit und der sie fühlende Mensch Schobin zufolge kaum voneinander unterscheiden; sie werden also deckungsgleich. Dass sich Einsamkeit in eine Art Lebensform verwandelt, ist speziell bei älteren Personen häufig zu beobachten. Methodisch gelingt es dem Autor, seine Theoretisierung dieses „universellen Gefühls“ mit Fallstudien zu untermauern. Diese Porträts der Einsamen sind in einem geradezu literarischen Stil verfasst, sodass die Lektüre des Buches trotz seines deprimierenden Befunds Vergnügen bereitet.
Aber Schritt für Schritt. Zunächst einmal weist Schobin die gängige Auffassung zurück, dass es eine positive (weil selbst gewählte) und eine negative (weil unfreiwillig erlittene) Einsamkeit gäbe. Auch die selbst gesuchte Einsamkeit ist ihm zufolge mit extremen psychischen Belastungen verbunden, die/der einsame Schöpfer*in fühle sich zuweilen genauso „mutterseelenallein“ wie all die unfreiwillig Einsamen. Schobin untersucht die Einsamkeit aber auch aus historischer Perspektive und konstatiert eine deutsche „Nachkriegseinsamkeit“ infolge des Zweiten Weltkriegs. Mit dem Zivilisationsbruch sei eine Zunahme an Einsamkeitserfahrungen einhergegangen. Als Gegenmittel habe die Popmusik fungiert, die er treffend als „Einsamkeitskompensation“ charakterisiert. Tatsächlich lassen sich Einsamkeitsgefühle durch das Hören von Musik lindern – und nicht nur durch Popmusik, wie ich ergänzend hinzuzufügen würde. Dass unsere heutige vernetzte Gesellschaft nicht allein mit mehr sozialen Kontakten einhergeht, sondern auch mit größeren Einsamkeitsrisiken, zeigt der Autor ebenfalls auf. Nicht jede*r habe schließlich die Kraft, ständig an seinem/ihrem Beziehungsnetz zu flicken und auf den Beziehungsmärkten mitzuhalten. Mit Hannah Arendt charakterisiert Schobin den Menschen der Spätmoderne deshalb als einen „Menschen ohne Welt“.
Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Rechtsrucks konstatiert der Autor zudem, dass Vereinsamung und Vereinzelung besonders anfällig für die Verführungen totalitärer Bewegungen machen: „Je einsamer die Menschen sind, umso weniger unterstützen sie die Demokratie, und je weniger sie an der Demokratie teilhaben, umso einsamer werden sie.“ Dass die augenblickliche Krise der Demokratie auch eine Folge der Zunahme von Einsamkeit ist, trifft sicherlich zu. Überzeugend ist darüber hinaus, dass Schobin die Emanzipationsbewegungen nicht, wie es lange Zeit üblich war, mit einer Zunahme an Einsamkeitserfahrungen in Verbindung bringt. Wenn zum Beispiel Frauen nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert in einer sie einsam machenden Ehe verharren müssten, sondern aus dieser ausbrechen und eine andere Beziehung frei wählen könnten, dann sinke dadurch ihr Einsamkeitsrisiko. Emanzipationsprozesse gehen Schobin zufolge auch deshalb mit einer „Abnahme von Einsamkeitsbelastungen“ einher, weil sie „intensive positive Familienbeziehungen fördern, die besonders gut vor Einsamkeit schützen“. Aus Schobins Sicht machen starre traditionalistische Gesellschaften also viel einsamer als progressiv individualistische. Bei seinen Fallstudien, die im zweiten Teil des Buches versammelt sind, ist besonders der Fokus auf die klassenbedingte Einsamkeit hervorzuheben. Schobin beobachtet, dass mit Armut oft ein Gefühl der Wertlosigkeit einhergeht – eine Art „internalisierte Selbstablehnung“, die zu weniger sozialen Kontakten führt.
Einsamkeit ist, so Schobin, bei armen Menschen besonders ausgeprägt, weshalb er von den „einsamen Klassen“ spricht. Aber nicht nur die Armen, auch Aufsteiger*innen sind aus seiner Perspektive einsamkeitsgefährdet, weil sie sich weder ihrem Herkunftsmilieu noch dem „neuen Zielmilieu“ wirklich zugehörig fühlen. Dass auch der nicht verwundene Tod eines geliebten Menschen zu langen Einsamkeitsphasen führen kann, wird anhand eines weiteren Fallbeispiels aufgezeigt. Am Ende des Buches prognostiziert Schobin, dass die Pharmaindustrie die Einsamkeit demnächst als Betätigungsfeld entdecken und Medikamente zu ihrer Linderung erfinden wird. Denn Einsamkeitsschocks, wie wir sie zuletzt während der Coronapandemie erlebt haben, werden nach Schobin in Zukunft weiter zunehmen – und mit dieser Prognose hat er wohl recht.

