JÜRGEN Heiner Franzen über leere Gebäudegänge, einen Berliner Hausmeister und gemeinsame Beobachtungen zum Lauf der Dinge
Zuerst Schweigen, Gehen, Geräusche, später Worte. Der Hausmeister durchquert im ewigen Blaumann die frisch verlassenen Räume, um sie ein letztes Mal zu prüfen.
Seit gut zwei Jahren filme ich Jürgen den Hausmeister auf seinen Gängen durch Wohnungen, Keller, Hallen, Werkstätten und Institutionen; zu Beginn durch den Flur der Rieckhallen, vor Kurzem durch die Weddinger Uferhallen, demnächst durch den ehemaligen Flughafen Tegel. Ein filmischer Kettenbrief über davonlaufende Häuser.
Unterwegs mit Jürgen in unserer Straße. Hier betreut er mehrere Objekte, er kennt sie wie seine Haut. Schau dir die Häuser an, sagt er. Alle auf Ewigkeit gebaut. Fürs Eigene, für Nachkommen, irgendeinen Wohlstand. Und schon geben die Häuser das nicht mehr her. Alles soll funktionieren und weitergehen, aber schon wohnen andere drin, gehören die Häuser anderen Leuten. Du glaubst zu wissen, wofür das alles gut ist. Aber kaum hat man die Tür zu, ist auch schon alles vorbei. Es ist ein Versteck, aber vor was kannst du dich verstecken?
Unter das Skript, das ich für Jürgens Filmfigur schreibe, mischen sich Gespräche über unsere Herkunft. Wir reden über ein verschwundenes Land, angefangene Sätze, unsere ost-westlichen Wege in die Stadt oder darüber, was wir getan hätten, würden wir in der Haut des anderen stecken. Wie es im Dorf immer den Reichsten und den Zweitreichsten gibt. Wir reden über Flucht und traumatisierende Oberhemden. Die Gespräche aktualisieren das Drehbuch.
Ja, der Overall, sagt er. Das hat einen Grund, warum ich immer so rumlaufe. Wer in unserem Dorf mitten in der Woche kein Arbeitszeug anhatte und stattdessen ein gutes Hemd, machte sich verdächtig. So ein Hemd wurde nur sonntags angezogen, damit war sorgsam umzugehen. In der Woche also Katzenwäsche, Samstag wurde gebadet, am Wochenende ein gutes Oberhemd. Und nie wegfahren. Wir sind nur ein Jahr auseinander und doch ganz verschieden. Aber manches ist fast erschreckend ähnlich, so wie wenn man auf dem Flohmarkt in ein fremdes Fotoalbum schaut: Es könnte jede Familie sein.
Wir stehen in den Rieckhallen, es ist Montag, und der menschenleere Gang ist so präsent, dass Jürgen für den Dreh vorerst keinen Text spricht. Ich folge ihm dabei, wie er den Gang abschreitet und sich umsieht.
Anderntags gehen wir auf dem Friedhof spazieren und bleiben vor einem Familiengrab stehen. Auf einem der Steine sehe ich seinen Namen. Es ist ja noch keiner tot, sagt er, aber hier auf dem Friedhof haben alle schon ein letztes Zuhause. Da habe ich vorgesorgt. Hier bin ich. Daneben ist mein Mann. Da die Mutter unserer Patenkinder und hier die Franziska, eine Studienfreundin meines Mannes aus Wien. Die wollte unbedingt dabei sein. Das musste ich ihr versprechen. Du siehst, das ist auch mal für den Überlebenden, der kann hergehen und schauen. Ich möchte nichts dem Zufall überlassen, möchte nicht auf eine Streuwiese.
Heiner Franzen (geb. 1961 in Papenburg) ist ein in Berlin lebender Zeichner und Videokünstler. Nach zwei Jahren an der HfK Bremen absolvierte er 1993 ein Studium an der Hochschule der Künste Berlin. Er verarbeitet kollektive Erinnerungen aus dem Alltag – Teenagererlebnisse, Kinobesuche, Werbung, Sport, Medizin, Arbeit usw. – und setzt sie in große Zeichen- und Videoinstallationen, wie zuletzt bei Ebensperger, Berlin (2021), im Haus am Lützowplatz, Berlin (2018), und auf der Manifesta Palermo (2018). Nach Gastprofessuren an der HBK Braunschweig und der Kunsthochschule Berlin-Weißensee lehrt er seit 2018 an der ETH Zürich.
Image credit: Courtesy of the artist and Galerie Ebensperger