Hanser, 2025, 224 Seiten.

„Ian Waelder: Cadence“

“Ian Waelder: Cadence,” carlier | gebauer, Berlin, 2025

“Ian Waelder: Cadence,” carlier | gebauer, Berlin, 2025

Oft sind White-Cube-Galerien unwirtliche Orte mit greller Neonbeleuchtung, in denen man sich nicht lange aufhalten möchte. Für die Präsentation bei carlier | gebauer in Berlin hat Ian Waelder den Boden und die Decke seines Ausstellungsraums jedoch mit Pappen ausgekleidet, was die Atmosphäre angenehmer macht. Man steht weicher und fühlt sich geborgen. In einiger Entfernung zueinander hängen ein paar Objekte an der Wand oder wurden auf dem Boden platziert. Sie haben zumeist eine genealogische Funktion und gleichen Erinnerungsstützen: so zum Beispiel die minimalistisch anmutende Reihe von geöffneten und weiß bemalten Pappkartons, Novelette (2025), in denen sich der gezeichnete Umriss eines Paars Schuhe vom Vater des Künstlers oder das Modell en miniature eines Opel Olympia befinden – jenes Autos, das Waelders Großvater Frederico Waelder für einen Bruchteil seines Werts verkaufen musste, um aus Nazideutschland nach Chile fliehen zu können. Da sich zahlreiche Objekte Waelders der genealogischen Untersuchung seiner Familiengeschichte verdanken, könnte man sein Verfahren dem Romantic Conceptualism der 1990er Jahre zuordnen. Nur hat er meines Erachtens eine Methode gefunden, das mit dieser Kunstrichtung assoziierte Problem des Referenzialismus zu umgehen. Vertreter*innen des Romantic Conceptualism wie Danh Võ oder Jan Timme beriefen sich auf Künstler*innen wie Bas Jan Ader, die Persönliches in die traditionell eher unpersönliche Conceptual Art eintrugen. Damit verbunden war jedoch das ebenfalls in den 1990er Jahren diskutierte Problem des Referenzialismus: Wenn jedes Objekt durch eine persönliche Referenz begründet wird, besteht die Gefahr, dass es sich in dieser Referenz erschöpft. Indem bei Waelder jedoch das Unvollständige und Brüchige der Referenzen betont wird, wird ein solcher Reduktionismus vermieden. Seine Referenzen gleichen eher blinden Flecken – und passend dazu finden sich buchstäbliche Flecken häufig in seiner Arbeit. So zum Beispiel in Seated (Standing) (2025), einem von Marmeladen- und Ölflecken übersäten Artikel aus Die Zeit, der Thomas Mann mit Tochter Erika beim Signieren seiner Bücher zeigt. Es ist das Thema Emigration – in einem anderen Land leben und sich dessen Kulturprodukte aneignen –, um das diese Arbeit kreist.
Waelder verzichtet in dieser Ausstellung weitgehend auf Chroma, so als wolle er die Leerstellen des Gedächtnisses mithilfe weißer Farbe illustrieren. Besonders gut lässt sich seine antireferenzialistische Vorgehensweise anhand des an die Wand montierten, an Marcel Duchamp erinnernden Waschbeckens From hip to fingertip (Opel upside down) (2022) zeigen. Auch dieses Objekt stellt einen Teil des bereits erwähnten Opel Olympia dar, den der Künstler gemeinsam mit seinem Vater nachbaute. Dem Großvater Frederico Waelder hatte der Verkauf dieses Autos (unter Wert) das Leben gerettet – im Unterschied zu anderen Familienmitgliedern überlebte er die Shoah. Das nachgebaute Autoteil steht meines Erachtens auch für die Einsicht, dass sich Geschichte nur fragmentarisch nachzeichnen lässt. Dazu passend ertönt für wenige Sekunden immer wieder Musik im Ausstellungsraum – die Aufnahme einer vom Großvater komponierten und gespielten Jazzimprovisation, die Waelders Vater zufällig auf einer Kassette entdeckte. Die langen Momente der Stille zwischen der eingespielten Musik lassen Abwesenheit körperlich erfahrbar werden. Wir hören die unvollständige Spur des Verlorenen. Für Cadence (Elastic Piano) (2025) hat Waelder den von Flecken übersäten Ankündigungszettel einer Klavierperformance seines Großvaters zerknüllt und in eine Holzkonstruktion gesteckt. Die Arbeit des Großvaters zeigt sich hier einmal mehr als unzugängliche Hieroglyphe. Waelders Objekte lassen sich offenbar nicht auf die in ihnen aufscheinenden Referenzen reduzieren – im Gegenteil, sie demonstrieren, dass die Vergangenheit qua Referenzen nicht einzuholen ist. In demselben Maße, wie hier etwas zurückgewonnen wird, entzieht es sich unserem Zugriff. Für ein weiteres Beispiel dieser Entzugsdynamik könnte man auf das auf einem Bügel in Reinigungsfolie hängende Hemd Waelders (To Wait, 2025) verweisen. Es handelt sich hier um ein verkapptes Selbstporträt – nicht zuletzt, weil Waelder eine Art Nasenobjekt aus Air-Dryed Porcelain auf der Höhe des Hemdkragens platziert hat. Aber auch hier bleibt der Künstler bis auf seine Hülle – das Shirt – abwesend. Der Kleiderbügel ruft darüber hinaus Duchamps Coathanger-Readymade Trap von 1917 in Erinnerung.
Es gibt in der Ausstellung noch ein weiteres Partialobjekt, das für Abwesendes einsteht: ein großes Nasenobjekt an der Wand (Torsion, 2025), das auf die Familiennase der Waelders und zugleich auf die antisemitische Trope der „jüdischen Nase“ anspielt. Bei genauerer Betrachtung besteht diese „Nase“ aus der Hälfte eines Schuhspanners, was die Idee eines vererbten körperlichen Kennzeichens ad absurdum führt. Zuletzt sind es immer wieder Bedingungen des Exils, die in dieser Ausstellung verhandelt werden – etwa in Form des bereits erwähnten Thomas-Mann-Artikels: Waelder eignet sich die Ikone der deutschen Emigration an, unterwirft den Artikel aus dem deutschen Feuilleton aber auch seiner eigenen Lebenswirklichkeit, indem er ihn mit seinen Frühstücksspuren bekleckert. Auch sein Leben ist nur als indexikalische Spur zu haben. Es entzieht sich jeglicher Festschreibung, so wie die in seinen Objekten aufscheinenden Referenzen keine reduktionistischen Rückschlüsse zulassen.

carlier | gebauer, Berlin, 1. März bis 17. April 2025.

Isabelle Graw ist Herausgeberin von TEXTE ZUR KUNST und lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt/M. Ihre jüngsten Publikationen sind: In einer anderen Welt: Notizen 2014–2017 (DCV, 2020), Three Cases of Value Reflection: Ponge, Whitten, Banksy (Sternberg Press, 2021), Vom Nutzen der Freundschaft (Spector Books, 2022) und Angst und Geld: Ein Roman (Spector Books, 2024).

Image credits: 1. Rob Kulisek; 2. © Judith Kaufmann, Lupa Film; 3. © Janosch Schobin; 4. © Andrea Rossetti, courtesy of the artist and carlier | gebauer, Berlin/Madrid